Читать книгу Sophienlust Bestseller Staffel 2 – Familienroman - Marisa Frank - Страница 6
Оглавление»Mir ist so kalt, Tante Franzi«, nörgelte die kleine Marion Bölz, ein hübsches Mädchen von fünf Jahren. Vorwitzig lugten ihre schwarzen Locken unter der dunkelblauen Kapuze ihres Regenmantels hervor. Ihre Händchen hatte sie fröstelnd in den Taschen vergraben.
»Sei still, Marion«, wisperte Franziska Bölz zurück. Hastig wischte sie mit der linken Hand die Tränen ab, die ihr über die Wangen liefen. Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr stand die junge Frau am Grabe eines geliebten Menschen, und dieses Mal fiel es ihr besonders schwer, denn es war ihr einziger Bruder, dessen Sarg gerade langsam in die Erde hinabgelassen wurde.
Es waren viele Menschen zu dieser Beerdigung gekommen, denn Ulrich Bölz, der Sprengmeister der Baufirma Hirzel und Sohn, war allseits ziemlich beliebt gewesen, hatte dem örtlichen Gesangsverein als aktives Mitglied angehört, und war im Betrieb sowohl von Kollegen als auch von seinen Vorgesetzten sehr geschätzt worden.
Es war ein Unglücksfall gewesen, der ihn bei einer Sprengung im betriebseigenen Steinbruch das Leben gekostet hatte. Das hatte Manfred Hirzel, der Juniorchef und Franziskas Verlobter, immer wieder versichert.
Aber das war für Franziska kein Trost. Sie hatte ihren Bruder und Marion ihren Vater verloren. Nun war das Mädchen eine Waise. Kaum daß sie den Tod der Mutter vor elf Monaten verkraftet hatte, mußte sie auch schon auf den Vater verzichten, dem ihre ganze kindliche Liebe gegolten hatte.
Franziska konnte die Welt nicht mehr verstehen. Was sollte das noch für einen Sinn haben, wenn eine ganze Familie ausgelöscht wurde und nur ein kleines Mädchen von gerade fünf Jahren übrigblieb?
»Komm, wir gehen heim, Tante Franziska«, quengelte Marion nun schon etwas lauter und riß energisch an der Hand der Tante. »Mir gefällt es hier nicht mehr. Ich will nach Hause zu meinem Papi.«
Die junge Frau preßte voll ohnmächtigem Schmerz die blassen Lippen zusammen, während die Tränen wieder zu fließen anfingen. Sie spürte, wie einige der Trauergäste immer wieder verstohlen zu ihnen herüberschauten. Es war ihr peinlich, und sie senkte rasch den Kopf. Langes dunkles Haar fiel nach vorne und schirmte sie gegen die neugierigen Blicke ab.
Franziska Bölz war eine schöne, blutjunge Frau, die schon viel Leid in ihrem Leben erfahren hatte. Kurz nacheinander waren die geliebten Eltern gestorben, als sie gerade sechzehn Jahre alt gewesen war.
Ulrich, der ältere Bruder, war zu dieser Zeit schon mit Herta verheiratet gewesen. Mit offenen Armen hatte seine Frau die verwaiste Schwägerin in ihrem Haushalt aufgenommen. Dann, kaum zwei Jahre später, war Marion auf die Welt gekommen, und sie hatten schon geglaubt, daß nun die Zeit des Kummers und der Trauer endgültig vorbei sei. Es war jedoch nur eine kurze Atempause, die ihnen das Schicksal gönnte, ehe es erneut und unbarmherzig zuschlug.
Herta begann zu kränkeln. Sie wurde immer blasser und magerer, und bald konnte sie nur noch für wenige Stunden am Tag aufstehen und in einem Stuhl sitzen.
Ulrich wußte, daß seine Frau nur noch kurze Zeit leben würde, denn der Arzt hatte es ihm gesagt. Herta litt an einer unheilbaren Krankheit, die man zu spät erkannt hatte, um sie noch zum Stillstand bringen zu können. Seine Geduld und Beherrschung war bewundernswert gewesen, und erst, als Herta tot war, brach auch er zusammen. Die Monate, die dann folgten, waren die grausamsten in Franziskas Leben gewesen. Ulrich konnte den Schicksalsschlag nicht überwinden. Er hatte keine Freude mehr an seinem Dasein, und auch um sein Töchterchen Marion kümmerte er sich kaum mehr.
Oft fragte die Kleine nach ihrem Papi, aber Franziska konnte dem Kind auch nicht helfen, sondern nur versuchen, es abzulenken.
Irgend etwas riß Franziska aus ihren wehmütigen Gedanken. Jemand hatte sie ziemlich unsanft angerempelt. Wie erwachend schaute sich die junge Frau um und entdeckte, daß die Beerdigung ihrem Ende zuging. Mitleidig hielt der Pfarrer, ein älterer Herr mit schlohweißem Haar, ihre Hand und murmelte ein paar tröstende Worte, die wie nichtssagende Floskeln an ihr vorbeiglitten.
Franziska war wie versteinert. Noch konnte sie keinen klaren Gedanken fassen, wie es weitergehen sollte.
Ihre Schritte waren müde und schleppend, als sie an das offene Grab trat. Sie schaute hinunter auf den dunklen Sarg, auf dem bunte Blumen lagen. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, als schaue ihr Bruder sie mit seinen dunklen Augen bittend an. »Sorge du für meine kleine Marion, wenn ich einmal nicht mehr bin«, hatte er noch wenige Tage vor seinem zu frühen Tod zu ihr gesagt, und sie hatte es ihm ganz fest versprochen, nicht ahnend, daß sie dieses Versprechen schon bald würde einlösen müssen.
Marion war Ulrichs Vermächtnis, das sie zu schützen hatte. Irgendwie würde es schon weitergehen, wenn nur sie und das Kind zusammenbleiben durften.
Lautlos fiel der Strauß weißer Nelken in das Grab hinab. Am liebsten wäre Franziska jetzt hinterhergesprungen, wenn sie nicht die kleine Hand ihrer Nichte in der ihren gespürt hätte. Daran klammerte sie sich wie eine Ertrinkende.
»Wenn Sie Hilfe brauchen, Fräulein Bölz, dann scheuen Sie sich bitte nicht, zu uns zu kommen.«
Franziska schaute überrascht in das schöne Gesicht der Frau, die so überaus freundlich zu ihr gesprochen hatte. Stumm hatte sie die Beileidsbezeigungen an sich vorüberrauschen lassen, ohne an jemanden ein Wort zu richten, aber diese Stimme klang anders. Sie drückte nicht seelenloses Mitgefühl, sondern echte Anteilnahme aus.
»Das ist sehr freundlich. Vielen Dank, Frau…«
»Ich bin Denise von Schoenecker«, stellte sich die Unbekannte in dem schwarzen Wollmantel vor. »Meinem Sohn gehört das Kinderheim Sophienlust. Wenn Sie also Hilfe brauchen oder einen Platz für Ihre kleine Nichte suchen, dann können Sie sich jederzeit an mich wenden.«
Denise nickte der jungen Frau noch einmal zu und verschwand dann in der Menge. Sie kannte die traurige Geschichte der Familie, die durch ein unverständliches Schicksal so hart geprüft wurde.
Nachdenklich schaute Franziska Bölz der Frau nach. Irgendwie fühlte sie sich sogar ein bißchen getröstet, auch wenn sie nicht im Traum daran dachte, das Angebot der fremden Frau anzunehmen. Ein Kinderheim! Wie sollte sie das mit der kleinen Waisenrente bezahlen?
»Gehen wir jetzt endlich nach Hause?« flüsterte Marion, als sie langsam über den Kiesweg gingen. Das hohe, eiserne Friedhofstor war nicht mehr weit von ihnen entfernt, aber Franziska hatte das Gefühl, als würden sie es niemals erreichen.
»Ja, Schätzchen, jetzt gehen wir heim«, antwortete sie noch schwach. Unbändige Sehnsucht nach Manfred überkam jetzt die junge Frau. Warum nur hatte er sie diesen schweren Weg ganz allein gehen lassen? Sie konnte das einfach nicht verstehen. Oder doch?
Zugegeben, er hatte ihren Bruder nie besonders gemocht. Aber seit Hertas Tod, als sie, Franziska, den kleinen Haushalt ganz übernommen hatte, war er erst recht nicht mehr gut auf den zukünftigen Schwager zu sprechen gewesen. Er wollte nicht, daß sich seine Braut mit einem, wie er sagte, fremden Kind belastete, auch wenn es sich um die eigene Nichte handelte.
Franziska sollte schön aussehen und sich nicht wie eine abgehetzte Hausfrau benehmen. Das waren seine Worte bei ihrem letzten Streit gewesen.
Überhaupt stritten sie ziemlich viel, seit sie zu ihrem Bruder in die kleine Wohnung gezogen war und deshalb auch der Hochzeitstermin verschoben wurde.
Manfred konnte nicht verstehen, wie man ihm, dem Juniorchef der Baufirma Hirzel und Sohn, einen Korb geben konnte. Schließlich konnte er jedes Mädchen haben, das er haben wollte. Und da wagte es ausgerechnet die Schwester eines seiner Angestellten, den Hochzeitstermin mit ihm abzusagen.
Franziska hatte ihren Verlobten zwar durchschaut, aber sie hing an ihm, weil er außer Marion der einzige Mensch war, der ihr noch etwas bedeutete.
Als sie die Tür zu der kleinen Wohnung aufschloß, fühlten sich ihre Finger wie Eis an.
»Was machen wir jetzt, Tante Franzi?« piepste Marion mit ihrem zarten Stimmchen.
»Ich weiß es auch nicht, Herzchen«, gestand Franziska, die erleichtert war, daß sie den Trauergästen entkommen war.
Die Wohnung machte einen kalten, leeren Eindruck auf Franziska, nicht zuletzt deshalb, weil sie vergessen hatte, einzuheizen. Das war immer die Arbeit ihres Bruders gewesen, der ihr jeden nur möglichen Handgriff abgenommen hatte.
»Du tust schon so viel für uns, da ist es nur recht und billig, wenn ich dir die schweren Arbeiten abnehme.« Fast glaubte sie, seine warme, wohlklingende Stimme zu hören, und irgendwie fühlte sie sich getröstet.
»Komm, Marion, jetzt mache ich dir erst einmal etwas zu essen, und dann legst du dich hin.«
»Nicht schon schlafen gehen, Tante Franzi. Draußen ist es noch gar nicht dunkel«, wehrte sich das kleine Mädchen und zog einen Schmollmund. Sie sah aus wie eine Elfe mit ihrem schwarzen Lockenkopf und dem schmalen, ein wenig zu blassen Gesichtchen.
»Natürlich ist es schon dunkel. Das Licht, das du siehst, stammt von der Straßenlaterne, du kleiner Schlauberger.« Unwillkürlich mußte die junge Frau lachen. Sie liebte ihre kleine Nichte über alles, doch nicht nur, weil diese dem toten Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Das wußte Marion natürlich, und sie wandte ihren ganzen Charme auf, wenn sie der Tante etwas abschmeicheln wollte.
»Was möchtest du, Marion? Brot mit Wurst oder lieber mit Rührei?« Franziska zwang sich dazu, ein freundliches Gesicht zu machen, obwohl sie immer wieder gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen mußte. Das Kind sollte es nicht sehen, denn sie hatte es noch nicht richtig begriffen, daß der Tod des Vaters ein Grund zum Traurigsein war.
»Wurst mit Rührei«, rief das Mädchen ganz begeistert und kroch auf allen vieren über die Eckbank, bis sie endlich auf ihrem Platz zum Sitzen kam.
Die Wohnküche war groß und behaglich eingerichtet, doch auch hier herrschte ziemliche Kälte. Aber Franziska hatte keine Lust, den Kohleofen einzuheizen. Sie schaltete den Backofen ein und öffnete die Klappe einen Spalt breit. So konnte die Wärme ungehindert entweichen. Bald war es angenehm überschlagen.
Die junge Frau bemühte sich, sich auf das Abendessen zu konzentrieren, das sie zubereitete. Kurze Zeit später stellte sie überrascht fest, daß ihr das sogar einigermaßen gelungen war. Trotzdem war sie froh, als das Kind gegen achtzehn Uhr endlich im Bett lag.
Artig faltete Marion ihre Hände und schaute erwartungsvoll zu der Tante auf. Beinahe hätte Franziska vergessen, mit dem Kind, wie gewohnt, zu beten. Schuldbewußt kehrte sie noch einmal zurück und setzte sich an das Bett.
»Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich zu dir in den Himmel komm«, murmelte die junge Frau tonlos.
»Und zu meinem Vati«, fügte Marion noch eifrig hinzu. Dann schloß sie zufrieden die Augen.
Franziska aber war bei den Worten des Kindes erschrocken zusammengezuckt. Hatte Marion doch mehr verstanden, als sie ahnte?
Rasch hauchte sie dem Kind noch einen zärtlichen Kuß auf die Stirn, bevor sie das liebevoll eingerichtete Kinderzimmer verließ.
Erst jetzt konnte Franziska sich ihrem Schmerz hingeben. Sie vermißte den Bruder unendlich, denn er war immer der ruhende Pol in ihrem Leben gewesen. Und nun war er tot.
Müde setzte sich Franziska auf das Bett in dem kleinen Zimmer, das sie seit Hertas Tod bewohnte. Wie sollte es jetzt weitergehen? Hoffnungslosigkeit stieg in der jungen Frau auf.
Franziska Bölz wußte, daß sie Marion niemals würde im Stich lassen können, dazu liebte sie das Mädchen viel zu sehr. Außerdem war sie es ihrem Bruder und auch Herta schuldig, daß sie sich um deren Töchterchen kümmerte, jetzt, da sie es selbst nicht mehr konnten.
Mit leerem Blick schaute sie sich in dem Zimmer um. Der dunkle Schrank, der noch von den Eltern stammte, schien drohend auf sie zuzukommen, und die dünnen Vorhänge bewegten sich leicht vor dem halb geöffneten Fenster. Kühle Abendluft drang ins Zimmer. Von der Straße konnte man die Geräusche hektischer Betriebsamkeit hören.
Aber Franziska nahm das alles gar nicht wahr. Sie mußte an Ulrich denken, der jetzt so weit von ihr entfernt war. Für ihren Bruder war das Leben ohne seine geliebte Frau sinnlos geworden. Eigentlich hatte der Tod für ihn eine Erlösung dargestellt.
Franziska erschrak bei diesem Gedanken. In welche irren Phantasien verirrte sie sich nun in ihrer Trauer?
Nein! Soweit durfte es nicht kommen. Entschlossen stand sie auf und machte das Fenster zu. Dann ging sie ins Bad, füllte ihren Zahnputzbecher mit Wasser und holte aus dem Medizinschränkchen, das sich hinter dem Spiegel verbarg, die Schlaftabletten ihres Bruders. Ulrich hatte sie seit Hertas Tod täglich genommen.
Es zischte leise, als sie die weiße Tablette ins Wasserglas fallen ließ, dann sprudelte es, und schließlich hatte sie sich aufgelöst. Angewidert verzog Franziska das Gesicht, als sie die milchige Flüssigkeit auf ihrer Zunge spürte. Aber sie fühlte schon nach zehn Minuten, wie sich eine bleierne Müdigkeit in ihr ausbreitete.
Franziska schloß die Augen, bereit, sofort einzuschlafen. Da läutete das Telefon. Die Frau zuckte zusammen, aber sie öffnete nicht die Augen. Sie hatte beschlossen, es läuten zu lassen.
Aber der Anrufer blieb hartnäckig, und schließlich hielt sie das Gebimmel nicht mehr aus. Seufzend erhob sie sich und mußte sich einen Augenblick am Bettpfosten festhalten. Ihr wurde schwindlig, denn die Tablette war stark und ihre Wirkung zuverlässig.
»Ja, hallo«, murmelte sie schwach und preßte den Hörer an ihr Ohr.
»Franziska, endlich. Ich dachte schon, du…« Die Stimme des Mannes klang aufgeregt und auch ein wenig ärgerlich. »Ich habe es vorhin schon einmal versucht. Wenn du jetzt nicht abgenommen hättest, dann wäre ich sofort zu dir gefahren.«
»Ach, Manfred, du bist das«, antwortete Franziska leise auf den Redestrom des Mannes am anderen Ende der Leitung. Sie gähnte verstohlen und war froh, daß er es nicht sehen konnte. Sicher hätte er sie sonst getadelt. »Ich lag schon im Bett.«
Daß Manfred Hirzel vor lauter Ärger die Augen verdrehte, konnte sie zum Glück nicht sehen. Aber im Moment hätte es sie wahrscheinlich auch nicht besonders interessiert.
»Na, du hast vielleicht Nerven, Mädchen. Ich dachte, daß du dir vor lauter Kummer um deinen geliebten Bruder vielleicht das Leben nimmst, und dann gehst du seelenruhig ins Bett und läßt den lieben Gott einen guten Mann sein.«
»Sprich nicht so respektlos von meinem Bruder und vom lieben Gott. Vielleicht brauchst du ihn auch einmal«, antwortete Franziska ärgerlich. Plötzlich war sie hellwach. Manfred hatte sich um sie gesorgt. Das war ja etwas ganz Neues.
»Von wo rufst du überhaupt an? Ich dachte, du wärst in Zürich?« Die Verbindung war so deutlich und ohne Nebengeräusche, daß Franziska sofort merkte, daß Manfred Hirzel zumindest in Deutschland war.
»Die Verabredung hat sich zerschlagen«, gestand der Mann. »Überhaupt ist der ganze Auftrag flöten gegangen.«
»Ach, und das sagst du mir erst jetzt?« Franziskas Stimme klang traurig. »Dann hättest du mich doch begleiten können. Ich hätte dich so dringend gebraucht.«
»Das glaube ich dir ja, Liebling. Aber weißt du, ich war so zerschlagen, weil mir ein anderer zuvorgekommen ist, daß ich mich erst einmal habe erholen müssen. Bitte, verzeih mir.« Manfred bemühte sich, seine Stimme zerknirscht klingen zu lassen, und es gelang ihm auch. Er war ein guter Schauspieler und auf diese Eigenschaft stolz.
Franziska fiel auch prompt darauf herein. »Natürlich verzeih ich dir. Es ist zum Glück vorbei, und Ulrich hättest du ohnehin nicht mehr helfen können. Es ist nur…« Sie zögerte einen Augenblick. »Ich… ich vermisse dich so sehr.«
»Also, dann machen wir jetzt Schluß, damit du wieder in dein Bett kommst, bevor es kalt wird. Morgen sehen wir uns ja sicher.« Hastig beendete Manfred Hirzel das Gespräch, das in Bahnen zu verlaufen drohte, die ihm nicht unbedingt zusagten. Zugegeben, er mochte Franziska Bölz sehr gern. Sie sah bildhübsch aus mit ihren dunklen, langen Haaren und den fast schwarzen Augen, die voller Glut funkeln konnten.
Seit sie sich aber zu einem richtigen Heimchen am Herd entwickelt hatte, war sein Interesse an ihr merklich abgekühlt. Er brauchte eine Frau, die zu jeder Tages- und Nachtzeit für ihn da war, die seine Hobbys teilte und an seinen Vergnügungen teilnahm.
Franziska hatte sich aber statt dessen mit dem Kind ihres Bruders belastet und mit dessen ganzem Haushalt. Das gefiel Manfred Hirzel ganz und gar nicht. Und jetzt, nach Ulrichs Tod, sah es fast so aus, als würde Franziska gar nicht mehr von dem Kind loskommen, an das sie offensichtlich ihr Herz gehängt hatte.
Nein! Manfred Hirzel schüttelte den Kopf, daß seine blonden, dauergewellten Haare nur so flogen. Ein Kind würde er sich niemals aufhalsen. Da verzichtete er lieber auf Franziska, so schwer es ihm auch fiel.
Noch eine ganze Weile stand Manfred vor dem Telefon und betrachtete den Apparat, ohne ihn überhaupt wahrzunehmen. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht, und darum beschloß er, sie auf Franziska abzuwälzen.
Sie sollte wählen zwischen einer Ehe mit ihm und dem Kind, das er niemals aufnehmen würde. Was ging ihn diese Marion an, das Kind eines seiner Arbeiter?
Er hatte schließlich den Unfall nicht verschuldet, der Ulrich Bölz das Leben gekostet hatte. Also war er auch nicht verpflichtet, sich um dessen Nachkommen zu kümmern.
Trotzdem wollte er großzügig sein und Franziska anbieten, das Kind in einem guten Internat unterzubringen.
Natürlich! Das war überhaupt die Lösung. Manfred schlug sich mit der Handfläche an die Stirn. Daß er da nicht eher draufgekommen war.
Von Manfred Hirzels geheimen Gedanken und Plänen ahnte Franziska natürlich nichts. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, kehrte auch die bleierne Müdigkeit wieder zurück, die sie vorhin so rasch abgeschüttelt hatte.
*
»Hast du ihn eigentlich gekannt?« Denise von Schoenecker trat ans Fenster und beobachtete gedankenverloren die Schneeflocken, die lustig durch die kalte Novemberluft gaukelten, bevor sie langsam zu Boden fielen.
»Wen meinst du?« Ihr Mann Alexander von Schoenecker ließ die Zeitung sinken. Den ganzen Abend schon hatte er gemerkt, daß seine Frau etwas beschäftigte. Sie war so schweigsam gewesen, was sonst gar nicht ihre Art war.
»Ulrich Bölz«, antwortete Denise etwas ungeduldig. »Er hat bei Hirzel und Sohn gearbeitet. Du kennst doch den Seniorchef.«
»Ja, den schon«, gab Alexander gedehnt zu. »Und von diesem Herrn Bölz habe ich auch schon gehört. Er muß ein sehr zuverlässiger Mitarbeiter gewesen sein, der sich allerdings mit dem Junior nicht besonders gut verstanden hat.«
Denise drehte sich um und ging langsam auf ihren Mann zu. »Den Grund dafür kennst du sicher nicht.«
»Nein, natürlich nicht. Du weißt doch, daß ich mich nie in fremde Angelegenheiten mische. Auch wenn Heinrich Hirzel einer meiner besten Freunde ist, ist das noch lange kein Grund, daß ich…«
»Du hast natürlich recht, wie immer«, unterbrach ihn Denise. Das tat sie sonst nie, aber heute war sie so nervös und ungeduldig wie schon lange nicht mehr, ohne den Grund dafür zu kennen.
Überrascht zog Alexander die Augenbrauen hoch. »Jetzt setze dich einmal her zu mir und erzähle«, forderte er seine Frau auf. »Ich sehe doch, daß du irgendein Erlebnis nicht verarbeiten kannst. Hängt das etwa mit der Beerdigung zusammen, auf der du heute nachmittag warst?«
»Ja… und auch nein. Ich muß gestehen, ich weiß es nicht. Ich sehe nur ständig dieses Bild vor mir, wie diese Franziska, die Schwester von Ulrich Bölz, mit ihrer kleinen Nichte Marion dagestanden hat. Einfach furchtbar.«
Denise setzte sich seufzend neben ihren Mann auf das Sofa. »Wenn solche Menschen dann mit dem Schicksal hadern, habe ich volles Verständnis dafür. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?«
Alexander legte den Arm um die Schultern seiner Frau, der auch nach den vielen Ehejahren noch seine ganze Liebe gehörte. »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nie ganz werden verstehen können. Und deshalb steht uns auch nicht das Recht zu, nach dem Sinn irgendeines Geschehens zu fragen. Du weißt doch selbst, meine Liebe, daß sich meistens alles in Wohlgefallen auflöst, auch wenn es einige Zeit dauert.«
Innig schmiegte sich Denise an Alexander und legte ihre Wange an die seine. »Du hast recht wie immer, Schatz«, gab sie dann zu und fühlte sich wunderbar geborgen in seinen Armen. »Ich bin so froh, daß ich dich habe, Alex. Du verstehst es immer wieder, mir meine Lebensfreude zurückzugeben.«
Alexander küßte seine Frau zärtlich und merkte gar nicht, daß die Zeitung zu Boden fiel.
»Hoffentlich störe ich euch nicht. Ich wollte mich nur zurückmelden.« Dominik von Wellentin-Schoenecker, von allen nur kurz Nick genannt, stand plötzlich im Zimmer. Niemand hatte ihn kommen hören.
Denise richtete sich auf. »Ach, unser Herr Sohn findet es auch wieder einmal für nötig, in sein trautes Heim zurückzukehren.« Eigentlich hatte sie schimpfen wollen, aber als sie in das strahlende Gesicht ihres Sohnes schaute, hatte er ihr bereits allen Wind aus den Segeln genommen.
»Nicht, Mutti, das paßt überhaupt nicht zu dir, daß du mir jetzt eine Standpauke hältst. Ich war doch nur in Sophienlust und habe Heidi getröstet.« Er goß sich eine Tasse Tee ein, der noch gut warm war. »Das tut gut«, murmelte er dann genießerisch.
»Was ist denn mit Heidi? Heute nachmittag war doch noch alles in Ordnung.« Denise schaute ihren Sohn beunruhigt an.
Aber Nick winkte ab und setzte sich in einen der wuchtigen Sessel. Dann streckte er seine langen Beine weit von sich und legte den Kopf zurück. »Nicht nötig, Mutti, daß du dich aufregst. Jetzt schläft sie endlich. Ihr hat nur der Abschied von Karin zu schaffen gemacht. Sie sind ja in den letzten zwei Monaten ganz dicke Freundinnen geworden.«
»Ach ja, Karin. Sie ist auch ein liebes Mädchen.« Denise lächelte ihren Sohn an. »Es ist schon ein großes Glück für sie, daß sie neue Eltern gefunden hat. Ich glaube, bei den Krämers hat sie es wirklich schön. Sie lieben das Kind sehr, und außerdem haben sie keine eigenen Kinder.«
»Schon, aber Heidi hat jetzt wieder überhaupt keine Freundin in ihrem Alter, abgesehen davon, daß Karin versprochen hat, bald schon zu Besuch zu kommen«, berichtete Nick weiter.
Das Kinderheim Sophienlust, das er von seiner Großmutter Sophie vererbt bekommen hatte, lag ihm sehr am Herzen. Er kümmerte sich mit Freude und Feuereifer um alle Belange der Kinder, tröstete sie, wenn es nötig war, und lernte mit den Größeren, wenn sie es wollten und seine Zeit es erlaubte.
»Vielleicht wird sie bald eine neue Freundin bekommen. Ich glaube es sogar ganz sicher«, warf Denise ein. »Marion dürfte etwa in Heidis Alter sein, und sie ist anscheinend auch ein sehr liebes Mädchen.«
»Ich weiß, wen du meinst, Mutti. Du sprichst von Marion Bölz, deren Vater heute beerdigt worden ist. Ich glaube, es ist ganz gut, wenn du dich ein bißchen um die Leute kümmerst. Ich habe nämlich läuten hören, daß sie ziemlich arm sein sollen. Marions Vater hat doch sein ganzes Geld ausgegeben, um seiner Frau zu helfen. Er soll sogar Schulden bei der Bank gemacht haben. Und dann war doch alles umsonst«, fügte der hübsche Junge noch traurig hinzu. Auch ihm ging das Schicksal anderer Menschen nahe, genau wie seiner Mutter.
»Woher weißt du denn das?« fragte Denise überrascht, und auch Alexander horchte auf.
»Peter Maiers Vater arbeitet doch auch bei Hirzel. Und ihr wißt doch, daß Peter mein Freund ist.«
»Ich habe Marions Tante heute zwar meine Hilfe angeboten, aber wie ich diese junge Frau einschätze, wird sie davon keinen Gebrauch machen. Sie wird sich nicht getrauen, hierherzukommen«, überlegte Denise laut und nippte an ihrem Tee.
»Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, dann muß der Berg eben zum Propheten gehen.« Alexander schmunzelte und hauchte seiner Frau einen liebevollen Kuß auf die Wange.
»Du kennst Mutti wirklich sehr gut, Vati.« Nick lachte ebenfalls. »Heidi wird staunen, daß wir so schnell für Ersatz gesorgt haben.«
»Noch ist Marion nicht hier«, beschwichtigte Denise ihre beiden Männer. Aber auch sie war überzeugt davon, daß es für alle Beteiligten die beste Lösung war.
*
»Von mir aus kannst du sofort gehen, Irina. Aber denkst du denn nicht ein bißchen an deinen Sohn?« Aufgeregt ging der Mann in dem exklusiv eingerichteten Wohnzimmer auf und ab. Er sah nicht den großen, schweren Eichentisch, dessen Oberfläche mit teuren Platten bestückt war, und sein Blick streifte auch uninteressiert die rustikalen Fronten des langen Schranks, auf den er einmal so stolz gewesen war.
Er wußte nur eines: Seine Frau wollte ihn und den gemeinsamen Sohn Holger verlassen, weil sie es angeblich in der Einsamkeit nicht mehr aushielt. Dabei wußte er ganz genau, daß da ein anderer Mann dahintersteckte, auch wenn sie es nicht zugab. Irina war schon immer lebenslustig gewesen, und er hatte sich schon damals gewundert, warum sie ausgerechnet ihn geheiratet hatte und sogar mit ihm in die Einsamkeit gezogen war.
»Sei nicht so theatralisch, Werner.« Die spöttische Stimme der jungen, gutaussehenden Frau riß ihn aus seinen Gedanken. »Du weißt genau, daß Holger bei dir und Helene, der Köchin, ausgezeichnet aufgehoben ist. Ich jedenfalls bin hundertprozentig davon überzeugt, daß es Holger an nichts fehlen und mich überhaupt nicht vermissen wird.«
»Ich hoffe sehr, daß du dich da nicht irrst. Ich hoffe es für Holger und für mich. Was mich betrifft, werde ich diesen Verlust ziemlich rasch verschmerzen. Wenn einer gehen will, dann soll man ihn nicht aufhalten.«
Werner Rombold schüttelte den Kopf. Warum sagte er so etwas? Er wußte doch ganz genau, daß es nicht stimmte. Noch immer liebte er Irina, die er vor zwölf Jahren geheiratet hatte. Nur ihre Lebenseinstellung hatte er schon damals nicht geteilt.
Kein Fest hatte sie freiwillig ausgelassen, und auch als Holger schon auf der Welt war, hatte sie noch immer nicht auf ihre Vergnügungen verzichten können. Meist ist sie dann in die Stadt gefahren. Das Landleben, das er selbst so liebte, war für Irina eine Qual.
»Da bin ich aber froh, daß du es mir so einfach machst«, sagte die hübsche Frau spöttisch und grinste. »Natürlich werde ich ab und zu meinen Sohn besuchen. Und auf eine Scheidung lege ich keinen Wert, solange ich nicht wieder heiraten will, was in der nächsten Zeit bestimmt nicht der Fall sein wird.«
»Das beruhigt mich ungemein«, ahmte Werner den Tonfall seiner Frau nach. »Ich würde sonst sicher umkommen vor Eifersucht.« Er lachte grimmig auf, und seine Augen blickten hart.
Was war aus seinem Leben geworden, das er sich so schön und wohlgeordnet vorgestellt hatte? Alles war zerbrochen, alles hatte er verloren. Aber das wollte er Irina nicht eingestehen, diesen Triumph wollte er ihr nicht gönnen.
Aufreizend ließ sich die Frau in einen der weichen Sessel fallen und schlug die wohlgeformten Beine übereinander. »Ich muß zugeben, so gefällst du mir schon bedeutend besser, mein Lieber«, sagte sie zuckersüß und legte ihren Kopf schief. Diese Geste hatte Werner früher immer so gefallen, aber heute ließ sie ihn kalt. Es wirkte gespielt und noch dazu kindisch, das fiel ihm erst jetzt auf.
»Mir ist das ziemlich egal, ob ich dir gefalle oder nicht. Nach allem, was du mir inzwischen an den Kopf geworfen hast, bedeutet mir deine Meinung überhaupt nichts mehr.« Werner fuhr sich mit den langen, sensiblen Fingern, die zu einer festen, großen Hand gehörten, durch sein dichtes dunkles Haar. Es widerstrebte ihm, all die Gemeinheiten zu sagen, aber er konnte nicht anders. Zu sehr hatte ihn die Frau getroffen, die er einmal mehr als sein Leben geliebt hatte.
»Streitet ihr euch schon wieder?« Die verschlafene Stimme eines Jungen riß die Eheleute aus ihrer heftigen Auseinandersetzung.
Siegessicher stemmte Irina Rombold die Hände in die Hüften. Ihre wasserblauen Augen funkelten triumphierend. »Siehst du, jetzt hast du dein geliebtes Söhnchen aufgeweckt mit deinem Geschrei. Hoffentlich bist du jetzt zufrieden.«
»Einmal mußt du es ja doch erfahren. Warum dann nicht heute und jetzt? Komm her zu mir, Holger.« Werner Rombold seufzte tief auf und legte seinem Sohn den Arm um die schmalen Schultern.
Der Junge war ungewöhnlich klein und schmächtig für seine zehn Jahre, und auch daran gab Werner seiner Frau die Schuld. Sie hatte keinen Tag Zeit, sich um Holger zu kümmern, ihm etwas Anständiges zu essen zu kochen und auch nach seinen Schularbeiten zu sehen. Meist war Irina außer Haus und ging ihren zahlreichen Vergnügungen nach, die ihn wirklich schon lange nicht mehr interessierten.
Nur Helene, die alte Köchin, die auch schon für das leibliche Wohl seiner Eltern gesorgt hatte, kümmerte sich um den Jungen und liebte ihn, wie es seine Mutter eigentlich hätte tun sollen.
»Ich weiß schon«, murmelte Holger traurig. Er war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten; die gleichen dunklen Augen, die eine geheime Schwermut verrieten, und die dunklen, dichten Haare, die ein schmales, ernstes Gesicht umrahmten.
»Ihr laßt euch scheiden wie die Eltern von Michael. Der lebt jetzt auch bei seiner Mutter in der Stadt. Seither habe ich keinen Freund mehr.« Traurig senkte der Junge den Kopf.
»So schlimm wird es bei dir wohl nicht werden, Holger«, versuchte Werner seinen Sohn zu trösten. »Die Mami zieht für einige Zeit in die Stadt, weil es ihr hier draußen bei uns zu einsam ist. Du bleibst bei mir. Wir werden eine wunderschöne Zeit zusammen haben. Ich werde mein Büro in der Stadt auflösen und nur noch hier arbeiten, dann können wir immer zusammensein.«
»Ich muß also nicht weg von hier, wenn ihr euch scheiden laßt?« Ein wenig Hoffnung glomm in dem blassen Gesicht des Kindes auf.
»Wir lassen uns nicht scheiden, zumindest vorläufig nicht. Die Mami wird uns also erhalten bleiben. Sie macht nur Urlaub vom Landleben.« Er bemühte sich um ein zuversichtliches Lächeln, das ihm sogar gelang.
Mit ironischem Gesichtsausdruck beobachtete Irina Vater und Sohn. »Na bitte, Erklärungen von meiner Seite sind überflüssig.«
Verärgert drehte sie sich um und ging zur Tür. Ihr weites nachtblaues Seidenkleid schwang um ihre Beine. »Ich sehe schon, daß mich keiner von euch vermissen wird. Aber mir ergeht es ebenso. Ich werde froh sein, wenn ich mich nicht mehr ständig über euch ärgern muß.« Mit einem lauten Knall flog die Tür ins Schloß.
»Was… hat denn die Mami?« fragte Holger ziemlich verschüchtert. Seine dunklen Augen schimmerten verdächtig.
»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Sei nur ganz beruhigt, mein Sohn. Wir Männer werden schon gut miteinander auskommen, oder glaubst du nicht?« Aufmunternd nickte Werner dem Jungen zu, der noch immer ziemlich skeptisch dreinschaute. Sein Gesicht drückte Ratlosigkeit und eine geheime Furcht aus, die so gar nicht zu seinem Alter paßte.
Und das war alles Irinas Verdienst, dachte der Mann grimmig.
Holger zuckte die Schultern, auf denen ein viel zu großer Schlafanzug schlotterte. »Wir sind ja bis jetzt auch gut miteinander zurechtgekommen. Und es stimmt, daß ihr euch nicht scheiden laßt?« Ein bißchen Hoffnung glomm in seinem Blick auf.
Besorgt stellte Werner Rombold fest, daß die Zähne des Jungen wie im Fieber aufeinanderschlugen. War es die Aufregung, oder fror er so erbärmlich?
»Komm, Holger. Jetzt gehst du erstmal ins Bett, morgen reden wir noch einmal über alles, einverstanden?«
»Ja, Vati.« Folgsam stieg der Junge die teppichbespannte Treppe hinauf und war froh, als er endlich wieder in seinem Bett lag.
Mit einem liebevollen Lächeln setzte sich Werner auf die Bettkante und strich Holger das wirre Haar aus der Stirn, die sich fiebrig heiß anfühlte. Sorge stieg in dem Mann hoch, obwohl er sich immer wieder sagte, daß Fieber bei Kindern durchaus normal war.
»Jetzt vergiß das, was du gehört hast, Holger, und mache deine Augen zu. Morgen ist wieder ein neuer Tag, und dann sieht alles auch gleich nicht mehr so schlimm aus. Einverstanden?«
»Vati…«
»Ja, mein Sohn?« Werner furchte die Stirn.
»Du… du bleibst aber bei mir, auch wenn die Mami fortgeht. Versprichst du mir das?«
»Ja, Holger. Das kann ich dir mit gutem Gewissen versprechen. Niemals werde ich dich verlassen, solange du mich noch brauchst. Schließlich bist du alles, was ich habe. Für dich lebe ich.«
Wie erwachend strich sich der Mann über die Augen. Wozu hatte er sich nur hinreißen lassen? Das konnte der Junge doch niemals verstehen, nie verkraften.
Aber ein Blick in das Gesicht seines Sohnes beruhigte ihn wieder. Holger war eingeschlafen. Seine Wangen waren rosig angehaucht. Wahrscheinlich hatte er sich auch das Fieber nur eingebildet.
Leise erhob sich Werner und ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. Lange blieb sein Blick auf dem entspannten Gesicht seines Kindes hängen, bis er sich endlich davon losreißen konnte.
Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf stapfte er die Stufen wieder hinunter. Er sah aus wie ein alter Mann, der alles verloren hatte. Dabei war er gerade achtunddreißig Jahre alt. Aber danach fragte das Schicksal eben nicht.
*
Franziska spürte, wie die Erstarrung langsam von ihr wich. Auch jetzt, zwei Tage nach der Beerdigung ihres Bruders, fühlte sie sich noch wie ausgehöhlt, und doch griff das Leben schon wieder ein bißchen nach ihr.
Nicht zuletzt wegen Marion, dem kleinen Mädchen, das innerhalb eines Jahres seine Eltern verloren hatte. Wie schrecklich mußte es erst für das Kind sein, plötzlich fast allein in der Welt zu stehen. Nur die Tante war Marion noch geblieben.
Wieder einmal nahm sich Franziska ganz fest vor, Marion niemals im Stich zu lassen. Sie hatte dieses Versprechen bereits Herta gegeben, ehe sie gestorben war, und auch Ulrich hatte sie kurz vor seinem Tod noch um diesen Liebesdienst gebeten.
Forschend schaute die junge Frau in den kleinen Spiegel im Badezimmer. Wie sehr hatte sie sich in den letzten Wochen und Monaten verändert, seit das Leid sich bei ihnen die Tür in die Hand gab. Irgendwie kam sie sich älter und auch gereifter vor als andere mit vierundzwanzig Jahren.
Rasch griff sie nach der Truhe mit Make-up. Wenn Manfred nachher gleich zu ihr kam, dann wollte sie hübsch und gepflegt aussehen. Er mochte es nicht, wenn sie traurig war und sich ihrem Kummer hingab. Das wußte Franziska nur zu gut.
Schon um acht Uhr hatte sie Marion in den Kindergarten gebracht. Wie schon die ganze letzte Woche war das Wetter regnerisch und kalt und dementsprechend war auch ihre Stimmung.
Nur eines hielt Franziska aufrecht: Manfred hatte am Vorabend angerufen und sein Kommen für diesen Vormittag angekündigt. Immer wieder mußte die junge Frau daran denken, wie geheimnisvoll seine Stimme geklungen hatte.
Etwas Dringendes hätte er mit ihr zu besprechen, das keinen Aufschub duldete, hatte er gesagt.
Rasch fuhr sich Franziska mit der Bürste durch ihr langes dunkles Haar, das von Naturlocken beherrscht wurde.
Gerade als sie fertig war, klingelte es. Franziska warf noch einen abschließenden Blick in den Spiegel. Ja, sie konnte mit ihrem Äußeren zufrieden sein.
»Manfred.«
Der blonde Mann rang sich ein Lächeln ab. Nur schwer konnte er seine Überraschung verbergen. Daß Franziska so hübsch aussehen würde, damit hatte er natürlich nicht gerechnet.
»Hallo, Kleines«, begrüßte er sie mit seiner etwas zu hohen Stimme, die so gar nicht zu einem Mann paßte. Ohne auf ihre Einladung zu warten, strebte er hastig an ihr vorbei in die Wohnung hinein.
»Wo ist denn das Gör?«
»Wenn du Marion meinst, die habe ich in den Kindergarten gebracht«, antwortete Franziska verärgert. Ihre ganze freudige Erwartung schlug augenblicklich in Abwehr um. Wie konnte Manfred es wagen, ihre geliebte Nichte Gör zu nennen?
»Willst du dich nicht setzen? Ich kann dir auch etwas zu trinken oder zu essen bringen«, besann sie sich auf ihre guten Manieren.
»Danke, nein. Schließlich bin ich nicht gekommen, um meine körperlichen Bedürfnisse bei dir zu stillen. Das kann ich zu Hause bedeutend besser, das kannst du mir glauben.«
Peinlich berührt senkte Franziska den Kopf, daß ihre langen glänzenden Haare nach vorne fielen. Warum nur spielte Manfred immer auf ihre Armut an? Er wußte doch, daß Hertas Krankheit alle Ersparnisse der kleinen Familie aufgezehrt hatte. Sogar Schulden hatte Ulrich machen müssen, weil er dem Rat der Ärzte nicht mehr getraut, sondern lieber auf eigene Kosten neuartige Behandlungsmethoden versucht hatte.
Aber es war alles umsonst gewesen, und so hatte nicht einmal die Lebensversicherung ausgereicht, um die Bankschulden zu tilgen. Sie selbst, Franziska, konnte nicht arbeiten, weil sie halbtags, während Marion im Kindergarten war, keine Stelle fand.
An Denise von Schoeneckers Angebot dachte Franziska Bölz schon lange nicht mehr. Wie hätte sie Marions Aufenthalt in solch einem Kinderheim auch finanzieren sollen?
»Sei nicht schon wieder sauer, Franzi. Ich habe es doch nicht so gemeint. Es ist nur – ich möchte dir einen Vorschlag machen und weiß nicht, wie ich es anpacken soll.« Seine Stimme klang versöhnlich.
Plötzlich wollte Manfred Hirzel gar nicht mehr Schluß machen mit Franziska, zumindest noch nicht gleich. Sie war ein besonders schönes Mädchen, und ihre Qualitäten hatte sie auch. So hübsch und begehrenswert wie heute war sie ihm schon lange nicht mehr erschienen. Und ihre dunklen Augen sahen ihn so intensiv an, daß er sie am liebsten voller Leidenschaft in die Arme gerissen hätte.
Aber noch konnte er sich bezwingen, denn er wußte, daß er in dem Moment verspielt hatte, wo er seinen Gefühlen nachgab. Er bemühte sich, die ganze Sache nüchtern zu betrachten. Immerhin gab es da noch das Kind, das ihm schon lange ein Dorn im Auge war.
Erst wenn Marions Zukunft geklärt sein würde, konnte er seinen Gefühlen nachgeben, die er momentan sogar für Liebe hielt.
»Du sagst ja gar nichts. Ich dachte, du wolltest etwas mit mir besprechen«, unterbrach Franziska seine Überlegungen, denn unter seinen forschenden Blicken fühlte sie sich etwas ungemütlich.
»Du hast recht wie immer.« Er schlug seine Beine übereinander, daß Franziska seine blank geputzten Schuhe sehen konnte. Überhaupt war Manfred Hirzel ein Mann, der größten Wert auf teure, gepflegte Kleidung legte. Ein Mensch sollte nicht über seinen Reichtum reden müssen, sondern man sollte es ihm ansehen, das war seine Devise.
Daran mußte die junge Frau plötzlich denken, als sie ihn so selbstherrlich in den fast ärmlichen Polstermöbeln ihres Bruders sitzen sah.
Einen Augenblick stand sie noch unschlüssig vor ihm, aber als er weiterhin schwieg, setzte sie sich ihm gegenüber.
»Es… es geht um Marion«, begann er etwas zögernd und brach dann ab, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten.
Aber Franziska reagierte überhaupt nicht. Sie wollte hören, was er noch zu sagen hatte. Sie fühlte, daß ihr eine Gänsehaut über den Rücken kroch. Es konnte nichts Gutes sein, was er mit ihr besprechen wollte. Jetzt nicht mehr.
»Und weiter?« forschte sie und lehnte sich in ihrem Sessel zurück, wobei sie sich um Gelassenheit bemühte.
»Es bringt nichts, wenn wir wie die Katze um den heißen Brei herumstreichen. Ich möchte dich heiraten, Franziska. In den letzten Minuten ist es mir ganz klar geworden, daß ich dich an meiner Seite haben möchte. Du bist ein liebes Mädchen, fleißig und anständig, dazu bildschön, wie du sicher weißt.«
Franziska hielt den Atem an. Sollte sie sich so in Manfred getäuscht haben? Er wollte sie heiraten, wollte sie zu seiner Frau machen. Ein herrliches Leben erwartete sie an seiner Seite, ein Leben ohne Armut und Not. Sie würde so für Marion sorgen können, wie sie es sich immer gewünscht hatte, hübsche Kleider kaufen und niedliches Spielzeug, das sich das Kind schon immer sehnlichst gewünscht hatte.
Und trotzdem. Franziska Bölz konnte sich nicht so richtig über den Antrag des Mannes freuen. Das Wort Liebe war nicht gefallen. Auch von Marion hatte er nicht gesprochen. Dachte er wirklich daran, ein für ihn fremdes Kind in sein Haus aufzunehmen? Dann hätte sie ihm große Abbitte leisten müssen, weil sie ihn die ganze Zeit so verkannt hatte.
Als Manfred weitersprach, wurde ihr klar, daß sie sich doch nicht geirrt hatte. Manfred Hirzel war genauso, wie sie ihn eingeschätzt hatte: kalt, berechnend und ohne jedes Gefühl für andere Menschen.
»Da wäre nur noch eine Sache zu klären, nämlich: Was wird aus Marion, wenn wir erst verheiratet sind und einen eigenen Haushalt haben.«
Franziska erstarrte. »Marion ist keine Sache, sondern meine Nichte«, begehrte die Frau auf. Ihr Blick wurde hart, und ihre schönen Augen verdunkelten sich. Das also war der Haken, die Bedingung, die mit dem Heiratsantrag verknüpft war. Sie hatte es ja geahnt.
»Also gut, deine Nichte. Du siehst doch bestimmt ein, daß du mir nicht zumuten kannst, ein fremdes Kind aufzuziehen. Deshalb habe ich…«
»Was hast du?« unterbrach Franziska ihn. »Du redest immer nur davon, was ich dir nicht zumuten kann. Und was du mir zumutest, daran denkst du wohl nicht?«
Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, darum schaute sie schnell zur Seite.
»Laß mich doch bitte ausreden. Wir kommen auf keinen grünen Zweig, wenn wir uns schon zu Anfang unserer Unterhaltung streiten. Also, ich habe mir Gedanken gemacht, was wir mit deiner Nichte machen könnten. Und ich glaube, daß mein Entschluß auch dein Einverständnis finden wird.«
»Das wage ich zu bezweifeln.« Franziska hatte sich wieder gefangen. Ihr Mund verzog sich verächtlich nach unten, und sie bemühte sich, ihm ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. Nun wußte sie, daß alle ihre Hoffnungen zerschlagen waren.
»Warte doch erst ab und unterbrich mich nicht dauernd. Es stimmt wirklich, daß ich mir die ganzen Tage überlegt habe, was das beste für das Kind ist. Und ich habe eine ausgezeichnete Lösung gefunden.«
»Du willst mir die Kleine wegnehmen«, murmelte Franziska tonlos. »Aber das eine sage ich dir, das wird dir nie und nimmer gelingen. Eher…«
»Was eher?« Forschend betrachtete der Mann seine Freundin.
»Ach nichts«, wehrte sie ab. Ihre feingliedrigen Finger fuhren nervös über die Tischplatte, als wollten sie Staub wegwischen, der gar nicht vorhanden war.
»Nun sag schon, was für eine wunderbare Lösung du für Marion gefunden hast. Davon, ob ich sie auch wunderbar finde, hängt doch unsere gemeinsame Zukunft ab, wenn ich dich richtig verstanden habe.«
»Sei nicht so zynisch, Franzi, das paßt nicht zu dir«, tadelte der Mann sichtlich verärgert. Trotzdem war seine Miene noch immer freundlich und unbewegt.
Franziska wußte, daß das die Ruhe vor dem Sturm war. So gut kannte sie den Juniorchef der Firma Hirzel und Sohn schon, daß sie die meisten seiner Reaktionen bereits vorausahnen konnte. Darum schwieg sie jetzt und bemühte sich um einen unbeteiligten Gesichtsausdruck. Er sollte nicht merken, wie aufgeregt sie war, wie ihr Herz vor Angst klopfte, ihn heute das letzte Mal zu sehen, weil sie seinen Vorschlag ablehnen mußte.
»Wie alt ist Marion eigentlich?« Geschäftsmäßig legte der Mann die Hände gegeneinander und schaute sein Gegenüber über den Tisch hinweg erwartungsvoll an.
»In neun Monaten wird sie sechs, nächstes Jahr kommt sie in die Schule. Aber was hat das mit uns zu tun?« Franziska holte tief Luft. Sie hatte kaum sprechen können vor Beklemmung.
»Das hat sehr viel mit uns zu tun. Solange deine Nichte noch in den Kindergarten geht, werden wir mit unserer Heirat warten. Danach wird sie ein gutes Internat besuchen, wofür ich die Kosten selbstverständlich übernehmen werde. Dem Kind, an das du dein Herz gehängt hast, soll es an nichts fehlen.«
Franziska starrte den Mann nur an, unfähig, etwas zu sagen. Das war so ein ungeheuerliches Ansinnen, das er an sie stellte, daß ihr einfach die Worte fehlten.
»Das ist… das kann nicht dein Ernst sein«, würgte sie schwach hervor. Ihre Augen bettelten und flehten, aber Manfred schaute demonstrativ zur Seite.
»Wie meinst du das?« fragte er fast aggressiv und knetete seine fleischigen Hände. »Natürlich ist das mein Ernst. Jetzt sag bloß nicht, daß mein Vorschlag schlecht ist. Ich finde ihn sogar ungeheuer großzügig. Schließlich geht mich das Kind überhaupt nichts an.«
»Nein, Marion geht dich wirklich nichts an, Manfred. Da hast du ausnahmsweise recht.« Franziska konnte noch immer nicht fassen, was sie gehört hatte. Und diesem Mann hatte sie ihr Herz geschenkt. Wie hatte sie sich nur so irren können, das verstand sie einfach nicht.
»Dann bist du also einverstanden.« Manfred deutete ihr Schweigen falsch und erhob sich mit einem zufriedenen Grinsen. Er ging auf die junge Frau zu. Dann streckte er seine Hände aus und faßte nach den ihren, die eiskalt waren.
»Komm, Franzi. Du mußt doch zugeben, daß mein Angebot außerordentlich großzügig ist.«
Zärtlich wollte er sie küssen, als sie vor ihm stand.
Aber in diesem Augenblick erwachte Franziska aus ihrer Erstarrung. »Rühr mich nicht an!« Ihre dunklen Augen blitzten. »Das was du mit Marion und mir vorhast, ist ein ganz billiger, ein ganz gemeiner Kuhhandel. Ich habe dir nichts mehr zu sagen, Manfred Hirzel.« Ihre Stimme überschlug sich fast.
»Aber, Franzi. Du hast dir mein Angebot doch noch gar nicht überlegt«, verteidigte sich der Mann. »Wenn du nachdenkst, wirst du erkennen, daß ich recht habe. Zugegeben, Marion ist deine Nichte. Aber du wirst mir zustimmen, wenn wir erst einmal eigene Kinder haben, dann wird dich die Anwesenheit eines fremden Kindes auch mehr belasten als jetzt.« Manfred versuchte es noch einmal im Guten, obwohl er innerlich bereits kurz vor einem Wutausbruch stand. Noch aber gelang es ihm, sich zu beherrschen.
Franziska erschien ihm in ihrem Zorn reizvoller denn je. Er wollte sie nicht aufgeben, jedenfalls nicht so schnell. Ja, er war sogar bereit, sie zu heiraten, wenn sie auf dieses Kind verzichtete, das ihm schon lange ein Dorn im Auge war.
»Komm, Liebling, beruhige dich wieder. Ich werde jetzt gehen, du kannst dir dann in aller Ruhe meinen Vorschlag überlegen. Sieh mal, wir werden bald eigene Kinder haben, und dann kannst du Mutter spielen, solange es dir Freude macht«, versuchte er sie wieder zu locken.
In Franziskas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Konnte ein Mensch wirklich so grausam sein und ein Kind einfach abschieben? Vor ihrem geistigen Auge sah sie Marion, das kleine schmächtige Mädchen, das so kurz hintereinander Mutter und Vater verloren hatte. Fast konnte sie fühlen, wie sich der zarte Körper voll Liebe und Vertrauen an sie schmiegte. Und dieses Kind sollte sie verraten? Nein! Niemals!
Was bildete dieser Mann sich ein? Er versuchte hartnäckig, sich in ihre kleine Familie hineinzudrängen und alles zu zerstören, was das Schicksal noch übriggelassen hatte.
Wie erwachend schaute sich Franziska Bölz um. Noch stand Manfred abwartend vor ihr, aber seine zusammengekniffenen Lippen verhießen nichts Gutes. Offensichtlich war seine Geduld schon ziemlich erschöpft.
Plötzlich erschien ihr der Mann wie ein völlig Fremder, dem sie zum ersten Mal gegenüberstand.
Nein! Den Entschluß hatte die junge Frau schnell gefaßt. Sie würde sich niemals von Marion trennen, auch wenn dadurch die Beziehung zu Manfred Hirzel kaputtgehen sollte. Wenn er sie wirklich nur wegen des Kindes aufgab, dann hatte seine Liebe ohnehin nichts getaugt.
»Ich brauche keine Bedenkzeit, Manfred«, begann sie leise, und ihre Stimme war rauh vor Erregung. »Ich weiß jetzt schon, was ich dir antworte.«
»Siehst du, ich habe es ja gleich gewußt, daß du ein vernünftiges Mädchen bist. Dann heiraten wir also in einem Dreivierteljahr, und ich werde mich inzwischen nach einem guten Internat umsehen. Ich glaube, die besten gibt es in der Schweiz.«
»Möchtest du nicht lieber eines in Afrika auswählen, dann ist Marion noch weiter weg. Dann kann sie dich bestimmt nicht mehr stören«, sagte sie spöttisch und wehrte seine Umarmung ab. »Laß das«, fuhr sie ihn böse an und ging einen Schritt zur Seite.
»Was hast du denn?« fragte Manfred überrascht. »Ich dachte, es wäre alles klar zwischen uns?«
»Ist es auch«, antwortete Franziska, die sich plötzlich leicht, ja, fast beschwingt fühlte. Sie hatte sich zu einem Entschluß durchgerungen. »Du hast mich bloß nicht ausreden lassen. Marion bleibt hier. Wir pfeifen auf dein großzügiges Angebot. Sei froh, du darfst dein sauer verdientes Geld behalten. Ich verzichte auf den Judaslohn, den du dafür zahlen würdest, daß du Marion ihr Zuhause stiehlst.«
»Franzi, überlege es dir gut. Noch einmal mache ich diesen Vorschlag nicht.« Er sprach gefährlich leise, und seine sonst fast farblosen Augen wurden eisgrau.
Aber Franziska konnte er damit nicht beeindrucken. »Das würde ich dir auch gar nicht raten. Am besten ist es, wenn du jetzt gehst. Ich kann deine selbstgefällige Fassade nicht mehr ertragen.«
Entschlossen stürmte sie an ihm vorbei und öffnete die Tür.
Das war zuviel für Manfred Hirzel. Noch nie hatte es jemand gewagt, ihn hinauszuwerfen, schon gar nicht so ein Habenichts wie dieses Mädchen.
Haßerfüllt preßte er die Lippen zusammen und stapfte zur Tür. Die letzten Schritte rannte er fast, weil ihn das Gefühl beschlich, entweder sofort zu platzen oder einen Streit vom Zaun brechen zu müssen, was er hinterher bestimmt bereut hätte. Das verstieß gegen seine Würde als Geschäftsmann.
Langsam schloß Franziska die Tür wieder, als unten die Haustür krachend zufiel. Was hatte sie getan?
Sie hatte den einzigen Menschen, der ihr nach dem Tod des Bruders noch geblieben war, hinausgeworfen. Aber hätte sie Marion verraten sollen? Marion, das Kind, das sie liebte und das ihr vertraute?
Nein, so eine war sie nicht, auch wenn es ihr vor Schmerz fast das Herz zerriß. Sie wußte, daß sie Manfred Hirzel für immer verloren hatte.
Schluchzend warf sich Franziska auf ihr Bett. Niemand kam, um sie zu trösten, so wie es Ulrich früher immer getan hatte. Alle waren tot, die Eltern, der Bruder und die Schwägerin.
Und ihre Liebe zu Manfred Hirzel starb in den Minuten, als sie weinend dalag und über ihre Zukunft nachdachte. Sie würde es auch ohne ihn und sein Geld schaffen. Immerhin bekam sie die kleine Rente, und sie besaß auch noch zwei gesunde Hände, um zu arbeiten. Wenn Marion erst zur Schule ging, dann war sie bestimmt schon vernünftig genug, daß sie, Franziska, sich eine Ganztagsstelle suchen konnte. Dann hatten sie das Schlimmste überwunden.
Als die Uhr elf Mal schlug, stand sie auf und brachte ihre Haare in Ordnung, die ganz zerwühlt waren. Es wurde Zeit, daß sie zum Kindergarten ging, um Marion abzuholen.
Jubelnd rannte das Kind auf sie zu, und Franziska brachte es sogar fertig, mit der Kleinen zu lachen.
*
Denise von Schoenecker hatte lange mit sich gekämpft, ob sie Franziska Bölz einfach aufsuchen sollte. Nick hatte ihr erzählt, daß es der jungen Frau gar nicht gutging. Anscheinend war ihre Verlobung mit dem Juniorchef der Firma Hirzel in die Brüche gegangen, wenn man den Worten von Nicks Freund Peter glauben durfte.
Trotzdem hatte Denise ihren Entschluß immer wieder aufgeschoben. Sie wollte sich nicht aufdrängen. Aber ihr Gefühl sagte ihr, daß sie hier helfen mußte. Sie wußte nur nicht wie.
Dann aber kam der Gutsbesitzerin der Zufall zu Hilfe.
Heidi hatte ein Bild für ihre Freundin Karin gemalt, die jetzt den öffentlichen Kindergarten besuchte, seit sie neue Eltern gefunden hatte. Da Denise sowieso in der Nähe zu tun hatte, nahm sie dieses Bild gleich mit, um es Karin zu geben. Sie war ja auch gespannt, wie es dem kleinen Mädchen ging, das sie schon seit einem Monat nicht mehr gesehen hatte.
Aber die Verwalterin kam zu spät. Karin war schon etwas früher von ihrer Mutter abgeholt worden, weil sie noch zum Zahnarzt gehen wollten, berichtete ihr die Kindergartentante. Dann erzählte Frau Bender noch, daß es dem Mädchen sehr gut gefiele, mit den anderen Kindern zu spielen.
Denise war sehr zufrieden und reichte der jungen, sympathischen Frau die Hand. »Bitte, geben Sie Karin das Bild von unserer Heidi, und sagen Sie ihr auch bitte einen schönen Gruß.«
»Das werde ich gerne tun«, antwortete Frau Bender, eine schwarzhaarige Frau von etwa fünfunddreißig Jahren. Dann verabschiedeten sich die beiden Frauen voneinander, und Denise stieg wieder in ihr Auto, das sie auf der anderen Straßenseite geparkt hatte.
Sie war noch nicht sehr weit gefahren, als sie die beiden – Franziska und Marion Bölz – Hand in Hand den Gehweg entlangmarschieren sah. Marion hüpfte lustig, aber Franziskas Schritt schien müde und voller Resignation zu sein.
Langsam fuhr Denise von Schoenecker neben den beiden her, und dann hielt sie an. »Möchten Sie mitfahren? Ich habe zufällig den gleichen Weg.«
Erschrocken wich Franziska einen Schritt zur Seite.
»Au ja, Tante Franzi, fahren wir mit. In so einem tollen Auto bin ich noch nie gefahren«, rief Marion überschwenglich.
»Nein, nein, danke, Frau…« Franziska mußte einen Augenblick überlegen. Das freundliche Gesicht der Fahrerin kam ihr zwar bekannt vor, aber wo sie es schon einmal gesehen hatte, fiel ihr im Augenblick nicht ein.
»Ich bin Denise von Schoenecker. Bitte, steigen Sie ein, denn ich muß weiterfahren, sonst bin ich hier ein Verkehrshindernis.«
Nun blieb Franziska Bölz nichts anderes übrig, als der Aufforderung Folge zu leisten. Rasch schob sie Marion auf den Rücksitz. Sie selbst setzte sich vorne auf den Beifahrersitz.
Langsam fuhr Denise an. »Wie geht es Ihnen, Fräulein Bölz?«
»Danke, einigermaßen. Irgendwie geht es immer weiter«, wich sie aus und starrte angestrengt aus dem Fenster.
»Erinnern Sie sich noch daran, daß ich Ihnen meine Hilfe angeboten habe? Es gilt immer noch. Wenn Sie sich eine Arbeit suchen möchten, dann ist Marion bei uns gut aufgehoben.«
»Wer hat Ihnen gesagt, daß ich arbeiten muß?« Franziska wurde immer nervöser, sie wußte nicht, was sie Denise antworten sollte. Sie war es von frühester Jugend an gewohnt, ihre Probleme allein zu lösen. Und genau das wollte sie jetzt auch wieder tun. Wie kam diese Fremde überhaupt dazu, sich in ihre Angelegenheiten zu mischen?
»Bitte, seien Sie mir nicht böse, Fräulein Bölz. Ich weiß, es geht mich nichts an.« Denise mußte sich auf den Verkehr konzentrieren, als sie durch Maibachs Innenstadt fuhren. »Aber sehen Sie, durch unser Kinderheim habe ich sehr viel mit Menschen zu tun. Und da sehe ich auch, wenn jemand in Not ist. Es ist doch nur natürlich, wenn man helfen will. Sie brauchen Hilfe, Franziska.«
Denise hatte sehr eindringlich gesprochen, aber die junge Frau antwortete nicht. Nur ihr heftiges Atmen war zu hören, das schließlich in ein verzweifeltes Schluchzen überging.
»Ja, Sie haben recht. Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Das Geld… es reicht hinten und vorne nicht, und… und arbeiten kann ich auch nicht gehen. Dabei hat mir ein Kaufhaus jetzt eine Stelle angeboten. Die… Bezahlung ist zwar nicht besonders, aber es wäre doch immerhin etwas.«
Franziska schlug die Hände vors Gesicht. Alle Not brach aus ihr heraus, aller Kummer, der die letzten Wochen ihr Begleiter gewesen war.
»Nehmen Sie das Angebot ruhig an, Franziska. Marion ist bei uns gut aufgehoben.« Tröstend legte Denise ihre rechte Hand auf Franziskas bebende Schulter.
»Aber… ich kann das niemals bezahlen«, schluchzte sie verzweifelt. »Wir… sind arm.«
»Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Für diese Fälle steht ein Fond zur Verfügung, der es auch mittellosen Kindern ermöglicht, in Sophienlust zu leben, wenn dies erforderlich ist. Sie sehen also, daß zumindest die finanzielle Seite geregelt ist. Und jetzt hören Sie auf zu weinen, Franziska, wir sind in Sophienlust. Sie wollen sich doch sicherlich zuerst alles ansehen, ehe Sie sich entscheiden.«
Erschrocken nahm Franziska die Hände vom Gesicht. »Ich kann doch nicht… nein, das geht wirklich nicht, Frau von Schoenecker. Es ist… ich meine…« Verzweifelt brach sie ab.
»Jetzt beruhigen Sie sich doch, Franziska. Niemand will Ihnen etwas aufzwingen, was Sie nicht selbst gutheißen. Aber ansehen können Sie es sich doch, dann können Sie mein Angebot immer noch ablehnen.«
»Gut.« Die junge Frau nickte ergeben und stieg dann aus. Am kommenden Montag konnte sie vielleicht schon ihre neue Arbeit anfangen, vorläufig allerdings nur als Urlaubsvertretung bis eine Woche vor Weihnachten. Eine feste Anstellung würde sie erst ab Januar bekommen, falls sie sich bewährte.
Marion klatschte in die Hände. »Toll«, sagte sie und strahlte über das ganze Gesicht. »Bleiben wir hier, Tante Franzi?«
»Ich weiß es nicht, Herzchen, ich weiß es wirklich nicht.« Franziska schluckte, die Tränen saßen noch immer locker.
»Jetzt kommt erst einmal herein, ihr beiden, ehe ihr mir hier draußen anfriert«, entschied Denise und faßte das Kind bei der Hand. Dann marschierten sie die Freitreppe hinauf, auf der stellenweise durchsichtiges Eis glitzerte.
»Wir haben hier auch ein kleines Mädchen in deinem Alter. Unsere Heidi wird glücklich sein, wenn sie mit dir spielen darf. Sieh nur, da kommt sie schon.«
Ein hübsches blondes Mädchen kam eilig die teppichbespannte Treppe heruntergelaufen. »Ist sie das? Ist das Marion, von der du mir erzählt hast, Tante Isi?«
»Ja, Heidi, das ist Marion. Sie will sich erst einmal alles ansehen. Vielleicht zeigst du ihr gleich einmal dein Zimmer, das ja auch ihres sein wird, falls sie hierbleibt.«
Heidi nahm das Mädchen bei der Hand, das ohne Scheu mitging. Offensichtlich fanden die beiden sofort Gefallen aneinander, denn sie unterhielten sich angeregt.
»Sehen Sie, Franziska, Marion gefällt es hier. Für Sie wäre das Leben bestimmt auch einfacher, wenn Sie sich nicht immer um das Kind sorgen müßten. Außerdem können Sie Ihre Nichte hier besuchen, so oft Sie nur möchten und es Ihre Zeit erlaubt. Kommen Sie, gehen wir in mein Zimmer.«
Denise lächelte der jungen Frau aufmunternd zu, bevor sie voran die Treppen hinaufging.
In dem stilecht eingerichteten Biedermeierzimmer war es behaglich warm, und trotzdem fröstelte Franziska. Nur mit Mühe konnte sie verhindern, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen.
»Setzen Sie sich doch. Glauben Sie mir, Franziska, ich möchte Ihnen nur helfen. Und daß Sie Hilfe brauchen, das können Sie nicht leugnen.«
»Nein, das kann ich wirklich nicht«, gestand sie und senkte den Kopf. Verlegen schaute sie auf ihre Hände, die sie fest ineinander verschlungen hatte. »Aber wie kommen Sie dazu, mir zu helfen? Sie kennen weder Marion noch mich, und trotzdem wollen Sie die Kleine bei sich aufnehmen? Ich… ich habe doch gar kein Geld«, betonte sie noch einmal.
»Dieses Thema haben wir doch schon abgehakt. Aber ich sage es Ihnen noch einmal, denn offensichtlich können Sie mir nicht glauben. Für bedürftige Kinder steht ein Fond zur Verfügung, aus dem der Aufenthalt in Sophienlust finanziert wird. Sie brauchen sich also gar keine Sorgen zu machen.« Denise war neben Franziska getreten und legte jetzt ihre Hand auf den Arm der jungen Frau.
»Sie müssen Marion ja nicht für immer hergeben. Sobald Sie festen Boden unter den Füßen haben, können Sie das Kind wieder abholen und die Zeit der Trennung vergessen. Auch wenn Sie zu Hause sind, dürfen Sie Marion jederzeit zu sich holen.«
»Auch… auch an Weihnachten?«
»Natürlich auch dann. Sie können das Fest aber ebensogut hier bei uns feiern, wenn Sie möchten. Wir würden uns jedenfalls alle freuen. Aber das können Sie sich ja noch überlegen.«
Denise spürte, daß die Entscheidung bereits zu Marions Gunsten ausgefallen war. Es war wirklich das beste für Franziska und ihre kleine Nichte, auch wenn es der jungen Frau schwerfiel, Marion in das Heim zu geben. Aber es war immer noch besser, als wenn sie Manfreds Vorschlag angenommen hätte. Denn dann wäre das Kind für sie wahrscheinlich für immer verloren gewesen.
*
»Eigentlich fehlt uns die Mami gar nicht«, stellte Holger Rombold fest und schlang die Arme um den Hals seines Vaters.
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete der Mann und lächelte ein bißchen. Er konnte seinem Sohn ja schlecht sagen, daß er sie mehr vermißte, als er sich selber eingestehen wollte. Immerhin waren sie schon zwölf Jahre verheiratet, und auch vorher hatten sie sich schon eine ganze Weile gekannt.
Werner Rombold legte gedankenverloren die Zeitung zur Seite. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch sein dichtes Haar, in das sich innerhalb der letzten Wochen bereits die ersten Silberfäden geschlichen hatten.
Manchmal beschlich ihn das Gefühl, daß sein Leben sinnlos vertan war, aber dann mußte er wieder an seinen Sohn denken, der ihn brauchte. Das beflügelte ihn dann wieder und bestärkte ihn in der Entscheidung, daß er weitermachen mußte.
»Vati?«
»Ja, mein Sohn?« Forschend schaute Werner in das etwas blasse Gesicht des Jungen, der sich neben ihn auf die Stuhllehne gesetzt hatte. »Rück schon raus mit der Sprache. Ich merke doch, daß du etwas auf dem Herzen hast.«
»Was… was meinst du, Vati, ob uns die Mami gar nicht mehr lieb hat?«
»Aber sicher hat sie das. Sie will nur nicht ständig hier in dieser einsamen Landschaft leben. Deine Mami bevorzugt die Stadt mit ihren Kinos und Restaurants, was es hier in diesem kleinen Nest alles nicht gibt.«
»Das ist nicht allein der Grund, das kannst du mir glauben«, stellte der Junge mit ungewöhnlichem Ernst fest. »Sie kann uns nicht mehr liebhaben, sonst wäre sie hiergeblieben. Aber weißt du, Vati«, er zögerte und schaute verlegen zu Boden.
»Nun rede schon, Holger. Du machst mich ganz kribbelig mit deinem Gestotter.«
»Ich… es macht mir gar nichts aus, wenn sie mich nicht liebhat. Ich habe sie nämlich auch nicht lieb. Eigentlich ist sie mir gleichgültig.«
Erschrocken betrachtete Werner seinen Sohn. Wieviel Kummer mußte sein Jungenherz erfüllen, wenn er so etwas sagen konnte. Wie lange litt er schon, ohne daß er etwas gemerkt hatte?
Er und Irina hatten sich immer in Sicherheit gewiegt und geglaubt, Holger würde nichts von dem Bruch zwischen ihnen spüren. Aber in diesem Punkt hatten sie sich offensichtlich gründlich geirrt.
Es konnte doch fast nicht möglich sein, daß das, was Holger behauptete, der Wahrheit entsprach. Bestimmt war es eine Schutzbehauptung.
Oder hatte es Irina mit ihrem herzlosen Verhalten wirklich geschafft, daß ihr eigenes Kind nichts mehr für sie empfand?
»So etwas darfst du gar nicht denken, geschweige denn sagen. Die Mami hat uns doch lieb, und sie wird auch wieder zu uns zurückkommen, wenn sie das Stadtleben satt hat. Daran mußt du immer denken.« Werner sagte es gegen seine Überzeugung, aber er glaubte, daß er es seinem Jungen zuliebe tun mußte. Dieser brauchte die Mutter, auch wenn sie nie hier war. Wenigstens durfte er nicht vergessen, daß er eine hatte.
»Helene ist mir viel lieber. Sie kocht immer so gute Sachen. Und abends, nachdem sie mit mir gebetet hat, gibt sie mir immer einen Kuß auf die Stirn. Das hat Mami noch nie gemacht.« Holger zog seine Nase kraus, auf der einige Sommersprossen tanzten.
»Das ist doch nicht wahr, Holger. Früher, als du noch klein warst, da hat dich deine Mami immer geküßt und in ihren Armen geschaukelt. Sie hat dir auch Lieder vorgesungen, bis du eingeschlafen warst.«
Werner Rombold fühlte sich äußerst unbehaglich. Zugegeben, als Holger noch ein kleines Baby gewesen war, da hatte Irina schon ab und zu mit ihm gespielt. Aber es war ihr bald zu langweilig, und dann sogar lästig geworden, ständig nur ein kleines Kind um sich zu haben.
Trotzdem glaubte Werner, die Lügen weiterspinnen zu müssen, um seinem Kind zu helfen. »Jetzt bist du schon größer, und da hat sie sich vielleicht nicht mehr so richtig getraut, weil sie nicht wußte, ob es dir überhaupt noch recht ist. Immerhin bist du ja bald ein Mann, und da wollte sie dich wahrscheinlich nicht in Verlegenheit bringen.«
»Und das glaubst du?« Zweifelnd schaute Holger seinen Vater an. Die Mundwinkel hatte er leicht nach unten gezogen, und in diesem Augenblick ähnelte er Irina mehr, als es Werner lieb war.
»Natürlich«, behauptete der Mann gezwungenermaßen. »Sonst würde ich es ja nicht sagen.«
»Ich glaube es nicht, Vati. Ich habe mir lange überlegt, warum die Mami uns einfach allein gelassen hat. Sie hat uns nicht mehr lieb. Bitte, sei nicht böse, Vati.« Ein argwöhnischer Seitenblick traf den Mann, der nicht wußte, was er sagen sollte.
»Siehst du, Vati, so sicher bist du auch nicht mehr.« Der Junge triumphierte. »Und deshalb ist es für uns beide das beste, wenn wir sie vergessen. Sie kommt ja doch nicht mehr zurück.«
»Jetzt ist es aber genug, Holger. Ich will nichts mehr davon hören. Wer hat dir nur diesen Unsinn eingetrichtert? Doch nicht etwa Helene?« Er runzelte ärgerlich die Stirn und ballte seine Hände zu Fäusten. »Daß du es weißt, ich will nichts mehr davon hören. Und mit Helene werde ich auch ein ernstes Wort reden. Sie soll sich gefälligst um die Küche kümmern und nicht um unser Privatleben.«
Mit gesenktem Kopf trollte sich der Junge. Er hatte den Vater doch nur trösten wollen, und jetzt war er böse auf ihn. Es war halt nicht einfach, mit Erwachsenen zurechtzukommen.
»Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, als Sie meinem Sohn den Floh ins Ohr gesetzt haben? Sehen Sie mich an, Helene, wenn ich mit Ihnen rede«, wurde Werner laut, als die Frau auf seine Anschuldigungen nicht reagierte.
»Schreien Sie doch nicht so, ich bin nicht schwerhörig.« Langsam drehte sich die korpulente Frau mit dem schlohweißen Haar um und stemmte die Hände in die fülligen Hüften. Sie durfte es sich erlauben, so mit dem Mann, der ihr Arbeitgeber war, zu reden, denn sie arbeitete schon eine halbe Ewigkeit in dem Haushalt. Damals hatten Werners Eltern noch gelebt.
Und sie war auch die einzige gewesen, die den Kontakt zu Herta, Werners Halbschwester, aufrechterhalten hatte. Herta entstammte einer kurzen, aber heftigen Verbindung von Werners Vater zu einer blutjungen Frau, die wenige Monate nach der Geburt ihres Kindes an einer unheilbaren Krankheit gestorben war. Herta hatte wegen der gleichen Krankheit ihr Leben lassen müssen. Das hatte die Köchin vor wenigen Tagen erst von einer Freundin erfahren, die ebenfalls in Maibach wohnte, das auch die Heimat von Werners Halbschwester gewesen war.
Jetzt war auch noch der Mann bei einem Unfall ums Leben gekommen und hatte das kleine Töchterchen nahezu unversorgt zurückgelassen.
»Ich habe aber fast den Eindruck, als würden Sie mich nicht verstehen«, murrte Werner, nun schon bedeutend leiser. »Was haben Sie Holger nur für Flausen in den Kopf gesetzt, daß seine Mutter ihn angeblich nicht mehr liebhaben würde.«
»Stimmt es vielleicht nicht? Was soll ich ihm denn antworten, wenn er mich fragt, ob es eine Sünde ist, wenn er seine Mami nicht mehr mag? Soll ich dann sagen: Ja, mein Junge, es ist Sünde. Du mußt sofort wieder anfangen, deine Mami zu lieben, weil sie eben deine Mutter ist?«
Betroffen senkte Werner den Kopf. »Nein, natürlich nicht«, gestand er dann leise. »Es… es ist alles so schwer, auch für mich«, murmelte er und ließ sich ächzend auf einen Stuhl fallen.
»Ich weiß, Werner, und ich versuche ja auch, euch beiden zu helfen, wo ich nur kann. Der Junge braucht jemanden, der ihn liebhat und der ihm auch das Gefühl vermittelt, gebraucht zu werden. Holger ist kein Baby mehr, er muß auch mit jemandem vernünftig reden können.«
»Sie haben ja recht, Helene. Aber die Auflösung meines Büros ist doch nicht so einfach, wie ich gedacht hatte. Mein Vorgesetzter von der Versicherung macht Schwierigkeiten. Er behauptet, hier auf dem Lande würde ich keine Abschlüsse tätigen können. Am liebsten würde ich den ganzen Mist hinschmeißen und mich nur noch der Malerei widmen.«
»Und warum machen Sie es nicht? Dem Jungen täte es bestimmt gut, wenn er wenigstens seinen Vater um sich hätte. Sie haben doch das Geld nicht nötig, das Sie bei der Versicherung verdienen.«
»Natürlich nicht, Helene, das stimmt schon.« Werner zögerte mit der Antwort. Er wollte die gutmütige Frau nicht anlügen, aber die Wahrheit wollte er ihr auch nicht sagen.
Ich fürchte mich vor der völligen Einsamkeit hier draußen, hätte er bekennen müssen, aber das brachte er nicht über die Lippen.
Helene wußte auch ohne Worte, was ihn bewegte. Schließlich kannte sie Werner Rombold schon, seit er noch ein kleiner Junge in Holgers Alter war.
»Sie sind nicht der einzige Mensch, der Kummer und Sorgen hat«, sagte sie leise, voller Mitleid. Nachdenklich legte sie das Küchenmesser zur Seite, mit dem sie gerade die Möhren für den Eintopf hatte schneiden wollen.
»Ihre Halbschwester Herta ist vor fast einem Jahr gestorben«, sagte sie, obwohl sie es als Geheimnis in ihrem Herzen hatte verschließen wollen. Dieses Thema war nämlich zu Lebzeiten von Werners Eltern tabu gewesen.
Werners Mutter hatte den Seitensprung ihres Mannes einfach ignoriert, ohne sich um die Folgen zu kümmern. Wie leicht hätte sie das kleine Mädchen, das ja immerhin das Kind ihres Mannes war, zu sich nehmen können, nachdem dessen Mutter so plötzlich gestorben war.
Aber sie hatte es zugelassen, daß ihr Mann es bei fremden Leuten unterbrachte. Von diesem Augenblick an war über den Vorfall nicht mehr gesprochen worden.
Dementsprechend reagierte jetzt auch der Mann.
»Woher wissen Sie das, Helene?« fragte er aggressiv. »Ich dachte, jeder Kontakt zu diesen Leuten wäre abgebrochen.«
»Mir kann niemand vorschreiben, zu wem ich Verbindung halte. Außerdem ist ja Hertas Mutter kurz nach der Geburt ihres Kindes gestorben. Aber das wissen Sie ja. Und nun ist Herta an derselben Krankheit gestorben und hat ein kleines Mädchen von etwa fünf Jahren zurückgelassen.«
»Schließlich gibt es noch den Vater, der für das Kind sorgen kann«, antwortete Werner gleichgültig. Was gingen ihn die fremden Leute an, die er gar nicht kannte und auch niemals kennenlernen wollte.
»Eben nicht«, schluchzte die Köchin plötzlich. »Der ist vor zwei Wochen bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückt. Und nun steht das Mädchen fast ganz allein auf der Welt.«
»Ist es in einem Heim?« fragte Werner mitleidig. Die Geschichte berührte ihn doch mehr, als er zugeben wollte.
»Ja, seit gestern. Vorher hat Marion in bitterster Armut mit ihrer jungen Tante zusammengelebt. Der Vater hat sich aufgrund der Krankheit seiner Frau hoch verschuldet.« Eifrig fuhr sich die treue Helene mit dem Taschentuch über die Augen. Sie stellte zufrieden fest, daß sie den Mann ziemlich beeindruckt hatte.
»Sagen Sie, Helene, woher wissen Sie das eigentlich alles?« Werner Rombold hatte für eine Weile seine eigenen Sorgen vergessen.
»Ich… es ist so«, begann die Köchin gedehnt und überlegte, was sie sagen könnte. Aber es wollte ihr keine plausible Ausrede einfallen, also blieb sie bei der Wahrheit.
»Die Gisela, meine frühere Schulfreundin, wohnt ebenfalls in Maibach, wie Herta mit ihrer Familie. Sie hat mir immer wieder das Neueste berichtet, vor allem, als Herta so schwer krank dalag und Ulrich, deren Mann, fast verzweifelte. Und nachdem die Frau, also Ihre Halbschwester, gestorben war, da war Ulrich nur noch ein Schatten seiner selbst.«
Werner schüttelte den Kopf. So viel Leid gab es auf der Welt, und da haderte er mit seinem Schicksal. Nein, er hatte wahrlich keinen Grund dazu. Irina lebte und war gesund. Darüber mußte er froh sein, auch wenn sie ihn verlassen hatte. Dafür war ihm Holger geblieben.
»Meinen Sie nicht, Sie sollten sich um Ihre kleine Nichte kümmern? Sie muß ein ganz bezauberndes Mädchen sein, die Marion. Und ihre Tante, ich glaube, sie heißt Franziska, hat alles aufgegeben, um für Marion zu sorgen. Sie ist die Schwester von Ulrich.« Die Köchin zögerte einen Moment, bevor sie fortfuhr: »Außerdem müssen Sie zugeben, daß es dem Kind bestimmt schaden wird, wenn es in einem Heim aufwächst.«
»Helene!« rief Werner entrüstet aus. »Was erwarten Sie von mir? Die Leute gehen mich nichts an und Sie auch nicht. Wir hatten nie Kontakt zueinander, sie sollen jetzt selbst sehen, wie sie klarkommen. Jeder ist seines Glückes Schmied«, zitierte er.
Entsetzt schaute die Köchin den Mann an. Dann wandte sie sich schweigend ab und widmete sich dem Mittagessen.
»Sie sind nicht meiner Meinung, stimmt’s?« stellte Werner nach einer Weile fest und erhob sich. »Ich weiß, es klingt sehr hart«, fuhr er fort, als die Frau nicht reagierte, »aber ich habe mir auch alles erkämpfen müssen.«
»Ja, das haben Sie«, bestätigte die Köchin und stützte sich resolut auf dem Tisch auf. »Ihr Vater hat Ihnen ein Vermögen hinterlassen, und von den Büchern, die er schrieb, bekommen Sie auch jetzt noch mehr oder weniger regelmäßig Honorare. Er ließ Sie Malerei studieren, weil Sie das unbedingt wollten. Er hatte nicht einmal etwas dagegen, als Sie diese Irina heirateten, die nichts hatte und nichts war.«
»Mäßigen Sie sich, Helene, sonst können Sie sich nach einem anderen Arbeitsplatz umsehen«, schrie Werner Rombold wutentbrannt, aber die Köchin ließ sich nicht einschüchtern.
»Ich bin jetzt fast sechzig Jahre alt. Und gespart habe ich auch etwas. Wenn Sie also meinen, daß Sie ohne mich auch zurechtkommen, dann packe ich selbstverständlich meine Koffer.« Herausfordernd schaute sie ihm in die Augen, aber Werner wich ihrem Blick aus.
»Entschuldigen Sie bitte«, rang er sich nach kurzem Überlegen ab. »Vielleicht haben Sie sogar recht. Ich glaube, ich war gerade ziemlich herzlos.«
»Das kann man wohl sagen«, antwortete die Köchin ihm, schon wieder fast versöhnt. »In diesem Fall paßt nämlich Ihr kluges Sprichwort nicht. Weder Franziska noch die kleine Marion haben einen Einfluß auf das grausame Schicksal haben können, das sie getroffen hat. Dagegen waren beide machtlos.«
»Ja, ja, Sie haben ja recht. Aber was kann ich dabei tun? Herta ist tot, und dieses fremde Mädchen wird bestimmt keine Hilfe annehmen.«
»Sie haben es ja noch gar nicht versucht.« Rasch wandte sich die Haushälterin ab und lächelte zufrieden vor sich hin. Sie wußte schon jetzt, daß sie gewonnen hatte.
*
»Bitte, Tante Franzi, ich möchte so gern die Puppe mit den langen goldenen Haaren.« Marion schmiegte sich an die junge Frau, die nachdenklich vor dem Schaufenster stehengeblieben war.
Fünf Wochen war es jetzt her, daß sie sich von Manfred Hirzel getrennt hatte, und lediglich drei Wochen hatte sie in dem Kaufhaus gearbeitet. Seit zwei Tagen stand sie wieder auf der Straße, denn die Frau, für die sie die Vertretung übernommen hatte, war aus dem Urlaub zurückgekehrt.
Für Franziska hatte man dann keine Verwendung mehr gehabt. Und auch auf dem Arbeitsamt, wo sie heute vormittag gewesen war, war man nicht sehr zuversichtlich gewesen.
Weihnachten stand vor der Tür, und die junge Frau wußte, daß das Christkind dieses Jahr sehr wenig für Marion bringen konnte. Jedenfalls nicht die hübsche Puppe, die das Kind schon die ganze Zeit bewunderte.
Gerade hatte sie Marion von Sophienlust abgeholt. Sie wollte zusammen mit dem Kind Weihnachten feiern und von vergangenen Zeiten träumen, als Herta und Ulrich noch bei ihnen waren.
Denise war über ihren Plan zwar nicht so erfreut gewesen, aber dann hatte Franziska sie doch überzeugen können, daß es für Marion besser war, wenn sie die Feiertage zu Hause verbrachte in der vertrauten Umgebung.
»Jetzt warte erst einmal ab, Marion«, schmeichelte sie dem Kind, obwohl es ihr schwerfiel. »Schließlich hat das Christkind nicht nur dich zum Beschenken. Für die anderen Kinder muß auch noch etwas übrigbleiben.«
»Aber die Puppe, die möchte ich so gern haben. Kannst du nicht dem Christkind sagen, daß es mir sonst nichts schenken soll, nur die Puppe? Oder soll ich ihm lieber einen Brief schreiben?«
»Du kannst es ja mal versuchen, Marion. Aber sei nicht traurig, wenn du sie dann vielleicht trotzdem nicht bekommst.« Wie gern hätte Franziska ihrer Nichte den großen Wunsch erfüllt, aber so sehr sie auch rechnete, es reichte hinten und vorne nicht. Sie mußte schon froh sein, wenn sie überhaupt leben und die Miete bezahlen konnte.
»Komm, Marion, gehen wir nach Hause. Ich habe schon kalte Füße.« Die Frau zog das Mädchen von dem Schaufenster weg, aber die Blicke der Kleinen wurden noch eine ganze Weile magisch nach hinten gezogen. Immer wieder drehte sich das Kind um und starrte sehnsüchtig zu dem Fenster, hinter dem sie ihre geliebte Puppe wußte.
Es hatte wieder angefangen zu schneien. Auf den Straßen behinderte Schneematsch den Verkehr, und die Stadtverwaltung hatte jetzt, am Nachmittag, bereits die Beleuchtung eingeschaltet, weil es so düster war. Der Himmel hing voller Schneewolken.
Früher hatte Franziska immer schon mindestens eine Woche vorher mit ihren Einkäufen begonnen und dabei eine festliche Stimmung gehabt. Jetzt aber wurde ihr die Trostlosigkeit, in der sie beide lebten, besonders deutlich bewußt. Es war ein Leben ohne Ausweg, ohne Hoffnung darauf, daß es einmal besser werden könnte.
»Bist du traurig, Tante Franzi?« fragte Marion nach einer Weile, als sie die City bereits hinter sich gelassen hatten.
»Wie kommst du darauf, Schätzchen?«
»Du redest überhaupt nichts. Oder habe ich dich geärgert?« Treuherzig schaute das Kind zu Franziska auf.
»Aber nein, Herzchen, du hast mich nicht geärgert. Ich habe nur nachgedacht, was ich mir vom Christkind wünschen könnte«, wich Franziska aus und rang sich ein erwartungsvolles Lächeln ab.
»Weißt du was, Tante Franzi, wir schreiben zusammen einen Wunschzettel, und das Christkind kann sich dann aussuchen, was es uns schenken will.«
»Das ist eine prima Idee, Marion. Gleich, wenn wir nach Hause kommen, werden wir uns hinsetzen und alles aufschreiben.«
Die kleine Wohnung war ungemütlich und kalt, denn Franziska mußte mit Holz und Kohle sparsam umgehen, wenn es noch für diesen Winter reichen sollte.
»Ich mache gleich Feuer an, Marion. Wickle dich inzwischen in die Decke, die noch im Wohnzimmer auf dem Sofa liegt.«
Kaum eine halbe Stunde später erfüllte behagliche Wärme den gemütlich eingerichteten Wohnraum. Franziska hatte Papier und Bleistift geholt. »So, jetzt können wir anfangen«, sagte sie betont munter und rang sich ein fröhliches Lachen ab.
»Also, dann schreib zuerst meine Puppe auf und unterstreiche es mit Rotstift.« Erwartungsvoll beobachtete das Mädchen, wie Franziska in großen Buchstaben Puppe auf das Blatt Papier schrieb.
»So, und jetzt bist du dran. Was wünschst du dir vom Christkind?«
Franziska zuckte die Schultern. Eigentlich hatte sie gar keinen Wunsch, zumindest keinen, den ihr das Christkind erfüllen konnte. Ein Kleid, einen Pullover, Schmuck, das waren alles Dinge, die der Vergangenheit angehörten.
Ohne daß es ihr so richtig ins Bewußtsein drang, schrieb sie unter die Puppe nur ein Wort: Hilfe! Versonnen starrte sie auf das Papier, während Marion versuchte, ihren Wunsch zu entziffern. Da Franziska aber nicht in Druckbuchstaben geschrieben hatte, gelang es dem Mädchen nicht.
»Verrate mir doch, was du dir wünschst, Tante Franzi. Ich habe es dir auch gesagt.« Marion schaute die Tante vorwurfsvoll an.
»Gut, ich werde es dir verraten. Ich wünsche mir, daß du immer so lieb bleibst, wie du jetzt bist, und daß wir immer beisammen sein können, du und ich.«
»Aber das sind wir doch. Du brauchst es dir nicht mehr extra zu wünschen.« Das Mädchen steckte nachdenklich den Daumen in den Mund und legte das Köpfchen mit den dunklen Locken schief.
»Da hast du auch wieder recht, Herzchen. Trotzdem kann es nichts schaden, wenn ich es vorsichtshalber aufschreibe. Dann weiß das Christkind wenigstens Bescheid.«
Immer deutlicher wurde Franziska bewußt, daß es so nicht mehr weitergehen konnte. Sie mußte sich nach einer festen Arbeit umsehen, nicht nur nach einer Urlaubsvertretung. Und wenn das Arbeitsamt ihr dabei nicht helfen konnte, dann blieb ihr eben nichts anderes übrig, als sich selbst darum zu kümmern. Immerhin hatte sie Industriekaufmann gelernt, und ihr Abschlußzeugnis konnte sich sehen lassen.
Franziska Bölz holte tief Luft, aber die eiserne Faust, die ihr Herz zu umklammern schien, lockerte sich nicht. Fast hatte sie das Gefühl, ersticken zu müssen, so hilflos und allein kam sie sich vor.
Und heute empfand sie es besonders schlimm, denn sie mußte immerzu an Weihnachten denken. Wie sollte sie nur die Festtage herumbringen, ohne daß sie verrückt wurde vor Verzweiflung?
Bestimmt war es ein Fehler gewesen, das großherzige Angebot Denise von Schoeneckers auszuschlagen. In Gesellschaft der vielen heimatlosen Kinder hätte sie das Fest der Freude, wie es so schön hieß, bestimmt leichter hinter sich gebracht.
Aber nun war es dazu zu spät. Nachdem sie einmal nein gesagt hatte, wollte sie ihre Entscheidung nicht mehr rückgängig machen.
»Tante Franzi.« Marion zupfte die Frau am Ärmel ihres dünnen Pullovers.
»Hast du mich jetzt aber erschreckt, Herzchen. Was ist denn?«
»Hast du es nicht gehört? Es hat geläutet. Schon zweimal.«
Wie erwachend strich sich Franziska über die Augen. Wer konnte das sein? Der Briefträger war schon längst durch, und zu den Nachbarn hatte sie auch kaum Kontakt.
Müde erhob sie sich. »Ja, ich komme schon«, murmelte sie ohne Interesse und drückte die Türklinke herunter.
Ein Fremder stand draußen und musterte sie mit seinen dunklen Augen ziemlich ungeniert.
Unwillkürlich drängte sich ihr ein Vergleich mit Marion auf, die die gleichen dunklen Augen hatte. Sofort schob sie den Gedanken zur Seite, als der Fremde freundlich grüßte.
»Mein Name ist Werner Rombold. Und Sie sind wahrscheinlich Franziska.«
»Ich heiße Bölz, Franziska Bölz. An der Klingel steht es groß und deutlich.«
Der Mann spürte die Abwehr der jungen Frau, aber das konnte ihn nicht abschrecken. Er hatte Franziska gleich auf den ersten Blick sympathisch und auch reizvoll gefunden. So reizvoll, daß er sie gern näher kennenlernen wollte.
Nun war er seiner Köchin Helene sogar dankbar dafür, daß sie ihm keine Ruhe gelassen hatte. »Sehen Sie doch nach den beiden. Jetzt ist bald Weihnachten, da sollten Sie doch…« Ihm war, als höre er noch immer ihre beschwörende Stimme, die ihm immer wieder dieselben Worte sagte.
O ja, Werner hatte die Frau schon verstanden. Im Laufe vieler Gespräche hatte er das meiste von Herta, seiner Halbschwester, erfahren, und mit einemmal tat es ihm sogar ein bißchen leid, daß er sie nicht kennengelernt hatte. Sie mußte ein wertvoller Mensch gewesen sein.
»Darf ich Sie kurz stören?« begann er zögernd. »Ich hätte etwas Wichtiges mit Ihnen zu besprechen, mit Ihnen und… Marion.«
»Ich wüßte nicht, um was es sich handeln könnte. Sind Sie von der Fürsorge?« Unwillkürlich reckte Franziska ihren Hals, um etwas größer zu erscheinen, und Werner Rombold registrierte es voller Mitleid. Was mußte dieses zierliche, bildhübsche Persönchen schon alles erduldet haben, daß es sofort wie ein Igel seine Stacheln aufstellte, wenn es irgendwie Gefahr witterte?
»Nein, ich bin nicht von der Fürsorge, da können Sie ganz beruhigt sein. Ich bin Hertas Bruder.«
Hätte Werner nicht so rasch reagiert, dann wäre Franziska vor ihm zu Boden gesunken. So aber konnte er sie gerade noch rechtzeitig auffangen und in die Wohnung tragen.
Die junge Frau war leicht wie eine Feder. Das lange dunkle Haar floß wie eine glänzende Flut über seinen Arm.
Sie ist wunderschön, dachte Werner gerührt und hätte sie am liebsten gar nicht mehr losgelassen.
»Tante Franzi!« Entsetzt stürmte Marion auf den fremden Mann zu. »Was hast du mit Tante Franzi gemacht, du böser Mann!« Aufgeregt riß das Kind an seinem Ärmel.
»Nichts, Marion. Deiner Tante ist nur plötzlich schlecht geworden, das ist alles. Sie wird gleich wieder aufwachen.«
Unvermittelt begann das Mädchen zu weinen. »Wird sie jetzt auch abgeholt wie meine Mami? Ich will sie behalten, bitte, bitte, mach sie wieder wach.«
Voller Mitleid nahm der Mann das schluchzende Kind in den Arm, nachdem er Franziska vorsichtig auf das Sofa gebettet hatte.
»Wo ist das Badezimmer? Wir werden ihr einen nassen Lappen auf die Stirn legen, dann wird sie gleich wieder aufwachen, du wirst es sehen.«
»Ich… ich brauche keinen nassen Lappen«, kam es da schwach über die blutleeren Lippen der Frau. »Sind… Sie wirklich Hertas… Bruder, oder erlauben Sie sich einen… schlechten Scherz mit uns?«
»Das wäre wirklich ein sehr schlechter Scherz. Nein, ich habe schon die Wahrheit gesagt. Herta war meine Halbschwester. Aber wir hatten keinen Kontakt zueinander.«
»Und… warum sind Sie jetzt… gekommen?«
Werner Rombach zuckte die Schultern. Er wußte es selbst nicht so genau. Irgend etwas hatte seinen Weg nach Maibach gelenkt. War es Neugierde gewesen?
Da fiel sein Blick auf das Papier, das noch auf dem Tisch lag. »Wunschzettel«, stand als Überschrift.
Der Mann lächelte. Er mußte an Holgers Wunschzettel denken, der in seiner Brieftasche steckte. Wenn er all die Wünsche seines Sohnes erfüllen wollte, dann mußte er noch einiges erledigen, ehe es Weihnachten werden konnte.
Werner Rombold schaute genauer hin. Dann las er das Wort »Puppe« und schmunzelte. Den Wunsch konnte er erfüllen. Aber was bedeutete das Wort »Hilfe«, das darunter stand? Hatte sich Franziska das vom Christkind gewünscht?
Plötzlich wußte Werner, was er zu tun hatte.
Mit ängstlichem Blick beobachtete Marion die beiden Erwachsenen. Dann stürzte sie zum Sofa, auf dem noch immer Franziska lag und versuchte, ihre überstürzenden Gedanken zu sortieren.
»Ich hab’ dich so lieb, Tante Franzi. Du darfst nicht weggehen, niemals, versprichst du mir das?« Marion schluchzte, und auch Franziska konnte nur noch mit Mühe die Tränen zurückhalten.
»Ich habe dich auch ganz schrecklich lieb, Herzchen, und ich verspreche dir, daß wir uns niemals trennen werden«, flüsterte sie und hoffte, daß es der fremde Mann, der sich als Hertas Halbbruder ausgegeben hatte, nicht hören konnte.
Aber Werner hatte es gehört, ließ sich jedoch nichts anmerken. Ein wenig nachdenklich setzte er sich auf einen Stuhl und betrachtete Franziska und das kleine Mädchen, das seine Nichte war.
»Es geht euch beiden ziemlich schlecht, nicht wahr?« Werner streckte seine Hand nach Marion aus, die erschrocken zurückwich.
»Ich wüßte nicht, was Sie das angeht«, konterte Franziska und richtete sich langsam auf. In ihrem Kopf summte und brummte es, als hätte sich ein ganzer Bienenschwarm häuslich darin niedergelassen.
»Das weiß ich auch nicht«, antwortete Werner Rombold verlegen. Seine sonstige Sicherheit war plötzlich verschwunden. Er kam sich vor wie ein getadelter Schuljunge. »Aber Sie werden zugeben müssen, daß Marion mit mir ebenso verwandt ist wie mit Ihnen. Also habe ich auch die gleichen Rechte und Pflichten, für das Kind zu sorgen.«
Franziska Bölz erschrak. War er etwa gekommen, um ihr das Kind wegzunehmen? Das würde sie nie und nimmer zulassen. Sie würde kämpfen wie eine Löwin, das wußte sie schon jetzt.
Werner schien ihre geheimsten Befürchtungen zu ahnen, denn er lachte laut auf. »Nicht das, was Sie denken. Ich will euch beide nicht trennen. Im Gegenteil.«
Das konnte die junge Frau nicht ganz verstehen. Ihr hübsches Gesicht drückte Ratlosigkeit aus, aber irgendwie fühlte sie sich schon bedeutend ruhiger. Vielleicht war das die Hilfe, die sie sich vom Christkind gewünscht hatte. Nur, wie diese Hilfe aussehen würde, das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.
»Ich erinnere mich noch an ein Gedicht, das ich einmal in der Schule gelernt habe. Wie hieß es doch gleich, die Bürgschaft, glaube ich. Und da ist mir eigentlich nur der letzte Satz noch in Erinnerung geblieben.«
Fragend schaute Franziska den Mann an. Widerstrebend mußte sie sich insgeheim gestehen, daß er ihr immer sympathischer wurde, je länger sie mit ihm zusammen war.
»Ich sei, gewährt mir die Bitte…«, begann sie, wurde dann aber von Werner unterbrochen.
»… in eurem Bunde der Dritte«, vollendete er den Reim und streckte erneut seine Hand aus.
Franziska holte tief Luft und legte dann die ihre hinein.
Zuerst schaute Marion ganz verblüfft, aber als ihre Tante ihr dann aufmunternd zunickte, legte auch sie ihre kleine Hand dazu.
*
»Ich habe vorhin mit Frau von Schoenecker telefoniert«, berichtete Werner Rombold am nächsten Morgen, als er gegen zehn Uhr bei Franziska ankam. Er strahlte solchen Elan und Unternehmungsfreude aus, daß auch die junge Frau davon angesteckt wurde.
Obwohl es Franziska vor sich selbst nicht zugeben wollte, hatte sie doch den ganzen Morgen auf ihn gewartet und schon insgeheim befürchtet, daß er es sich wieder anders hätte überlegen können.
Am Vorabend waren sie noch lange beisammengesessen und hatten sich unterhalten, auch, als Marion schon längst im Bett gewesen war. Und als er sich dann weit nach zweiundzwanzig Uhr von ihr verabschiedet hatte, da war Franziska todmüde und zum ersten Mal seit langem wieder glücklich in ihr Bett gesunken.
»Weiß Frau von Schoenecker, daß wir Marions Sachen abholen wollen?« fragte sie etwas ängstlich. Plötzlich kam sich Franziska undankbar vor, weil sie ihre Nichte bereits nach so kurzer Zeit wieder aus dem Kinderheim herausnehmen wollte. Sie wußte, wie sehr Heidi Holsten, das jüngste der Dauerkinder, an Marion hing, und es tat ihr auch von Herzen leid. Aber Denise von Schoenecker mußte verstehen, daß es für sie beide die einzige und beste Lösung ihres Dilemmas war.
»Ja, ich habe es ihr gesagt«, berichtete Werner Rombold und zog seinen Mantel aus. Dann hängte er ihn an die Garderobe. »Ich glaube, sie war ziemlich überrascht. Sie fragte mich, ob das Ihr Wunsch sei und wer ich überhaupt wäre. Sie will sich nachher mit mir unterhalten.« Werner ging ins Wohnzimmer und setzte sich. »Wo ist denn unsere kleine Nichte?«
»Ich habe sie zu Frau Michel geschickt, einer freundlichen Nachbarin, die schon öfter auf sie aufgepaßt hat, wenn es gar nicht mehr anders ging. Ich dachte, es wäre besser, wenn wir allein nach Sophienlust fahren, um die Sachen zu holen. Dann ersparen wir ihr den Abschied von Heidi.«
Franziska hatte ihm gestern noch von Marions Freundin erzählt, und Werner hatte ihr interessiert zugehört. Überhaupt wollte er alles von seiner Nichte und auch von Franziska erfahren.
»Möchten Sie eine Tasse Kaffee trinken? Ich habe erst vorhin welchen aufgebrüht.«
»O ja, das wäre gerade das Richtige für mich. Ich habe fast die ganze Nacht nicht geschlafen«, gestand Werner.
»Meinen Sie, mir ist es besser ergangen?« Franziska lächelte und sah dabei ungewöhnlich reizvoll aus. Ihr herrliches Haar hatte sie im Nacken zusammengefaßt, was sie noch zierlicher und jünger erscheinen ließ.
»Meinen Sie… ich möchte Sie jetzt nicht überrumpeln, aber vielleicht wäre es besser und vor allem einfacher, wenn wir uns duzen würden.« Leicht verlegen erhob sich der Mann und stand nun in seiner ganzen Größe vor Franziska.
»Ich… wenn Sie – wenn du meinst, dann soll es mir auch recht sein.« Sie gaben sich die Hand, und für einen Augenblick versanken ihre Blicke ineinander. Sie spürten beide, wie ein Funke übersprang, und doch bemühten sie sich, ihn zu ignorieren.
»Wir sollten jetzt gehen.« Franziska war die erste, die sich wieder gefangen hatte. Etwas zu hastig entzog sie ihm ihre Hand und fühlte, wie ihr verlegene Röte ins Gesicht schoß.
»Und was ist mit meinem Kaffee?«
»Ja, natürlich, ich bringe ihn gleich.« Leichtfüßig lief Franziska in die Küche und stellte die Isolierkanne auf ein Tablett. Dann legte sie noch eine Scheibe Brot, Butter und die Platte mit dem Aufschnitt dazu und trug es ins Wohnzimmer.
»Das sieht ja phantastisch aus«, staunte Werner. »So ausgiebig habe ich schon lange nicht mehr gegessen.«
Mit gutem Appetit machte er sich über das Frühstück her, das ihm Franziska serviert hatte.
»Ich werde mich inzwischen umziehen.« Wie ein Wirbelwind verschwand Franziska aus dem Zimmer. Sie freute sich unbändig auf das Zusammensein mit Werner Rombold, obwohl ihr nicht ganz wohl dabei zumute war, wenn sie an Sophienlust dachte.
Aber Frau von Schoenecker mußte das verstehen, sagte sie sich immer wieder, und schließlich hatte sie sich so weit beruhigt, daß sie sogar ein leises Lächeln vor sich hin summte.
Werner war bereits mit seinem Frühstück fertig, als sie in einem dicken Wollmantel und mit einer hellblauen gestrickten Mütze vor ihm stand. »So, ich bin reisefertig. Laß das Geschirr nur stehen. Das bringe ich in Ordnung, wenn wir zurück sind.«
Aber Werner hatte die Tasse und den Teller bereits auf das Tablett gestellt und marschierte nun in die Küche. »Kommt ja gar nicht in Frage. Für mich hast du es hereingebracht, also werde ich es auch wieder wegbringen.« Er lachte laut und herzlich, und Franziska fühlte sich zum ersten Mal wieder jung und unbeschwert. Und irgendwie beschlich sie sogar ein Gefühl der Vorfreude auf Weihnachten, das sie schon verschüttet geglaubt hatte.
Als sie auf die Straße traten, schneite es bereits wieder. In dichten weißen Flocken fiel der Schnee zur Erde. Aus irgendeinem Haus drang ein etwas schwermütiges Weihnachtslied.
Franziska blieb stehen und lauschte andächtig. »Zwei Tage noch«, murmelte sie versonnen und lächelte ein bißchen. »Dann ist Weihnachten, und wir werden nicht allein sein.«
»Und wir auch nicht, Holger und ich.«
Das rief Franziska in die Wirklichkeit zurück.
»Ich bin gespannt auf deinen Sohn. Sieht er Marion ähnlich?«
Hastig stieg die junge Frau ein und legte sich dann aufatmend den Sicherheitsgurt um. Es tat ihr leid, daß sie ausgerechnet diese Frage gestellt hatte, denn es war ihr nicht entgangen, wie sich die Miene des Mannes verdüstert hatte.
»Nein, eigentlich nicht besonders«, antwortete der Versicherungsvertreter, als er neben ihr saß. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloß und startete.
»Holger ist zwar auch dunkelhaarig, hat ein schmales Gesicht und einen sensiblen Mund. Seine Augen sind dunkel, fast schwarz, aber wenn er lacht, dann hat er eine verflixte Ähnlichkeit mit Irina.« In seinem Gesicht arbeitete es, und die vertraute Fröhlichkeit war verschwunden.
Franziska schwieg und schaute angestrengt auf die Straße, die schon einige Zentimeter mit Schnee bedeckt war. Sie ärgerte sich, daß sie dieses für ihn offensichtlich schmerzliche Thema berührt hatte.
»Wo ist denn dieses Kinderheim?« unterbrach der Mann nach einer Weile das Schweigen. »Ich kann nirgends die Wegweiser entdecken, von denen du gesprochen hast.«
»Dort vorne mußt du links abbiegen, und dann geht es ein Stück den Berg hinauf. Da sind dann auch die bunten Schilder aus Holz«, gab Franziska gehorsam Auskunft. Sie war froh, daß er ihr nicht krumm nahm, daß sie ihn an seine Frau erinnert hatte.
Offensichtlich wurden sie in Sophienlust schon erwartet, denn sofort wurde die Haustür geöffnet, als sie aus dem Wagen stiegen.
Schwester Regine, eine hübsche blonde Frau, begrüßte sie sehr freundlich. »Frau von Schoenecker ist in ihrem Zimmer. Ich nehme an, Sie werden mit ihr sprechen wollen.«
»Natürlich, Schwester Regine, vielen Dank. Könnten wir vorher Marions Sachen zusammenräumen? Wir haben heute nämlich noch einen weiten Weg vor uns.«
»Selbstverständlich, Fräulein Bölz, dann gehen wir beide in das Kinderzimmer, und Herr…« Sie schaute den Mann fragend an.
»Entschuldigen Sie bitte, ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Werner Rombold ist mein Name. Ich bin Marions Onkel, oder besser ihr Halbonkel. Ich würde das Kind und Fräulein Bölz gern zu mir nehmen, weil ich selbst einen zehnjährigen Sohn habe.«
»Ach, so ist das.« Schwester Regine war sichtlich erleichtert. »Frau von Schoenecker möchte ohnehin zuerst einmal mit Ihnen sprechen, Herr Rombold. Ich werde Sie zu ihrem Zimmer führen.«
Während Franziska schon zu Heidis Schlafraum ging, den diese seit einigen Wochen mit Marion teilte, brachte die Kinderschwester den Mann zum Biedermeierzimmer und klopfte an. Als von drinnen geantwortet wurde, öffnete sie die Tür.
»Herr Rombold ist hier.« Dann zog sich Schwester Regine diskret zurück.
Werner war überrascht von der aparten Erscheinung der schwarzhaarigen Frau, die auf ihn einen noch ziemlich jugendlichen Eindruck machte.
»Guten Tag, Herr Rombold.« Denise erhob sich und reichte dem Mann ihre Hand.
Werner grüßte ebenfalls sehr höflich und setzte sich dann in den angebotenen Sessel. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, was die Verwalterin von ihm wollte, aber er war bereit, ihr auf jede ihrer Fragen zu antworten.
»Sie sind also tatsächlich Marions Onkel?« begann Denise mit einem freundlichen Lächeln.
»Marions Mutter war meine Halbschwester, die ich leider nie kennengelernt habe. Aber Franziska, ich meine Fräulein Bölz’ Erzählungen nach muß sie ein guter Mensch gewesen sein.«
»Leider kannte ich Ihre Schwester ebenfalls nicht. Aber ich kenne Marion inzwischen sehr gut. Sie ist ein liebes, bescheidenes Mädchen, das für jede, auch die allerkleinste Zuwendung dankbar ist. Und Sie wollen das Kind mitnehmen, wenn ich Sie heute morgen am Telefon richtig verstanden habe?«
»Ja, Marion und Fräulein Bölz«, gestand Werner leicht verlegen. Er ahnte die Gedanken der schönen Frau, die sich in ihrem Stuhl zurücklehnte und ihn forschend anschaute.
»Ich habe einen zehnjährigen Sohn, der sich nach einer Bezugsperson sehnt. Seine Mutter hat uns vor einigen Wochen verlassen und ist in die Stadt gezogen. Wir leben ziemlich einsam und zurückgezogen in einem kleinen Ort, wo jeder jeden kennt. Aber das bedeutete Irina nichts. Sie braucht Leben um sich und Abwechslung, weil sie es sonst vor Langeweile nicht aushält.«
Seine Worte klangen bitter, und auch sein Gesicht hatte sich verfinstert. Jetzt entdeckte Denise die Ähnlichkeit des Mannes mit Marion.
Werner Rombold hatte nicht gelogen, das erkannte Denise von Schoenecker, und sie war ungeheuer erleichtert darüber. Vielleicht fand Marion zusammen mit ihrer Tante bei diesem Mann eine neue Heimat.
»Sie trauen mir nicht?« Argwöhnisch runzelte Werner seine Stirn. »Aber ich kann Sie beruhigen. Dem Ruf von Fräulein Bölz wird kein Schaden zugefügt. Außer meinem Sohn und mir lebt noch eine Köchin im Haus. Helene ist fast sechzig Jahre alt«, fügte er noch erklärend hinzu.
»Nun haben Sie die letzten Reste meiner Zweifel zerstreut, Herr Rombold«, gestand Denise lächelnd. »Und bitte, seien Sie lieb zu Marion. Sie hat es wirklich verdient. Wenn man mit fünf Jahren beide Elternteile in so kurzen Abständen verliert, dann ist das das Schrecklichste, was einem überhaupt widerfahren kann. Versuchen Sie, Marion für das Unglück zu entschädigen, das sie getroffen hat. Das Kind wird es Ihnen mit anhänglicher Liebe lohnen, das können Sie mir glauben.«
»Sie dürfen versichert sein, Frau von Schoenecker, daß es Marion und auch ihrer Tante Franzi an nichts fehlen wird. Ich werde für die beiden sorgen, weil sie ja jetzt sozusagen zu meiner Familie gehören. Und außerdem…« Er zögerte einen Augenblick, als getraute er sich nicht, seine Gefühle preiszugeben, »… außerdem wird es uns allen guttun, wenn wieder ein bißchen Leben im Haus herrscht. Es war in den letzten Wochen mehr als einsam bei uns. Und… es ist ja auch Weihnachten.«
In seinem Gesicht arbeitete es, und Denise spürte, wie Mitleid in ihr hochstieg. Gegen dieses Gefühl war sie machtlos, ob es sich wie jetzt um einen erwachsenen Menschen handelte, um ein Kind oder um ein getretenes Tier. In allen Fällen hatte sie das Gefühl, als umklammerte eine eiserne Faust ihren Hals und hindere sie am Luftholen.
»Franziska wird sicher mit Packen schon fertig sein«, bemerkte Werner Rombold ein wenig zu hastig, denn auch ihn hatte eine seltsame Rührung ergriffen, als er so an Weihnachten dachte.
»Letztes Jahr war meine Frau auch nicht zu Hause. Holger war todunglücklich, und nicht einmal die Geschenke konnten ihn aufmuntern. Ich hoffe, daß es dieses Jahr anders wird. Franziska wird… aber ich langweile Sie sicher«, unterbrach er sich dann selbst.
»Aber nein, ganz im Gegenteil«, beeilte sich Denise zu versichern. »Ich freue mich über alles, was Sie mir erzählen. Schließlich möchte ich wissen, wohin unsere kleine Marion zieht, ob sie es gut haben wird bei Ihnen, und… aber das geht mich natürlich nichts an.«
»Franziska soll bei mir ebenfalls ein Heim finden, und Irina wird, falls sie jemals zurückkommen sollte, bestimmt nichts dagegen einzuwenden haben. Vielleicht langweilt sie sich dann auch nicht mehr so zu Hause, wenn sie noch eine erwachsene Frau um sich hat, mit der sie reden kann.«
»Damit könnten Sie recht haben. Ich würde es Ihnen allen jedenfalls von Herzen wünschen. Übrigens«, sie holte aus der Schublade ein Paket, das sie Werner reichte, »das ist das Weihnachtsgeschenk von Sophienlust. Ich hoffe, Marion wird sich darüber freuen. Es ist ein weißer Plüschhase. Sie hat ihn bei Heidi, ihrer Freundin, immer so sehnsüchtig bewundert.«
Denise fiel der Abschied von der Kleinen offensichtlich nicht leicht, obwohl sie sich immer wieder sagte, daß es für das Kind das beste war, wenn es wieder in einer Familie lebte.
Werner bedankte sich gerührt und steckte das Päckchen in seine Tasche, die er sicherheitshalber mitgenommen hatte, falls Marions Sachen nicht alle in dem Köfferchen Platz fanden.
»So, und jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten, Herr Rombold. Wie Sie mir bereits am Telefon sagten, haben Sie einen weiten Weg vor sich. Wir werden nachsehen, ob Fräulein Bölz und Schwester Regine schon fertig sind.«
Auf dem Flur kamen ihnen die beiden Frauen bereits entgegen.
»Heidi ist wirklich ganz unglücklich«, flüsterte Schwester Regine Denise zu.
»Das habe ich mir fast gedacht. Arme Heidi, nun hat sie wieder keine Freundin«, murmelte die Gutsbesitzerin zurück, damit es die Besucher nicht hören konnten. Denise wußte, wie sensibel Franziska war, darum wollte sie ihr das Herz nicht unnötig schwermachen.
Aber Franziska war so mit ihren Hoffnungen und Wünschen beschäftigt, daß sie gar nichts hörte, nicht einmal, als Werner sie ansprach.
»Hast du alles beisammen?« fragte er schließlich zum zweiten Mal, und diesmal reagierte sie.
»Ja, alles. Der Koffer ist nicht einmal voll geworden.«
Plötzlich freute sich Werner Rombold unbändig auf Weihnachten.
*
»Das wird aber ein schönes Bild«, stellte die fünfzehnjährige Irmela Groote fest und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Meinst du das ehrlich, oder willst du mich nur ärgern?« Abschätzend betrachtete der elfjährige Fabian Schöller sein Kunstwerk. Schließlich konnte er ja nicht zugeben, daß er selbst ganz begeistert von dem Bild war, das eine Winterlandschaft darstellte, in der sich viele Kinder mit ihren Schlitten tummelten. Bei genauerem Hinsehen konnte man sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Sophienlust feststellen.
»Warum sollte ich dich ärgern wollen?« fragte Irmela beleidigt zurück. »Ich wollte dir lediglich eine Freude machen. Hätte ich gewußt, daß du es so auffaßt…«
»Entschuldige, Irmela, aber es hätte doch sein können, daß du kein Kunstverständnis hast.« Verschmitzt grinste der Junge das hochgewachsene blonde Mädchen an, das ihm nicht länger böse sein konnte.
»Das schaffst du nie bis morgen abend«, mischte sich jetzt auch Pünktchen ein, die richtig Angelina Dommin hieß. Wegen ihrer Sommersprossen, die sich auf ihrer Stupsnase tummelten, hatten ihr die anderen Kinder dieses Spitznamen gegeben, und mittlerweile hatte sie sich schon so daran gewöhnt, daß sie sich vielleicht nicht einmal angesprochen gefühlt hätte, wenn jemand Angelina zu ihr gesagt hätte.
»Es muß fertig werden, und wenn ich die ganze Nacht daran arbeiten muß. Ich will es unbedingt Tante Isi schenken, und zwar zu Weihnachten und keinen Tag später.«
Die beiden Mädchen lachten. »Na, dann wollen wir dich nicht länger stören«, rief Pünktchen schon im Hinausgehen. »Ich habe übrigens meinen Schal für Tante Isi auch noch nicht ganz fertiggestrickt. Du bist also nicht der einzige, der unter Zeitdruck steht.«
Weihnachten war für die Kinder von Sophienlust immer die schönste Zeit. Da hatte jedes seine kleinen Geheimnisse, womit es den anderen eine Freude machen wollte, und besonders Denise, die von allen nur Tante Isi genannt wurde, wurde an diesem Abend reich beschenkt.
»Was machen wir nur mit Heidi?« fragte Pünktchen die ältere Freundin besorgt. »Sie sitzt schon den ganzen Nachmittag in ihrem Zimmer und ist kaum ansprechbar.«
»Ich kann sie irgendwie schon verstehen«, antwortete Irmela mitleidig. »Immerhin sind wir alle älter als sie und somit doch keine rechten Freunde. Wir müssen zur Schule und haben außerdem ganz andere Interessen als eine Fünfjährige.«
»Ja, ja«, stimmte Pünktchen zu, »da hast du recht. Und außerdem hat sie sich ziemlich schnell an Marion gewöhnt.«
»Sie war aber auch ein außergewöhnlich liebes Mädchen. Mir tut es auch leid, daß sie nicht mehr bei uns ist«, gestand Irmela und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. »Kommst du noch eine Weile mit zu mir?«
Pünktchen nickte. »Mein Schal muß ohnehin noch irgendwo in deinem Zimmer sein. Da kann ich mich noch eine Weile hinsetzen und stricken.«
»Prima. Dabei können wir uns unterhalten. Ich werde jetzt das Blumenbild, das ich für Tante Isi gestrickt habe, einrahmen, dann bin ich mit meinen Geschenken fertig.«
»Ja, dann kann es Weihnachten werden.« Pünktchen lachte und setzte sich auf den Stuhl neben dem Fenster. »Schau mal, es schneit schon wieder. Was Nick jetzt wohl macht?« Erschrocken hielt Angelina die Hand vor den Mund. Hoffentlich hatte Irmela nicht verstanden, was sie aus Versehen ausgeplaudert hatte.
Aber dem war nicht so. »Du magst Nick ziemlich gern, stimmt’s?« Irmela schaute forschend in das Gesicht der Freundin, die feuerrot geworden war.
»Na ja, wie man’s nimmt«, antwortete Pünktchen verlegen und schaute schnell zur Seite. Jeden Moment erwartete sie, daß Irmela sie auslachen würde, aber nichts geschah.
»Ich kann dich schon verstehen«, murmelte Irmela statt dessen verträumt und schaute nun ebenfalls zum Fenster hinaus. »Es ist schon seltsam. Zum ersten Mal in meinem Leben hätte ich auch gern jemanden, an den ich denken kann. Aber ich habe niemanden. Weißt du«, Irmela überlegte einen Augenblick, »eigentlich beneide ich dich.«
»Dazu hast du keinen Grund, Irmela«, sagte Pünktchen und war insgeheim erleichtert. »Immerhin hast du noch deine Eltern, die dich lieben«, sagte das jüngere Mädchen weise. Pünktchen, die schon lange für den eigentlichen Besitzer von Sophienlust, nämlich den sechzehnjährigen Nick, schwärmte, sah sich schon als dessen zukünftige Frau. Dementsprechend verhielt sie sich auch meist, denn Denise war natürlich ihr großes Vorbild.
»Schön«, meinte Irmela versonnen.
»Du bist außerdem sehr hübsch und gescheit.«
»Wenn ich es mir recht überlege, wäre es vielleicht gar nicht so gut für mich, wenn ich immer an einen Jungen denken müßte. Du weißt ja, daß ich Ärztin werden will. Und da sind solche Gedanken nur störend. Sie hindern einen am Lernen.«
Die beiden Mädchen lachten herzlich und widmeten sich wieder ihrer Handarbeit.
Eine Weile arbeiteten sie schweigend und lauschten nur auf die leise Musik, die aus Irmelas Radio erklang. Anneliese Rothenberger sang Weihnachtslieder, und dazwischen wurden von dem Ansager kleine Geschichten vorgelesen.
Es war eine sehr romantische Stimmung, die hier herrschte. Aber Pünktchen hielt es nicht lange aus. Ihr spukte noch immer Heidi im Kopf herum, der ihr ganzes Mitgefühl galt. Entschlossen legte sie ihren Schal beiseite.
»Bist du schon fertig?« fragte Irmela überrascht und schaute auf die Handarbeit der Freundin. »Aber da stecken doch noch die Nadeln drin.«
»Ich will noch einmal rasch nach Heidi sehen. Schwester Regine hat zwar versprochen, bei ihr vorbeizuschauen, ehe sie schlafen geht, aber ich glaube, ich sehe vorsichtshalber auch noch einmal nach.«
Ehe Irmela etwas antworten konnte, war Pünktchen schon verschwunden.
Es war ziemlich schummrig im Flur, denn Schwester Regine hatte nur die Notbeleuchtung angelassen. Aber Pünktchen störte sich nicht daran. Sie war hier zu Hause und hatte keinen Grund, sich zu fürchten.
Leise öffnete das Mädchen die Tür zu Heidis Zimmer. Alles war still, und schon wollte Pünktchen sich wieder zurückziehen, als sie es hörte: ein leises, unterdrücktes Schluchzen.
»Heidi«, flüsterte sie und setzte sich an das Bett des kleinen Mädchens. »Du mußt doch nicht traurig sein, Heidi«, versuchte sie zu trösten.
Aber die Kleine antwortete nicht. Nur das Schluchzen wurde ein wenig lauter.
»Hör doch bitte auf, Heidi«, versuchte sie, das weinende Kind zu trösten.
»Sie ist weg«, schluchzte das Mädchen. »Marion ist weg, und ich bin wieder ganz allein.«
»Aber das stimmt doch gar nicht. Du hast uns alle, Irmela, Angelika, Vicky und Fabian. Und ich bin ja auch noch da. Du siehst also, kleines Dummerchen, daß du wirklich niemals allein sein wirst. Außerdem bekommen wir bestimmt bald wieder ein neues Kind in deinem Alter, mit dem du dann wieder Freundschaft schließen kannst.«
»Glaubst du wirklich?« Heidi wischte sich das Gesicht ab und schaute das ältere Mädchen zweifelnd an. »Aber dann wird es auch wieder abgeholt, so wie Karin und Marion, und dann bin ich auch wieder allein. Warum kann ich denn nicht schon so groß sein wie ihr?«
»Sei froh, daß du noch so klein bist, Heidi«, antwortete Pünktchen etwas altklug und kam sich schon ungeheuer erwachsen dabei vor. »Auch wir haben unsere Probleme, und die sind auch oft ganz schön groß. Das fängt in der Schule mit den Noten an.«
Heidi setzte sich in ihrem Bett auf. Ihre blonden Locken fielen über ihre Schultern. Sie sah aus wie ein kleiner verheulter Engel.
»Na, siehst du, Heidi, nun geht es dir schon ein klein bißchen besser, stimmt’s?«
Die Kleine nickte. »Hm«, gab sie dann voller Überzeugung zu.
»Na also«, meinte das ältere Mädchen zufrieden. »Außerdem wollen wir es Marion doch von Herzen gönnen, daß sie wieder eine Heimat gefunden hat. Sie hat sich bei uns doch nie so richtig wohl gefühlt.«
Heidi nickte, und trotzdem liefen ihr wieder die Tränen über die Wangen. »Schon«, schluchzte sie und faßte nach Pünktchens Hand. »Aber trotzdem.«
»Jetzt wirst du dich schön hinlegen, Heidi, dann machst du die Augen zu und denkst an das Christkind, das morgen kommt. Du wirst sehen, bald ist dein Kummer nicht mehr so groß.«
Artig legte sich das Mädchen hin. »Bleibst du bei mir, bis ich eingeschlafen bin?« murmelte es kaum mehr verständlich. Die Natur forderte ihr Recht, auch wenn sich das kleine Mädchen noch so sehr dagegen sträubte.
Pünktchen mußte nicht mehr lange warten, bis Heidi eingeschlafen war.
*
»So, die Päckchen habe ich bereits alle im Kofferraum verstaut. Marion darf natürlich nicht hineinschauen, sonst ist die ganze Überraschung im Eimer.« Werner Rombold lachte verhalten. »Wo ist die kleine Maus übrigens?«
»Sie sucht noch nach dem Kleidchen von ihrer Gabriele. Nackt kann sie ihre Puppe schließlich nicht mitnehmen.« Franziska lachte ebenfalls, und in ihrer Stimme klang unterdrückter Jubel mit.
Die junge Frau hatte rasch noch ein einfaches Mittagessen auf den Tisch gezaubert. Derweil war Werner noch einmal nach Maibach gefahren und hatte dabei ganz geheimnisvolle Augen gemacht.
»Ein paar Kleinigkeiten muß ich noch besorgen. Außerdem trage ich noch immer Holgers Wunschliste mit mir herum«, hatte er gesagt.
Erst zu diesem Zeitpunkt war Franziska aufgefallen, daß er sie kurz vorher ganz beiläufig nach ihrer Konfektionsgröße gefragt hatte. Ohne sich dabei etwas zu denken, hatte sie es ihm gesagt.
»Wir können dann gleich fahren«, rief Franziska Marion laut zu, die noch immer in ihrem Zimmer beschäftigt war.
»Ich kann das Kleid nicht finden. Hast du es weggeräumt, Tante Franziska?« kam die Antwort, die gar nicht zu ihrer Frage paßte.
»Nein. Das mußt du schon selbst gewesen sein«, rief Franziska zurück und räumte den letzten Topf in den Schrank ein.
»Ich bin froh, daß ich die Wohnung vorläufig so lassen kann. Vielleicht kann mich deine Frau nicht leiden, dann habe ich immer noch eine Bleibe, wohin ich zurückkehren kann. Das beruhigt unheimlich.«
»Vielleicht ergeht es dir aber auch so wie Irina, und du erträgst die Einsamkeit bei uns nicht. Diese Möglichkeit besteht immerhin.«
»Da kennst du mich aber schlecht, Werner«, trumpfte Franziska auf und warf einen raschen Blick in den kleinen Spiegel, der rechts von der Tür an der Wand hing. »Für mich kann es gar nicht einsam genug sein. Aus Vergnügen jeglicher Art mache ich mir nichts. Lieber sitze ich am Abend gemütlich mit einem Strickzeug vor dem Fernsehapparat.«
»Das gibt’s doch nicht. Wie alt bist du eigentlich, Franziska? Neunzig, oder schon hundert Jahre?« Er lachte beinahe überschwenglich.
»Hundertundzehn«, ging sie auf seinen Scherz ein. »Und nächsten Monat werde ich schon hundertundelf.« Sie lachten und alberten noch eine ganze Weile, bis plötzlich Marion in der Küche stand und die beiden Erwachsenen vorwurfsvoll anschaute.
»Hier seid ihr, und ich suche ganz verzweifelt nach dem Kleid«, schimpfte sie. »Da, seht euch nur meine Gabriele an. Ich muß mich ja schämen.«
Werner beugte sich zu dem Kind hinunter und betrachtete ganz ernsthaft die ziemlich demolierte Puppe, zu der der schöne Name Gabriele so ganz und gar nicht passen wollte.
»Weißt du was, wir werden es einfach dem Christkind sagen, daß es dir ein neues Kleid bringen soll. Einverstanden?«
Marion betrachtete ihren neuen Onkel ziemlich skeptisch. »Dazu ist es doch schon zu spät. Es kommt ja morgen schon.«
»Wir sollten es wenigstens versuchen«, widersprach Werner ganz ernsthaft.
»Wie du meinst, Onkel Werner. Aber was mache ich mit Gabriele bis morgen abend? Wenn wir zu dir fahren, dann muß ich ihr doch etwas anziehen, sonst friert sie.«
»Weißt du was, Marion? Ich habe noch ein Stück Stoff von dem Wollrock, den ich mir genäht habe. Darin wickeln wir deine Gabriele ein, und du hältst sie dann ganz fest, damit ihr nicht kalt wird. Bis morgen abend wird es gehen. Und falls das Christkind ihr kein Kleid bringt, dann nähe ich ihr eines.«
Das Mädchen war endlich zufrieden. Mit einem Jubelschrei stürzte es aus der Küche.
»Da muß ich sehen, daß ich unterwegs noch an einem Laden vorbeikomme. Das sehe ich natürlich ein, daß die schöne Gabriele zu Weihnachten ein neues Kleid braucht. Noch viel lieber würde ich ihr aber die Puppe kaufen, die auf ihrem Wunschzettel steht. Weißt du, welche sie damit meint?«
»Natürlich. Jedesmal beim Einkaufen mußte ich mindestens eine Viertelstunde vor dem Schaufenster stehenbleiben und sie bewundern«, gestand Franziska. Sie schaute sich forschend in der Küche um, und dann warf sie auch noch einen Blick in den Kühlschrank.
»Es ist alles ausgeräumt, es kann nichts verderben, während ich nicht mehr da bin«, stellte sie zufrieden fest.
»Weißt du was, Franzi?« Werner Rombold strahlte über das ganze Gesicht. »Ich habe eine Idee. Wenn wir durch Maibach fahren, dann halten wir bei dem Geschäft, in dem es Marions Traumpuppe gibt und du zeigst sie mir. Dann gehst du mit deiner Nichte ein Stück in die andere Richtung, während ich in den Laden gehe.«
»Die Puppe ist aber nicht billig«, wandte Franziska ein. Sie kannte den genauen Preis, weil er ihr schon manches Kopfzerbrechen bereitet hatte. Wie gern hätte sie Marion den Wunsch erfüllt, wenn sie nur etwas mehr Geld zur Verfügung gehabt hätte. So aber träumte sie, genau wie Marion, nur davon.
»Schau, Franzi, es ist doch nur einmal im Jahr Weihnachten. Und was gibt es Schöneres als strahlende Kinderaugen, meinst du nicht auch?«
»Doch, natürlich. Ich mußte nur gerade daran denken, daß ich mir dieses Geschenk nicht leisten kann. Das stimmt mich irgendwie traurig.«
»Aber das muß es doch nicht«, sagte Werner fast zärtlich und trat hinter sie. Dann legte er seine Hände auf ihre Schultern. »Weißt du eigentlich, daß du ein herrliches Haar hast?«
Franziska erstarrte und trat einen Schritt vor, so daß seine Hände von ihren Schultern glitten. Ihr wurde bewußt, daß sie schon längst verloren war, rettungslos verloren. Sie hatte sich in einen verheirateten Mann verliebt.
»Jetzt sollten wir aber wirklich aufbrechen, sonst sind die Läden zu. Wenn du die Puppe wirklich noch kaufen willst, dann wird es höchste Zeit«, lenkte Franziska verlegen ab, weil sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoß.
»Schon gut, ich trete dir nicht zu nahe. Du brauchst wirklich keine Angst vor mir zu haben«, murmelte Werner enttäuscht. Er hatte lediglich ein bißchen Zuneigung gesucht, ein bißchen Wärme. Daß er noch immer mit Irina verheiratet war, vergaß er keinen Augenblick.
Mit raschen Schritten ging er auf das Kinderzimmer zu, dessen Tür er dann geräuschvoll öffnete.
»Was machst du denn noch, Mädchen?« fragte er ungeduldiger, als er eigentlich wollte.
»Bin schon fertig, Onkel Werner. Schau, meine Gabriele hat ein neues Kleid. Das habe ich selbst gemacht«, berichtete Marion stolz und hob ihre Puppe hoch. Schön sah die gewiß nicht aus, aber das Mädchen liebte sie, als wäre sie die schönste der Welt. Die blonden Puppenhaare, die einmal ziemlich lang gewesen waren, hingen zerfranst und strähnig herunter. Die Nase hatte eine kleine aber tiefe Delle, die ihr den letzten Rest ihrer ursprünglichen Schönheit raubte.
Marion hatte ihr um den gedrungenen Körper einige Taschentücher gewickelt und eines um den Kopf gebunden. »Jetzt braucht meine Gabriele nicht mehr frieren«, sagte das Mädchen zufrieden und ließ sich von Franziska in den Mantel helfen.
Werner schüttelte verblüfft den Kopf. Mit einem Schlag war sein Ärger verflogen, dank Marions kindlichem Liebreiz, der ihn einfach überwältigte.
In Maibach lief dann alles so ab, wie es sich Werner Rombold ausgedacht hatte. Marion merkte nicht, daß ihr neuer Onkel die Puppe kaufte, in die sie sich schon lange verliebt hatte. Sie wunderte sich nur, weshalb sie mit Tante Franzi bei diesem schlechten Wetter spazierengehen sollte.
Aber da es nicht allzu lange dauerte, machte sie sich darüber keine weiteren Gedanken. »Mir ist so kalt«, jammerte sie nur, als sie wieder in das Auto einstiegen.
Sie waren noch keine halbe Stunde durch das heftige Schneetreiben gefahren, als sie feststellten, daß das Mädchen eingeschlafen war.
»Es war einfach zuviel für Marion«, murmelte Werner. »Sie hat wirklich Ruhe verdient.«
Auch Franziska mußte mit der Müdigkeit kämpfen, die plötzlich ihre Glieder zu lähmen schien. Sie fühlte sich, als hätte sie gerade einen Dauerlauf durch den Schnee hinter sich. Am liebsten hätte sie jetzt ebenfalls die Augen geschlossen und vor sich hin gedöst. Aber das wollte sie auf gar keinen Fall tun.
»Darf ich das Radio einschalten?« fragte sie, um sich von ihrer Müdigkeit abzulenken.
»Natürlich. Da brauchst du doch nicht zu fragen«, antwortete Werner freundlich. Längst war er sich darüber im klaren, daß er kein Recht hatte, Franziska nahezutreten. Ihre Reaktion war daher die einzig richtige gewesen.
Franziska suchte nach einem guten Sender, und schließlich hatte sie ihn gefunden. Aus dem Radio erklangen stimmungsvolle Weihnachtslieder, die sie nach einer Weile leise mitsummte.
»Gefällt dir die Musik?« forschte Werner und schaute einen Augenblick interessiert zur Seite.
»Natürlich«, antwortete Franziska. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie herrlich wir früher immer Weihnachten gefeiert haben. Zuerst mit den Eltern und dann mit Herta und Ulrich, als sie noch gelebt haben. Aber das ist ja jetzt unwiederbringlich vorbei.«
Er hörte die Trauer in ihrer Stimme, und es tat ihm leid, daß er die Frage gestellt hatte, die sie wieder an ihre verlorene Familie erinnerte.
Aber Franziska wollte erzählen. Sie wollte, daß Werner wußte, wie gut und wie lieb seine Halbschwester gewesen war, die er niemals kennengelernt hatte. Und obwohl es alte Wunden wieder aufriß, berichtete sie ihm mit leiser Stimme von dem Weihnachtsbaum, den sie immer zusammen mit Herta geschmückt hatte und von dem Braten, den die junge Frau und Mutter so gut zuzubereiten verstand. Ja, Herta war die geborene Hausfrau gewesen, die es verstanden hatte, ihre Familie zu verwöhnen. Auch Franziska hatte sie zur Familie gezählt, und das rechnete ihr die junge Frau heute noch hoch an.
»So etwas hat es bei uns nie gegeben«, erzählte Werner spontan. Er wußte nicht, warum er von Irina erzählte, er hatte einfach das Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen. Das war er Franziska und vor allem auch sich selbst schuldig.
»Meist verschwand Irina ein paar Tage vor Weihnachten. Sie brachte dann die Geschenke für Holger in mein Zimmer und trug mir auf, sie dem Jungen unter den Baum zu legen. Sie selbst hielt die Einsamkeit gerade im Winter nicht aus.«
»Aber sie hatte doch euch beide, ihre Familie«, warf Franziska ungläubig ein.
»Anscheinend genügte ihr das nie. Immer wieder ließ sie uns allein, und ich fragte mich oft, was ich denn eigentlich falsch machte. Andere Männer waren doch auch fähig, ihre Frauen zu halten. Ausgerechnet ich schien da eine wenig glorreiche Ausnahme zu sein.« Franziska hörte die Bitterkeit in seiner Stimme heraus, und Mitleid ergriff sie.
Es mußte schrecklich sein, wenn man das Gefühl hatte, sein Leben vertan zu haben. Und genauso ein Empfinden schien in Werner Rombold zu wüten, denn seine Lippen waren zusammengepreßt, und seine Wangenmuskeln zuckten.
»Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Werner. Sicher gibt es solche Frauen, die ohne das schillernde Leben in einer Großstadt nicht leben können.«
»Glaubst du?« fragte er zweifelnd und bemühte sich, sich auf den schleichenden Verkehr zu konzentrieren, der wegen des vielen Schnees nur noch langsam vorwärtskam.
»Da bin ich sicher. So wie du die Einsamkeit vorziehst, weil du die Ruhe und Beschaulichkeit brauchst, so kann Irina gerade in diesem ländlichen Frieden nicht richtig durchatmen. Irgendwie kann ich sie schon verstehen, obwohl ich nicht mit ihr tauschen möchte.«
»Du bist ein seltsames Mädchen, Franzi. Es ist schade, daß wir uns nicht schon zwölf Jahre eher kennengelernt haben«, sagte er, ohne nachzudenken.
Da mußte Franziska aber doch lachen. »In der Zeit hättest du bestimmt keine Freude an mir gehabt. Damals war ich nämlich erst zwölf Jahre alt.«
»Stimmt.« Werner warf den Kopf zurück und lachte gekünstelt auf. »Jetzt wird mir erst bewußt, daß ich gegen dich eigentlich schon ein alter Mann bin.«
Sie hatten die letzten Häuser der Stadt schon lange hinter sich gelassen. Endlich tauchten vor ihnen einige verstreute Bauernhäuser auf.
»Jetzt haben wir es bald geschafft«, sagte der Versicherungsvertreter aufatmend. »Helene wird bestimmt schon mit dem Abendessen auf uns warten.«
Nun wurde es Franziska Bölz doch ein wenig mulmig zumute. Wie würden sie die übrigen Hausbewohner aufnehmen? Mußten sie und Marion ihnen nicht wie Eindringlinge, wie Habenichtse vorkommen, die sich auf anderer Leute Kosten ein angenehmes Leben bereiten wollten?
Der kleine Ort zeigte sich von seiner besten Seite. Ruhig und beinahe wie verlassen lagen die Gehöfte da. Nur ein einsamer Hund bellte heiser, als sie an ihm vorbeifuhren.
»Das ist Bingo«, klärte der Mann seine Gäste auf. Marion rieb sich verschlafen die Augen, denn sie war gerade eben erst aufgewacht.
»Darf ich mit dem dann auch spielen?« fragte sie freudig erregt.
»Das glaube ich nicht, daß das geht. Bingo ist ein Wachhund und nicht an Kinder gewöhnt. Übrigens ist dort vorne, wo der Rauch aufsteigt, euer neues Zuhause. Hoffentlich gefällt es euch.«
Mit heftig klopfendem Herzen starrte Franziska in die Schneelandschaft, aber weder ein Haus noch den Rauch konnte sie erkennen. Etwas anderes aber stellte sie fest, nämlich, daß sie sich jetzt schon so wohl hier fühlte, als hätte sie nie woanders gelebt.
Ja, hier konnte man leben und glücklich sein. Plötzlich sah Franziska optimistisch in die Zukunft, die ihr noch vor achtundvierzig Stunden grau in grau erschienen war. Und das alles verdankte sie dem Mann neben ihr: Werner Rombold.
Es hatte aufgehört zu schneien. Ab und zu sogar stahlen sich ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolken hindurch. Die weiße Decke glitzerte und funkelte, als hätte jemand unzählige Perlen ausgestreut. Rundherum war unberührte Natur.
Einige Amseln saßen auf den kahlen Apfelbäumen. Sie hatten ihre Federn aufgestellt und die Köpfe unter den Flügeln vergraben, um sich so gegen die Kälte zu schützen.
»Es… es ist herrlich hier«, jubelte Franziska und konnte sich gar nicht satt sehen. »So friedlich«, stellte sie dann etwas leiser fest. »Hier werden wir glücklich sein.«
Dann entdeckte sie das schmucke Landhaus, das ganz einsam auf einer kleinen Anhöhe stand. Tatsächlich stieg aus dem Kamin grauer Rauch, der sich nur langsam in der kalten Winterluft verteilte. Ein dunkler Holzzaun grenzte das große Grundstück von dem übrigen Land ab, und vereinzelt standen niedrige Tannen im Vorgarten. Dicke Schneemützen lagen auf deren Ästen, die sich unter der Last bogen. Der Plattenweg zum Haus hin war frisch gefegt.
Werner stellte das Auto vor dem Holztor ab, auf dessen Pfosten sich ebenfalls hohe Schneehäufchen türmten. »Ich muß nachher noch einmal in den Ort fahren und noch eine Kleinigkeit besorgen. Bestimmt hat auch Helene noch einige Aufträge für mich, denn zum Laufen ist es ihr zu weit«, erklärte der Mann.
»Dann… dann läßt du mich allein?« fragte Franziska etwas ängstlich. »Was ist, wenn Helene…« Sie sprach nicht weiter. Auf einmal fürchtete sie um ihr neu entdecktes Paradies, aus dem sie womöglich wieder vertrieben wurde.
»Helene ist eine Seele von einem Menschen. Und außerdem war sie es ja, die mich zu dir geschickt hat. Also mache dir bitte keine unnötigen Sorgen. Es wird sich alles finden.« Werner holte aus dem Kofferraum die beiden Taschen, in die Franziska das Nötigste eingepackt hatte und trug sie ins Haus.
Nach wenigen Sekunden kam eine ältere, ziemlich beleibte Frau heraus, die beide Arme weit ausbreitete. »Ich kann es noch gar nicht glauben«, rief sie immer wieder, bis sie schließlich vor Franziska und Marion schwer atmend stehenblieb.
Die junge Frau war von diesem Empfang überwältigt. Damit hatte sie natürlich nicht gerechnet. Herzlich lächelte sie die Köchin an und streckte ihr die Hand entgegen. »Vielen Dank, Frau Helene, daß Sie… daß Sie…« Verlegen brach Franziska ab.
»Herzlich willkommen, ihr beiden«, schnaufte die treue Seele und ergriff Franziskas Hand, als wollte sie sie nie wieder loslassen. »Außerdem heiße ich für euch ganz einfach Helene und du, wenn’s recht ist. Schließlich habe ich Herta ganz gut gekannt, auch wenn es die Rombolds niemals wissen durften.«
»Ich freue mich riesig, daß ich mit Marion hier sein darf. Wir wußten wirklich nicht mehr ein noch aus, so hoffnungslos war unsere Situation«, gestand Franziska und dachte an Werners Worte.
Also Helene hatten sie es zu verdanken, daß sie jetzt hier waren. Franziska schaute die Frau genauer an, die noch immer ihre Hand hielt.
Helene strahlte so viel mütterliche Wärme aus, daß sie sich am liebsten in ihre Arme gestürzt hätte. Franziska hatte schon sehr bald die Mutter verloren, die sie manchmal auch heute noch vermißte.
»Kommt doch erst einmal herein. Die Kälte ist ja kaum auszuhalten.« Die Köchin nahm Marion auf den Arm und trug sie ein Stück. »Das Kind ist leicht wie eine Feder. Aber der Mutter ist sie wie aus dem Gesicht geschnitten«, stellte die Frau fest.
»Ja, sie sieht Herta ziemlich ähnlich«, mußte Franziska zugeben. »Und auch Herrn Rombold.«
»Das stimmt«, rief die Frau überrascht aus. »Sie hat die gleichen dunklen Haare und die blauen Augen wie Werner. Er kann eine Verwandtschaft mit Marion also nicht leugnen.«
Im Landhaus war es wunderbar warm. Franziska rieb sich die steifen Hände. »Ist dir auch kalt, Herzchen?« fragte sie Marion, die noch immer auf Helenes Arm thronte.
»Jetzt nicht mehr, Tante Franzi. Hier oben ist es schön warm.« Offensichtlich hatte das Kind die mütterliche Köchin sofort ins Herz geschlossen, denn es hatte ihre dünnen Ärmchen, die in dem alten, schon etwas ausgebleichten Mantel steckten, um den Hals der Frau geschlungen, als wollte sie diese nie wieder loslassen.
»Die Zimmer sind schon seit gestern gerichtet. Gleich als Werner losgefahren ist, habe ich alles in Ordnung gebracht. Ich wußte doch, daß er euch mitbringen würde«, berichtete die Frau eifrig und steuerte zielstrebig die Küche an.
Neugierig schaute sich Franziska um. Die Diele war geschmackvoll eingerichtet, alles aus dunkel gebeiztem Holz. Werners Hut und Mantel sowie ein bunter Schal, der vermutlich Irina gehörte, hingen am Haken.
Die junge Frau verspürte einen leisen Schauder, der ihr über den Rücken jagte. Franziska kannte Irina nicht, und trotzdem fürchtete sie sich vor ihr. Oder vielleicht gerade deshalb?
Die Köchin schien ihren starren Blick bemerkt zu haben.
»Das ist noch von Werners Frau. Ich muß vergessen haben, es wegzuhängen. Irina ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Na ja, schade ist es nicht um sie. Sie hat ihren Mann nur unglücklich gemacht mit ihren Eskapaden.«
Das Thema berührte Franziska peinlich und doch wartete sie begierig darauf, mehr über Werners Frau zu erfahren. Aber Helene tat ihr den Gefallen nicht.
»Ich nahm an, daß ihr alle etwas Warmes zu Abend essen wollt. Darum habe ich eine Gulaschsuppe mit viel Fleisch vorbereitet und dazu frische Brötchen gebacken. Es ist zwar noch ein bißchen zu früh fürs Abendessen, aber ihr habt sicher einen Bärenhunger.«
»Ja, schon«, gestand Franziska und lächelte schüchtern.
»Ich will auch essen«, mischte sich Marion ein und zappelte. »Laß mich bitte herunter, Helene.« Sie drückte der Frau noch einen feuchten Kuß auf die faltige Wange, dann stand sie wieder auf festem Boden.
»Gulaschsuppe gab es bei uns schon lange nicht mehr. Ich habe Hunger.« Fröhlich klatschte das Kind in die Hände und marschierte hinter Helene in die geräumige Wohnküche.
Auch dieses Zimmer war im rustikalen Stil eingerichtet und strahlte wohlige Gemütlichkeit aus.
»Was habe ich gerade gehört? Gulaschsuppe gibt es?« Werner rieb sich begeistert die Hände. Er hatte sich umgezogen. Die mausgraue Hose und der dunkelblaue Wollpullover verliehen ihm ein sportliches Aussehen.
Franziskas Herz machte ein paar rasche Schläge. Jetzt bemerkte sie erst, daß der Mann ziemlich große Hände und breite Schultern hatte. An sie konnte man sich bestimmt gut anlehnen und sich trösten lassen.
»Willst du dich nicht auch frisch machen und dir etwas Bequemes anziehen? Frieren wirst du bei uns bestimmt nicht.« Der Mann war ehrlich besorgt um ihr Wohlergehen.
»Wie ich Helene kenne, hat sie bestimmt wieder einen großen Topf voll gekocht. Da werdet ihr beide ordentlich zulangen müssen, um sie nicht zu verärgern.«
»Seien Sie still, Werner«, tadelte die Haushälterin und strahlte über das ganze Gesicht. »Jedenfalls braucht niemand zu hungern.«
»Komm, Franzi. Nimm Marion auch gleich mit. Sie möchte bestimmt ihr kleines Reich sehen, das Helene für sie auserwählt hat. Die Möbel stammen noch aus meiner Kinderzeit. Sie sind noch ziemlich gut erhalten.«
Helene richtete inzwischen die Gulaschsuppe im Eßzimmer an, während Werner mit Franzi und Marion die Treppe hinaufstieg.
»Vor zwei Jahren habe ich den Dachboden ausgebaut, trotz heftiger Proteste von Irina. Heute bin ich froh, daß ich es damals getan habe. So habt ihr beide nämlich fast das ganze obere Stockwerk für euch. Nur Holger hat sein Zimmer noch hier oben. Aber der Junge ist sehr ruhig, fast zu ruhig für sein Alter.«
In dem Dachgeschoß standen sie dann einem hübschen dunkelhaarigen Jungen gegenüber, der sie forschend musterte.
Im ersten Augenblick erschrak Franziska etwas, denn sie glaubte, in den dunklen Augen des Kindes Ablehnung zu lesen.
Zuerst schien er noch zu überlegen, aber dann streckte der Junge seine Hand aus. »Ich bin Holger«, sagte er einfach und verzog seinen Mund zu einem schüchternen Lächeln.
*
Monatelang hatte Werner Rombold schon nichts mehr von Irina, seiner Frau, gehört. Sie war wie vom Erdboden verschwunden. Anfangs hatte sie ihm noch sehr gefehlt. Oft fragte er sich in den einsamen Nächten, was er falsch gemacht hatte. Vielleicht lag die Schuld doch mehr bei ihm, als er sich eingestehen wollte.
Dann aber beruhigte er sein Gewissen, indem er sich sagte, daß sie mit ihm darüber hätte sprechen können. Zumindest ihrem Sohn zuliebe hätte sie es noch einmal versuchen müssen, das wäre sie Holger schuldig gewesen. Aber nein, sie hatte es vorgezogen, sang- und klanglos zu verschwinden.
Dank Franziskas liebevollem Einsatz wurde das Weihnachtsfest ein voller Erfolg. So glücklich hatte Werner seinen Sohn schon lange nicht mehr gesehen. Zuerst hatten sie gemeinsam panierten Fisch und Kartoffelsalat gegessen, den Helene ausgezeichnet zubereitet hatte. An Feiertagen war es im Hause Rombold üblich, daß die Köchin mit am Familientisch aß.
So kam es, daß es ziemlich lustig zuging und viel gelacht wurde. Alle genossen das traute Beisammensein, und Helene klopfte sich im Geist auf ihre stolzgeschwellte Brust, weil sie alles so trefflich organisiert hatte.
Übermütig tanzten die Kinder um den strahlenden Lichterbaum, denn die Geschenke waren dieses Jahr besonders reichlich ausgefallen. Für Marion war es ohnehin ein kleines Wunder, daß sie ihre geliebte Puppe aus dem Schaufenster nun doch noch bekommen hatte.
»Siehst du, Tante Franzi, hättest du dir nur auch mehr gewünscht«, trumpfte sie mit einem mitleidigen Blick auf die junge Frau auf, die ihre Hände in den Schoß gelegt hatte und glücklich auf die beiden Kinder schaute.
Der Wunschzettel fiel ihr wieder ein. »Hilfe« hatte sie damals darauf geschrieben. Damals – so lange war es noch gar nicht her. Erst drei Tage waren seit jenem schwarzen Freitag vergangen, als sie vor Sorgen weder ein noch aus gewußt hatte. Und nun war sie hier in diesem herrlichen Haus und hatte nichts weiter zu tun, als sich um die beiden Kinder zu kümmern. Und das tat sie von Herzen gern.
Der Winter brachte viel Schnee, Kälte und auch Stürme. Oft konnte Franziska das Haus nicht verlassen. Sie war froh, daß Holger mit dem Bus zur Schule fahren konnte.
Ihre einzige Abwechslung in dieser trüben Zeit waren gelegentliche Fahrten in die Stadt, wenn Werner sie dazu einlud. Dann deckte sie sich mit Wolle und Stoffen ein, die sie dann an den langen Tagen verarbeitete.
In dieser Zeit wuchsen die Menschen im Landhaus zu einer Einheit zusammen. Einer brauchte den anderen, und als das Frühjahr langsam Einzug hielt, hatte sich in Werners Herz einiges geändert. Er sah die Welt und vor allem sein Leben mit anderen Augen.
Aber auch Franziska war über den Winter ein anderer Mensch geworden. Sie hatte wieder gelernt, das Leben zu lieben. Die Tage hatten wieder einen Sinn für sie, und jede Stunde war ein Stück ihrer Zukunft, die wieder bedeutungsvoll war.
Das alles hatte sie Werner zu verdanken. Werner Rombold, der sie aus der Einsamkeit und auch aus der Armut gerissen hatte.
*
»Schau nur, Tante Franzi, der erste Huflattich«, jubelte Holger und kniete sich am Wegrand nieder. Es war Mitte März, und die Sonne lugte verstohlen zwischen einzelnen grauen Wolken hindurch.
Marion lief jauchzend zu dem Jungen und kniete sich nun ebenfalls hin. »Darf ich ihn abpflücken?« fragte sie und schaute treuherzig zu ihrer Tante auf.
»Nein, Herzchen, das wäre schade. Weißt du, die Bienen warten nach dem langen Winter auf ihr Futter, damit sie wieder Honig machen können.«
»So viel Honig machen die aus dem einen Huflattich?« fragte Marion ungläubig. Sie richtete sich wieder auf und legte ihr Köpfchen schief. Ihre dunklen Augen blickten forschend zu der Frau auf.
»Aber das habe ich dir doch schon erklärt«, mischte sich jetzt Holger ein. »Aus jeder Blüte nimmt die Biene ein bißchen, und wenn alle Bienen dann ihren Honig in die Waben gebracht haben, dann kommt der Mann, dem das Volk gehört, und schüttet den Honig in Gläser.«
Franziska lächelte. Die beiden Kinder vertrugen sich so gut, als wären sie Geschwister. »Kommt, ihr beiden, gehen wir wieder nach Hause. Ich glaube, es wird bald Regen geben. Dort hinten kommen schon ganz schwarze Wolken. Wir haben keine Schirme dabei.«
Ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr sagte Franziska, daß es ohnehin höchste Zeit wurde, umzukehren, wenn sie zum Abendessen rechtzeitig daheim sein wollten. Sicher war Werner schon zurück von der Arbeit. Er hatte sein Büro in der Stadt noch beibehalten, aber zum kommenden Jahresende gekündigt, weil er nun doch keinen Sinn mehr dahinter sah. Er brauchte das Geld nicht, und außerdem war er jetzt wieder so gern zu Hause, daß er am liebsten gar nicht mehr fortgegangen wäre.
Franziska Bölz lächelte versonnen, als sie sich an ihr Gespräch am Vorabend erinnerte. Werner war sehr lieb gewesen und irgendwie nachdenklich.
»Seit du bei uns bist, hat sich unser ganzes Leben verändert. Es ist nicht mehr so leer wie früher, als Irina noch hier war.« Bewundernd hatte sein Blick an ihr gehangen, aber Franziska hatte ihm vor Aufregung nicht antworten können. Was hätte sie auch sagen sollen, schließlich war Werner Rombold verheiratet.
Und dann, etwas später, war doch das passiert, was sie immer gefürchtet hatte: Er hatte sie in den Arm genommen und zärtlich geküßt. Und sie hatte seine Küsse auch noch erwidert.
»Ich werde mich von Irina trennen«, hatte Werner ihr versprochen und sie festgehalten, als wäre sie sein Rettungsanker.
Aber Franziska hatte abgelehnt. Sie wollte nicht der Scheidungsgrund sein. Doch Werner hatte ihre Bedenken mit einer Handbewegung zerstreut.
Überrascht schaute Franziska auf. Sie war so in Erinnerungen versunken gewesen, daß sie gar nicht gemerkt hatte, daß sie schon fast am Landhaus angekommen war. Irgend etwas hatte sie aus ihren Gedanken gerissen.
Dann fiel es ihr auf. Vor dem Tor parkte ein kleines rotes Auto, das vorhin, als sie gegangen war, noch nicht hier gestanden hatte. Wer konnte denn da gekommen sein? Werner hatte jedenfalls nichts von einem erwarteten Besuch erwähnt.
Leise schloß sie die Haustür auf und schickte die Kinder dann in ihre Zimmer hinauf. Irgendein inneres Gefühl sagte ihr, daß ihr eine unangenehme Überraschung bevorstand, aber sie konnte sich nicht erklären, was es sein konnte.
Etwas zaghaft klopfte sie an die Wohnzimmertür und drückte auf das »Herein« von Werner die Klinke runter. Zuerst sah sie nur den Mann, aus dessen Gesicht alles Blut gewichen zu sein schien, als ob er einen Geist gesehen hätte.
Und dann sah Franziska sie: Irina! Es mußte Irina sein, denn nach Werners Beschreibung gab es daran gar keinen Zweifel.
Franziska erstarrte innerlich, obwohl ihr Mund sich zu einem verbindlichen Lächeln verzog. Nun war alles aus. Werner war für alle Zeit verloren, das sah sie an seinem Gesicht.
»Das ist Franziska, von der ich dir vorhin schon erzählt habe«, begann der Mann jetzt mit seltsam spröder Stimme zu sprechen.
»Endlich lerne ich Sie, oder besser dich kennen, nachdem wir ja auch irgendwie verwandt sind. Mein Mann hat mir die ganze Zeit nur von dir vorgeschwärmt.« In den wasserblauen Augen der Frau blitzte es zynisch auf.
Franziska hatte Mühe, sich unauffällig zu benehmen. Am liebsten wäre sie jetzt in ihr Zimmer hinaufgerannt und hätte hysterisch angefangen zu weinen. Aber das ging ja nicht, sie mußte sich beherrschen.
Niemand sollte sehen, wie es in ihr tobte und zerrte, daß sie glaubte, ihr Herz müßte zerspringen. Niemand sollte ihren Kummer kennen. Dieses letzte Restchen Stolz mußte sie sich bewahren. Sie hatte schließlich von Anfang an gewußt, daß Werner bereits verheiratet war. Aber dem Herz konnte man nicht gebieten.
»Ich freue mich auch«, murmelte sie wenig überzeugend und reichte der gutaussehenden Frau die Hand. »Werden Sie – wirst du jetzt für immer hierbleiben?« fragte sie dann stockend.
»Natürlich, das ist immerhin mein Heim, und außerdem liebe ich meinen Mann und Holger. Wo steckt der Junge überhaupt?« fragte Irina dann, zu Werner gewandt.
Der zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Franziska war mit den Kindern spazieren, seither habe ich Holger nicht mehr gesehen«, gab er willig Auskunft. Seine Stimme klang gleichmütig, aber Franziska spürte die Erregung, die von ihm Besitz ergriffen hatte.
»Holger ist oben. Er wollte bis zum Abendessen noch ein wenig lesen«, sagte Franziska, die sich plötzlich wie eine bezahlte Haushaltshilfe vorkam. Irina verstand es, Menschen, die sie nicht mochte, so herablassend zu behandeln, daß es schon fast beleidigend war.
»Würdest du ihn bitte herunterholen? Ich finde, er sollte seine Mutter begrüßen. Bestimmt wird Holger sich freuen wie ein Schneekönig«, tat Irina überheblich und zündete sich eine Zigarette an.
Werner runzelte mißmutig die Stirn. Dann erhob er sich und ging zur Tür. »Franziska wird müde sein. Ich werde Holger holen, wenn du nichts dagegen hast.«
Irina lachte aufreizend. »Und wenn doch?«
Ihre Augen funkelten, und die Hand, mit der sie die Zigarette hielt, zitterte leicht.
Aber Werner reagierte nicht darauf. »Du entschuldigst uns für eine Weile?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er Franziska am Arm und zog sie mit sich. »Du solltest dich vor dem Essen eine Weile hinlegen. Schließlich warst du den ganzen Tag auf den Beinen.«
Willig ging sie mit ihm. Was hätte sie sonst auch anderes tun sollen? Sie konnte auf jeden Fall nicht länger mit Irina in einem Zimmer bleiben. Sie hätte deren Anblick und das selbstgefällige Getue nicht ertragen, das wußte sie.
»Was sollen wir nur tun, Franzi?« flüsterte Werner aufgeregt. »Ich kann mich nicht mehr von Irina scheiden lassen.«
»Das habe ich auch nie von dir verlangt, Werner«, flüsterte Franziska Bölz zurück, obwohl mit einem Schlag all ihre Hoffnungen zerstört waren. Insgeheim hatte sie natürlich mit dem reizvollen Gedanken gespielt, Werners zweite Frau zu werden. Denn daß Irina seiner nicht würdig war, das hatte Franziska in den letzten Minuten klar erkannt.
Aber offensichtlich war Werner anderer Meinung, und das enttäuschte das Mädchen mehr, als sie vor sich selber zugeben konnte. Werner war der Frau verfallen, ihren raffinierten Verführungskünsten und ihrem gespielt unschuldigen Augenaufschlag.
Sollte sie sich so in Werner getäuscht haben? Entschlossen öffnete Franziska die Tür zu ihrem Zimmer. »Natürlich werde ich sofort Marions und meine Sachen zusammenpacken und verschwinden. Zum Glück habe ich meine Wohnung in Maibach noch. Und eine Arbeit werde ich sicher auch finden.«
»Bitte, Franzi, doch nicht so. Laß dir doch erklären…«
»Es bedarf keiner Erklärungen. Deine Frau ist zurückgekehrt und wird sich wieder um ihr Kind kümmern, so wie es sich gehört.«
»Und du kannst Holger und… mich… so einfach verlassen?« fragte Werner Rombold traurig. »Und ich dachte…«
»So, du dachtest«, antwortete Franziska heftig, und ihr Gesicht rötete sich vor Erregung. »Was ich gedacht habe, das interessiert dich natürlich nicht. Ich wäre für dich ein bequemes Spielzeug geworden, wenn deine Frau nicht rechtzeitig zurückgekommen wäre.«
»Du irrst dich, Franzi, ich hätte dich niemals… ich meine…« Verwirrt brach er ab.
»Ist schon in Ordnung. Morgen reisen wir ab, dann ist euer häuslicher Friede wiederhergestellt.« Müde winkte Franziska ab, als er etwas sagen wollte. »Es gibt nichts mehr zu sagen, nur, daß ich dir sehr dankbar bin, daß du uns in deinem Haus eine so schöne Zeit bereitet hast. Bitte, sage Holger einen herzlichen Gruß von mir und gib ihm noch einen Kuß. Ich könnte es nicht ertragen, ihm Lebewohl sagen zu müssen.« Sie kämpfte mit den Tränen. Noch vor einer Stunde war sie unendlich glücklich gewesen. Nun war mit einem Schlag alles zu Ende.
»Jetzt sei einmal vernünftig, Franzi, und laß mich einen Augenblick in dein Zimmer. Du hast ein Recht darauf, alles zu erfahren, denn du glaubst doch, daß ich Irina noch immer liebe.«
»Natürlich, sonst…«
Werner ließ das Mädchen nicht ausreden. Entschlossen schob er Franziska in ihr Zimmer, das er dann selbst betrat. Leise schloß er die Tür.
»So«, stellte er aufatmend fest, »und jetzt mußt du mir zuhören, ob du willst oder nicht. Ich kann mich von Irina nicht scheiden lassen. Sie ist zurückgekehrt, weil sie krank ist, unheilbar krank. Eben hat sie es mir gestanden.«
Jetzt erst merkte Franziska, daß Werner bleich war bis zum Haaransatz. So verzweifelt hatte sie den Mann noch nie gesehen. Seine Worte jedoch waren an ihr vorbeigerauscht, als gingen sie sie gar nichts an.
»Hast du nicht gehört? Irina hat nur noch ein paar Jahre zu leben, und die möchte sie hier verbringen, in der Einsamkeit und bei ihrem Kind. Soll ich ihr diesen letzten Wunsch denn abschlagen? Würde es dann nicht heißen, ich hätte mich von ihr getrennt, weil sie zum langsamen Sterben verurteilt ist? Nein, Franzi, das kann ich nicht.« Verzweifelt fuhr er sich mit den Fingern durch sein dunkles Haar. Er bot wirklich ein Bild des Jammers.
»Das… das habe ich natürlich nicht gewußt«, gestand Franziska mit bebender Stimme. »Sonst hätte ich nicht so mit dir gesprochen. Du… du tust mir leid.« Betroffen senkte sie den Kopf. »Was fehlt ihr denn? Ich meine, wenn du sagst, daß sie nur noch ein paar Jahre zu leben hat, dann muß es ja…«
»Du hast recht. Die Ärzte haben Magenkrebs bei ihr festgestellt. Operieren kann man nicht mehr, dazu ist es bereits zu spät.«
»Trotzdem, Marion und ich werden nach Maibach zurückgehen. Es wird für uns alle das beste sein, wenn wir beide uns nicht mehr wiedersehen.«
»Ich werde dich und die Kleine sehr vermissen. Ihr seid außer Holger alles, was ich habe, das mußt du mir glauben, Franzi. Ich… ich liebe dich, obwohl ich kein Recht dazu habe, es dir zu sagen. Ich werde alles tun, damit ihr in Maibach keine Not zu leiden braucht.«
»Wir benötigen dein Geld nicht«, wies Franziska sein Angebot verbittert zurück. »Irgendwie werden wir uns schon durchschlagen.«
»Bitte, Franzi, mach es mir nicht schwerer, als es ohnehin schon ist. Wenigstens gut versorgt möchte ich euch wissen, wenn ich schon nicht bei euch sein darf. Außerdem hätte ich noch eine ganz große Bitte an dich.«
»Du weißt, daß ich dir jeden Wunsch erfülle, soweit es in meiner Macht steht.«
»Es geht um… Holger. Irina legt keinen Wert darauf, daß der Junge bei ihr ist.«
»Aber sie hat doch gesagt…« Verlegen brach Franziska ab. Schließlich ging es sie ja nichts an, was Irina sagte und wollte.
»Sie sagt viel, wenn der Tag lang ist. Aber meinen tut sie oft etwas ganz anderes«, gestand Werner verbittert. Es fiel ihm unendlich schwer, die geliebte Frau gehen lassen zu müssen, ohne etwas dagegen unternehmen zu können.
»Ich wäre wirklich sehr froh, wenn du Holger mit dir nehmen könntest. Du wirst doch Marion sicher wieder in dieses Kinderheim geben.«
»Nach Sophienlust«, half sie ihm weiter. »Sicher, es wird mir wohl wahrscheinlich nichts anderes übrigbleiben. Schließlich muß ich doch arbeiten gehen.«
»Das mußt du nicht. Ich kann dir eine monatliche Unterstützung zusichern, die euch allen ein sorgenfreies Leben gewährleistet.«
»Ich habe dir schon gesagt, daß wir dein Geld nicht brauchen. Ich kann sehr gut für Marion und mich sorgen.«
»Und Holger? Er ist richtig aufgelebt, seit ihr beiden hier seid. Und nun soll er wieder ganz allein sein? Ich weiß, daß der Junge seine Mutter ablehnt. Bitte, nimm ihn mit nach Maibach und bringe ihn zu Frau von Schoenecker. Dann kann er wenigstens mit Marion beisammen sein.«
Franziska überlegte nicht lange. »Gut, wenn deine Frau einverstanden ist, dann soll es mir recht sein«, antwortete sie und wußte schon jetzt, daß Holger sie immer an seinen Vater erinnern würde, dem sie ihr junges Herz geschenkt hatte.
*
Der Abschied von Franziska und den beiden Kindern fiel Werner Rombold ungeheuer schwer. Er brachte sie mit dem Auto nach Maibach und sprach auch selbst bei Denise von Schoenecker vor, die sofort einwilligte, die beiden Kinder bei sich aufzunehmen.
Holger war glücklich, daß er bei Marion bleiben durfte, denn die Begrüßung mit seiner Mutter war mehr als frostig ausgefallen.
»Sie ist eine fremde Frau für mich, die ich nicht mag«, hatte Holger Franziska auf der Heimfahrt anvertraut, und das beruhigte Franziskas Gewissen etwas. Zumindest hatte sie Irina nichts weggenommen, was sie nicht schon längst verloren hatte.
Sophienlust gefiel Holger ausgesprochen gut. Es war ein sonniger Märztag, und die Kinder spielten mit Schwester Regine im Park. Auch Waldi, der hübsche Dackel, war an diesem Nachmittag mit von der Partie.
»Hier wird es mir gefallen, Vati«, tröstete der Junge seinen Vater, dem der Abschied sichtlich schwerfiel. »Es gibt hier viele Tiere, und Tante Franzi ist ja auch nicht weit.«
»Das stimmt, Holger.« Zärtlich fuhr Werner über den dichten Haarwuschel seines Sohnes. »Ich… ich muß jetzt wieder zurück. Willst du nicht doch lieber…«
»Nein, nein, Vati, das geht schon in Ordnung. Mutti hat mir gesagt, daß es ihr lieber ist, wenn ich hier gut untergebracht bin. Sie braucht ja jetzt viel Ruhe.«
Unbändiger Haß auf seine Frau überfiel Werner, aber er mußte sich beherrschen. Schließlich war Irina todkrank. Vielleicht war sie auch deshalb die ganzen Jahre so vergnügungssüchtig gewesen, weil sie instinktiv ihr Schicksal vorausgeahnt hatte.
Hastig drückte Werner Franziskas Hand. »Ich werde mich wieder bei dir melden.«
»Du kannst dich jederzeit nach Holgers Wohlergehen bei mir erkundigen«, antwortete sie leise und mit bebender Stimme.
Dann drehte sich Werner hastig um und verschwand zwischen den Bäumen des großen Parks. Er hatte weder rechts noch links geschaut, denn nur ein Gedanke beherrschte ihn: Nur schnell weg von hier, ehe ich es mir anders überlege. Das hätte er sich niemals verziehen, wenn er Irina als todkranke Frau verlassen hätte.
*
»Na, mein Lieber, so tief in Gedanken versunken?« schreckte ihn die harte Stimme Irinas aus seinen schweren Erinnerungen. »Das ist aber wenig schmeichelhaft für mich, wenn du nicht einmal meine Nähe bemerkst.«
»Ich rieche dein Parfüm«, entgegnete Werner verärgert. »Es duftet noch immer so widerlich süß wie früher.«
»Sei nicht so sauer, Liebling, das steht dir nicht. Außerdem habe ich etwas Wichtiges mit dir zu besprechen, das keinen Aufschub mehr duldet.« Irina war es sichtlich unangenehm, über das zu sprechen, was sie auf dem Herzen hatte. Aber jetzt lebte sie bereits seit sechs Wochen wieder zu Hause, und Werner dachte offensichtlich nicht daran, daß er auch eheliche Pflichten zu erfüllen hatte. Er schlief in seinem Arbeitszimmer und hatte auch nicht einmal andeutungsweise den Versuch gemacht, ihr näherzukommen.
Und diese Zurückhaltung hatte Irinas schönen Plan durchkreuzt. Nun mußte sie Farbe bekennen und auf Werners Gutmütigkeit hoffen.
»Etwas Wichtiges?« Der Mann zog die Augenbrauen hoch. »Was sollte das schon sein?«
»Du kannst mir schon glauben, daß es sehr wichtig für unsere Zukunft ist.«
»Für unsere Zukunft?« echote Werner unangenehm berührt. »Ich dachte, du…« Erschrocken brach er ab. Zu welchen Äußerungen ließ er sich in seiner Verzweiflung hinreißen? Schließlich hatte sie ihn nicht dazu gezwungen, die Ehe mit ihr weiterhin aufrechtzuerhalten. Er hatte es vielmehr als seine Pflicht angesehen, Irina in dieser schweren Zeit beizustehen.
Und nun wollte er jammern und klagen und ihr womöglich auch noch die Schuld an allem geben? Nein, das durfte nie geschehen.
»Du dachtest, ich hätte keine Zukunft mehr«, vollendete Irina seinen angefangenen Satz. Dabei lächelte sie hintergründig und ließ sich aufreizend in einen Sessel fallen. Dann zündete sie sich die für sie unentbehrliche Zigarette an und schaute ihren Mann abwartend an.
Werner blickte verlegen zur Seite. »Du bist geschmacklos, Irina.«
»Nicht doch. So etwas darfst du nicht sagen, Liebling. Das tut deiner kleinen Frau von Herzen weh.«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
»Nicht, Liebling. Wir sollten uns nicht streiten. Ich weiß schließlich nicht, wieviel Zeit mir noch bleibt. Bis dahin muß alles geregelt sein.«
Werner bewunderte die Gelassenheit seiner Frau, mit der sie scheinbar das Todesurteil hinnahm. Sie war weder schwermütig noch verzweifelt, sie tobte nicht und haderte auch nicht mit ihrem Schicksal. Sollte er Irina die ganzen Jahre verkannt haben?
»Ich… ich erwarte ein Kind.«
»Was?« Werner glaubte, sich verhört zu haben. »Hast du gesagt, du bekommst…? Nein, das glaube ich nicht. Jedenfalls nicht von mir.«
»Habe ich das behauptet? Nein, lieber Werner, ich kann dich beruhigen. Nicht du bist der Urheber, sondern ein guter Bekannter aus der Stadt. Leider liebe ich nicht ihn, sondern nur dich. Aber das habe ich erst in der Stunde erkannt, als mir der Arzt eröffnete, daß ich nicht mehr lange zu leben hätte. Das war übrigens am gleichen Tag, als mir ein anderer Arzt die Schwangerschaft bestätigte.«
Spätestens in diesem Augenblick hätte Werner hellhörig werden müssen, aber er war so verblüfft, daß ihm gar nichts auffiel. Er konnte nur immer wieder eines denken: Irina bekommt ein Kind, obwohl sie bald sterben mußte. Welch ein Widersinn, welch eine Laune der Natur. Wenn Irina starb, blieb ihm das fremde Kind, dessen Vater er nicht war.
Aber konnte Werner seine Frau in diesem Zustand aus dem Haus jagen? Jedes Gericht der Welt würde ihm recht geben, denn sie hatte ja Ehebruch begangen. Aber durfte er sich selbst auch im Recht fühlen? Hatte er nicht die menschliche Pflicht, ihr gerade jetzt beizustehen? Die Gedanken überschlugen sich in Werners Kopf.
»Und wie stellst du dir die weitere Zukunft vor, wenn ich dich einmal vorsichtig fragen darf?«
»Gar nicht«, gestand Irina kleinlaut. »Meine Zukunft und die meines ungeborenen Kindes liegt in deiner Hand.«
Sie senkte den Kopf und hätte am liebsten gelacht. In seinem verzweifelten Gesicht hatte Irina gelesen, daß der Kampf bereits gewonnen war.
»So, wie du entscheidest, werde ich handeln. Wenn du mich fortschickst, dann werde ich gehen.«
»Entschuldige, Irina, aber du kannst von mir jetzt noch keine Entscheidung erwarten. Du weißt natürlich genau, daß ich dich nicht fortschicken werde. Aber meinst du nicht auch, daß in diesem Fall eine Scheidung das beste für uns wäre?« Für einen kurzen Augenblick glomm in ihm eine Hoffnung auf, die er aber sofort wieder verwarf.
Irina, die ihn scharf beobachtete, merkte, daß Werner noch etwas anderes beschäftigte als ihr unerwartetes Geständnis.
»Du denkst an deine Franzi, habe ich recht?« Ihr Blick war lauernd, und unbändiger Haß erfüllte die Frau. Niemals sollte dieses Gänschen, wie sie Franziska bei sich nannte, ihren Mann bekommen, auch wenn sie, Irina, ihn gar nicht mehr liebte.
»Hast du etwas dagegen?« Werner stellte sich zum Kampf. Jetzt, da er wußte, daß Irina von einem anderen Mann ein Kind erwartete, waren die restlichen Gefühle für seine Frau gestorben. Daß sie soweit gehen würde, hätte er nie gedacht. Er hatte geglaubt, daß sie Vergnügungen und Abwechslung suchte, nicht aber intime Beziehungen.
»Vergiß nicht, mein Lieber, daß du noch immer mit mir verheiratet bist. Und ich gedenke nicht, in eine Scheidung einzuwilligen. Außerdem ist es ohnehin nur noch eine Frage der Zeit, bis du frei bist für deine Geliebte«, fügte sie dann noch gespielt ruhig hinzu.
Insgeheim aber mußte Irina lachen. Sie dachte daran, wie sie Alfred die Neuigkeit überbracht hatte. Alfred Kröner war der Vater ihres Kindes. Aber er war ein armer Schlucker und außerdem nicht bereit, seine Freiheit aufzugeben. Und Kinder waren ihm sowieso ein Greuel.
»Dein Mann muß schön dumm sein, wenn er auf deine Lüge mit der Krankheit hereingefallen ist. Jetzt ist es sicher eine einfache Sache, ihm auch noch das Kind unterzuschieben.«
Sie hatten sich gebogen vor Lachen, und schließlich hatte Alfred sie in die Arme genommen. »Du bist schon ein raffiniertes Frauenzimmer, Irina«, hatte er sie gelobt, und Irina war ungeheuer stolz gewesen.
Unbändige Sehnsucht nach diesem Mann überkam sie. Am liebsten hätte sie sich sofort ins Auto gesetzt und wäre zu ihm gefahren. Aber das konnte sie jetzt noch nicht riskieren. Erst mußte sie die Sachlage klären.
»Schau, Werner, was soll denn aus meinem Kind werden, wenn ich einmal nicht mehr bin?«
»Es hat doch auch einen Vater«, knurrte der Mann und wußte, daß er auch hier wieder seine Zustimmung geben würde, obwohl er sich dabei dumm und irgendwie ausgenutzt vorkam. Trotzdem konnte er nicht so hartherzig sein und Irina vor die Tür setzen. Immerhin hatte sie ja nicht mehr lange zu leben, wie sie ihm immer wieder versicherte.
Er schaute ihr ins Gesicht, in das sich tatsächlich tiefe Furchen eingegraben hatten. Das ausschweifende Leben in der Stadt hatte seine Spuren hinterlassen, aber Irina verstand es mit viel Geschick, sie mit Farbe zu überpinseln.
Werner aber führte ihr schlechtes Aussehen auf ihre Krankheit zurück und war sich nun ganz sicher, das Richtige zu tun.
»Okay, du kannst bleiben. Ich möchte dir nicht die letzten Lebensjahre schwerer machen als unbedingt nötig. Und solltest du eines Tages wirklich nicht mehr in der Lage sein, für dein Kind zu sorgen, so soll es auch daran nicht fehlen. Es wird hier immer ein Zuhause haben.«
Ohne noch ihre Antwort abzuwarten, erhob sich Werner Rombold und verließ das Wohnzimmer.
»Ich danke dir, Liebling. Ich wußte ja, daß du mich nicht im Stich lassen würdest«, rief Irina ihm noch hinterher. Dann wartete sie, bis die Tür ins Schloß gefallen war. Insgeheim rieb sie sich schon die Hände.
Alfred würde Bauklötze staunen, wenn er erfuhr, daß sie alle Probleme für ihn gelöst hatte. Nicht einen
Pfennig Unterhalt würde er aufbringen müssen für das Kind.
Ihre Hände zitterten vor Aufregung, als sie den Telefonhörer nahm und Alfreds Nummer wählte.
»Ich bin’s, Liebster. Es… es hat geklappt«, flüsterte sie verhalten, als sich der Mann gemeldet hatte. »Darf ich zu dir kommen?«
Vor Begeisterung hüpfte Irina in die Höhe, als er ihr eine zustimmende Antwort gegeben hatte.
»Ich schwinge mich sofort ins Auto. In etwa einer Stunde kann ich bei dir sein. Bitte, richte etwas Feines zum Essen her. Ich habe einen Bärenhunger«, sagte sie ins Telefon, dann legte sie auf.
Hektische Betriebsamkeit überkam die Frau. Was sollte sie anziehen? Sie wollte unbedingt hübsch und reizvoll aussehen für den Mann, den sie liebte. Werner hatte sie in diesen Minuten völlig vergessen.
*
Wie betäubt saß Werner Rombold in seinem Arbeitszimmer und starrte blicklos vor sich hin. In der Hand hielt er eine Fotografie, die seine Familie zeigte, als noch alles in Ordnung war.
Und heute? Was war geblieben von seinem kleinen, bescheidenen Glück? Ja, Geld besaß er genug, an dem fehlte es ihm nicht. Aber sonst?
Seit Irina wieder im Haus war, verließ Helene, die Köchin, ihre Küche kaum noch. Sie lehnte die Frau ab, obwohl sie noch gar nicht wußte, was da auf ihn, auf sie alle, zukam. Ein fremdes Kind aufziehen, konnte er das überhaupt?
Aber dann siegte doch sein gutes Herz. Was konnte denn das arme
Würmchen dafür? Bestimmt dachte Franzi auch so. Sie war so lieb, so anschmiegsam und für andere Menschen zu jedem Opfer bereit. Sicher würde sie auch Irinas Kind einmal eine gute Mutter sein, wenn Irina tot war.
Plötzlich überkam ihn grenzenlose Sehnsucht nach Holger, nach Marion und vor allem nach Franzi. Es war zwar schon später Nachmittag, aber wenn er gleich losfahren würde, dann konnte er noch vor Einbruch der Dunkelheit in Maibach sein.
Werner mußte mit Franziska über alles sprechen. Er mußte ihr sagen, was ihm Irina anvertraut hatte, und er wollte ihre Meinung dazu wissen, wenn er seinen inneren Frieden wiederfinden wollte.
Als draußen ein Auto gestartet wurde, sprang er hastig von seinem Stuhl auf und lief ans Fenster. Irinas kleiner Wagen schoß davon wie eine Rakete. Wo wollte sie denn um diese Zeit noch hin?
Werner dachte nach, aber dann kam er zu dem Schluß, daß es ihn eigentlich gar nicht sonderlich interessierte. Im Gegenteil, es war ihm sogar recht, daß sie nicht da war, denn dann konnte auch er das Haus verlassen, ohne ihr Rechenschaft ablegen zu müssen.
Eilig zog er sich um. Kaum zehn Minuten später befand er sich bereits auf der Fahrt nach Maibach. Der Tacho zeigte hundertundzehn Stundenkilometer an. Das erschien Werner Rombold noch zu langsam.
»Fahren Sie nur, Werner. Es ist das einzig Richtige, was Sie tun können. Holger braucht Sie«, hatte Helene gesagt und dabei mütterlich gelächelt. Er hatte ihr gesagt, daß er die Nacht in Maibach verbringen würde, um wieder einmal mit seinem Sohn zusammensein zu können.
Aber die Köchin wußte genau, daß Holger nicht der einzige Grund war, der Werner nach Maibach zog. Nach Sophienlust wollte er ohnehin erst am nächsten Vormittag, einem Sonntag, gehen. Zuerst mußte Werner Franziska sehen, mit ihr reden und ihre Stimme hören.
Der Feierabendverkehr war bereits vorüber, als Werner Rombold Maibach erreichte. Ein Gefühl beschlich den Mann, als würde er nach einer langen Irrfahrt heimkehren. Und irgendwie stimmt es sogar. Er war dort daheim, wo auch Franzi, Holger und Marion waren. Sie bedeuteten seine Heimat, das hatte er noch nie so klar erkannt wie in dem Augenblick, als er vor Franziska Bölz’ Wohnungstür stand.
Schon einmal war er hier gestanden, voller Aufregung, voller Neugierde, wer ihm wohl öffnen würde.
Jetzt war er wieder aufgeregt, aber nicht vor Neugierde, sondern vor Wiedersehensfreude. Seine Hand bebte leicht, als er den Klingelknopf betätigte.
Gleich würde er der geliebten Frau gegenüberstehen, in ihre wunderschönen Augen sehen und ihr herrliches Haar durch seine Finger gleiten lassen.
Die Sehnsucht in ihm wurde übermächtig. Als Franziska endlich öffnete, brachte er kein Wort über die Lippen.
»Werner«, flüsterte sie entgeistert. »Wie… wie kommst du hierher?«
»Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Zuviel ist passiert in den letzten Stunden. Es… hat sich alles geändert. Bitte, darf ich eintreten?«
»Natürlich.« Franzi trat zur Seite.
»Irina erwartet ein Kind«, platzte Werner heraus, als er sich gesetzt hatte.
»Dann habt ihr euch also wieder versöhnt? Ich freue mich für euch.« Franziska merkte nicht, wie gepreßt ihre Worte klangen. Aber eigentlich hatte sie doch damit rechnen müssen. Irina war Werners Frau und die Mutter seines Sohnes. Da war es nur verständlich, wenn die Familie Zuwachs bekam.
»Wir haben uns nicht versöhnt, und das Kind ist auch gar nicht von mir. Ich habe Irina nicht angerührt, das darfst du mir ruhig glauben.«
»Das… das kann doch nicht möglich sein. Warum ist sie dann zu dir zurückgekehrt? Sie hätte doch bei dem anderen Mann bleiben können.«
»Hätte sie, ja. Aber der ist anscheinend ein armer Teufel. Außerdem mag er keine Kinder. Sie hat mir versichert, daß sie jeden Kontakt zu ihm abgebrochen hat. Aber eigentlich ist mir das gleichgültig.«
»Und was wirst du jetzt tun?« fragte Franziska atemlos. »Wirst du dich scheiden lassen?«
»Das kann ich doch nicht. Sie hat ohnehin nur noch eine begrenzte Zeit zu leben. Ich kann sie doch nicht mit ihrem Kind vor die Tür setzen. Oder doch?« Ungläubig schaute der Mann Franziska an, die verbissen vor sich hin starrte. Sollte er sich so in Franzi getäuscht haben? War sie wirklich so herzlos?
»Natürlich kannst du deine Frau nicht vor die Tür setzen«, sagte sie nach einer Weile und rieb ihre Hände aneinander. »Sie ist schließlich deine Frau, und außerdem braucht sie Hilfe.«
Er sah die stumme Qual in ihren schönen Augen, als sie ihn ansah. »Wirst du Holger jetzt wieder mitnehmen?«
»Nein, natürlich nicht. Ich glaube nicht, daß es in Irinas Sinn wäre, wenn ich ihr den Jungen brächte. Sie hat genug mit sich selbst und dem Kind zu tun, das sie erwartet. Außerdem würde ich Holger damit keinen Gefallen tun. Der ist froh, den Bosheiten seiner Mutter entkommen zu sein.«
»Bosheiten?« echote Franziska ungläubig.
»Na ja, so ähnlich jedenfalls. Holger war in ihrer Nähe immer verschüchtert und ängstlich, und die letzten Monate hatte er sogar angefangen zu stottern. In der Zeit, als du bei uns warst, hat sich das wieder gegeben. Er liebt seine Mutter nicht, sondern er fürchtet sie.«
»So etwas gibt es doch gar nicht.«
»Doch, so etwas gibt es. Du kannst es mir ruhig glauben.«
»Weiß Irina, daß du hier bist?« wechselte Franziska jetzt das Thema.
»Nein, sie ist vor mir weggefahren. Sie hat mir nicht einmal gesagt, wohin.«
»Wo wirst du schlafen? Oder willst du etwa gleich wieder zurückfahren?«
»Nein, ich werde über Nacht in Maibach bleiben, weil ich morgen früh gleich nach Sophienlust will. Schließlich habe ich Holger seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Der Junge denkt sonst womöglich, ich will nichts von ihm wissen.«
»O nein«, widersprach Franziska und lächelte wehmütig. »Holger spricht oft von dir. Er ist dir dankbar, daß er in Sophienlust sein darf. Er hat dort sogar das Reiten gelernt. Frau von Schoeneckers Sohn Nick hat es ihm beigebracht.«
Sie sprachen noch eine ganze Weile von Holger und von Sophienlust, bis Werner mit einem Blick auf die Uhr feststellte, daß es nun an der Zeit sei, sich ein Zimmer für die Nacht zu suchen.
»Wenn ich gar so spät dran bin, dann finde ich vielleicht nichts mehr. Der Gasthof in Maibach, in dem ich das letzte Mal gewohnt habe, ist immer ziemlich belegt.«
»Du… du kannst auch hier übernachten. Ulrichs Zimmer steht ja seit seinem Tod leer.« Errötend senkte Franziska den Kopf, wobei ihr Haar wie ein seidener Schleier nach vorne fiel.
»Dank für dein Angebot. Ich nehme es sehr gern an.«
Rasch stand Franziska auf, um für Werner das Bett herzurichten. Sie fragte sich zwar immer wieder, ob es richtig gewesen war, ihm das Zimmer anzubieten, aber dann beruhigte sie sich damit, daß sie ja nichts Schlechtes im Sinn hatten. Werner war ein entfernter Verwandter, und außerdem konnte sie ihr Schlafzimmer ja abschließen.
Ob Irina Gewissensbisse verspürte? Schließlich hatte sie ihren Mann betrogen. Franziska konnte an gar nichts anderes mehr denken als an Werner, an Irina und an das Kind, das diese erwartete.
Und als Werner schon längst schlief, da lag die junge Frau noch immer mit offenen Augen im Bett und dachte nach. Zuviel war heute geschehen, was sie erst verarbeiten mußte.
Was bedeutete Irinas Geständnis für ihre, Franziskas, Zukunft? Hatte es überhaupt irgendeinen Einfluß auf ihr weiteres Leben? Werner war Irinas Mann, er würde ihrem Kind mit Sicherheit ein guter Vater sein.
Aber an deren lebensbedrohende Krankheit, daran glaubte Franziska nicht. Sie wußte, daß sie ihre innige Liebe zu Werner tief in ihrem Herzen würde vergraben müssen.
*
Irina konnte es kaum mehr erwarten, bis sie endlich in Alfreds Armen lag. Wenn sie die Augen schloß, dann konnte sie das markante, ein wenig verlebte Gesicht ihres Geliebten vor sich sehen.
Welch eine herrliche Zeit hatten sie schon miteinander verbracht, und welch eine wunderbare Zeit lag noch vor ihnen. Werner würde schon das nötige Kleingeld herausrücken, sagte sich Irina. Schließlich schenkte sie ihm dafür noch ein Kind, was er sich ja schon immer gewünscht hatte.
Irina kam sich mit einem Mal sogar ungeheuer großzügig und selbstlos vor. Werner zuliebe verzichtete sie auf ihr Kind, auf ihr eigen Fleisch und Blut. Hoffentlich wußte Werner das zu schätzen und lohnte es ihr in klingender Münze.
Wie eine Rakete schoß ihr roter Flitzer über die Landstraße. Irina wußte, daß sie mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr, das war ihr gleichgültig. Außerdem herrschte auf dieser Straße nie viel Verkehr.
»Alfred, endlich«, stöhnte Irina auf, als der Mann vor ihr stand. Er hatte sie bereits an seiner Wohnungstür erwartet, denn er kannte ihr Auto, das immer entsetzlich aufheulte, bevor sie den Motor abschaltete.
»Da bist du ja, Kleines.« Ein etwas überhebliches Lächeln stahl sich in das aufgedunsene Gesicht des Mannes, der ein ganzes Stück größer war als Irina.
»Hast du schon gewartet? Ich habe dir eine ganze Menge zu erzählen. Wir werden viel Spaß haben.« Ihre hellen Augen funkelten verheißungsvoll, und ihre roten Lippen lockten.
Dem Mann wurde es ganz warm. Rasch zog er Irina an der Hand in seine Wohnung und führte sie gleich in sein Schlafzimmer, in dem überall weiße Felle herumlagen. Alfred hatte sich ein richtiges Liebesnest eingerichtet, in dem nicht nur Irina Rombold häufiger Gast war. Aber das wußte die Frau natürlich nicht.
»Komm, Süße, erzähl mir.« Voller Leidenschaft zog er sie auf das Bett und streichelte dann ihr Gesicht, wobei er zärtliche Worte flüsterte.
»Laß das jetzt, Alfred. Zuerst will ich etwas essen, und dann muß ich dir doch erzählen, wie Werner reagiert hat. Du wirst staunen, wie dumm mein Mann ist. Er ist so gutmütig, daß es schon fast eine Schande ist.«
»Ich sagte ja bereits, er gehört ins Museum. Ich glaube nicht, daß solche Idioten öfter herumlaufen. Dein Werner wird wohl der letzte einer aussterbenden Rasse sein. Ich jedenfalls wäre nicht so dumm.«
»Das glaube ich dir sofort«, antwortete Irina verärgert. Sie fand Werner zwar auch dumm, aber trotzdem…
»Sei nicht eingeschnappt. Es war ja nur eine Feststellung. Außerdem hast du selbst gesagt…«
»Ich weiß noch sehr gut, was ich gesagt habe.« Irina stand auf und steuerte die kleine Küche an, aus der ein verlockender Duft strömte. Zu kochen verstand Alfred, das mußte man ihm lassen, auch wenn er sonst über fast keine Fähigkeiten verfügte, wenn man von dem Talent absah, jeder Arbeit aus dem Weg zu gehen und trotzdem gut und komfortabel leben zu können.
»Ich werde jetzt den Tisch decken, und dann reden wir über alles. Außerdem werde ich über Nacht bleiben, wenn du nichts dagegen hast. Das muß doch wohl gefeiert werden.« Irina hatte ihre gute Laune wiedergefunden.
Dabei merkte sie nicht, in welche Zwickmühle sie den Mann mit ihrer Eröffnung gebracht hatte. Gerade heute hatte er nicht mit einem längeren Besuch seiner Geliebten gerechnet und jemanden eingeladen, um die Nacht nicht allein verbringen zu müssen.
Irgendwie mußte es Alfred gelingen, Uschi noch rechtzeitig zu benachrichtigen, bevor sie von zu Hause wegfuhr. Schließlich lebte auch sie größtenteils von dem Geld, das er von Irina bekam. Da mußte sie auch einsehen, daß er Irina den Vorzug gab, diese Nacht bei ihm und mit ihm zu verbringen.
»Geh du nur inzwischen und richte alles her. Ich muß nur noch rasch mit einem Freund telefonieren, der mich vorhin angerufen hat.«
»So wichtig?« fragte Irina gleichgültig und dachte sich nichts dabei. Ihr fiel auch die Nervosität des Mannes nicht auf, obwohl Alfred abwechselnd bleich und rot geworden war.
»Hallo, Uschi.« Die Stimme des Mannes klang gepreßt. Er behielt vorsichtshalber die Schlafzimmertür im Auge, damit Irina ihn nicht überraschen konnte.
»Es… tut mir so leid, aber mir ist etwas dazwischengekommen. Irina ist…«
»Bist du wahnsinnig?« wurde er von der Frau am anderen Ende der Leitung unterbrochen. »Du sagst eine Verabredung mit mir ab und eröffnest mir im gleichen Atemzug, daß eine andere bereits in deinem Bett liegt.«
»Werde bitte nicht geschmacklos, Uschi.« Angewidert verzog Alfred den Mund. Wäre Uschi nicht so ein reizendes, leidenschaftliches Mädchen, dann hätte er längst Schluß mit ihr gemacht. So aber konnte er sich ihren Verführungskünsten nicht entziehen. Er brauchte sie wie das tägliche Brot, obwohl ihn ihre Ausdrucksweise manchmal abstieß.
»Meinst du vielleicht, ich werde zu Hause herumsitzen und mir in den leuchtendsten Farben ausmalen, wie diese dumme Pute jetzt in deinen Armen liegt? O nein, mein Lieber, da hast du dich aber gründlich in deinem Uschilein getäuscht, das kann ich dir flüstern.«
»Aber was soll ich denn machen?« verteidigte sich Alfred mit kläglicher Stimme. »Ich kann sie doch nicht einfach wegschicken.« Daß Irina ein Kind von ihm erwartete, hatte er Uschi wohlweislich verschwiegen.
»Und warum nicht?« kam die spöttische Gegenfrage.
»Weil du ebenso von ihrem Geld lebst wie ich. Du weißt, daß ihr Mann nicht kleinlich ist. Bis jetzt ist es uns ganz gut gegangen. Ich verspreche dir auch…«
»Ach, Quatsch, spar dir deine Versprechungen, die du ohnehin nicht halten kannst. Ich habe langsam die Nase voll von dir, das kannst du mir glauben.«
»Bitte, Uschi, laß dir doch erklären…«
»Nichts da«, unterbrach ihn die Frau. »Entweder du schickst sie fort, oder wir sind geschiedene Leute.«
Der Mann überlegte krampfhaft, aber ihm wollte keine Lösung einfallen. Uschi verlieren, nein, das wollte er auch nicht.
Aber Irina wegschicken, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Erstens war er auf ihr Geld angewiesen, und zweitens trug sie von ihm ein Kind unter dem Herzen.
Nein! Irina konnte ihn fertigmachen, daß kein Hund mehr ein Stück Brot von ihm nahm.
»Na, hast du es dir überlegt? Liebst du Irina oder mich?«
»Du weißt doch, daß ich nur dich liebe, Uschilein«, beteuerte der Mann zuckersüß. »Ohne dich kann ich nicht leben. Nur dieses eine Mal noch, dann habe ich auch das Geld zusammen, um dir den Ring zu kaufen, den du dir so sehr wünschst. Irina wird es mir schon geben, wenn ich ihr sage, daß ich Schulden gemacht habe. Du kennst das doch.«
Uschi zögerte. »Versprochen?« fragte sie nach einer Weile vorsichtig.
»Ja, versprochen«, gab Alfred zurück. »Endlich bist du wieder mein kleines, verständiges Mädchen. Du mußt doch einsehen, daß man eine Kuh nicht schlachten kann, die man melken will.«
Der Mann hatte sich so in das Gespräch hineingesteigert, daß er nicht mehr auf die Tür achtete, die er im Auge hatte behalten wollen. Er saß zurückgelehnt in seinem Sessel und schaute mit leerem Blick aus dem Fenster.
Darum war ihm auch entgangen, daß er sich nicht mehr allein im Zimmer befand. Ohne daß er es bemerkt hatte, hatte Irina die Tür einen Spalt breit geöffnet, um zu sehen, mit wem der geliebte Mann so heftig diskutierte.
Und das, was sie dann zu hören bekam, versetzte ihr so einen Schock, daß sie sich nur mit letzter Kraft am Türrahmen festhalten konnte, sonst wäre sie umgesunken.
Konnte es wirklich wahr sein, daß Alfred eine andere hatte? Noch zweifelte sie an ihrer Vermutung, aber als sie dann hörte, daß er es nur auf das Geld abgesehen hatte, das sie ihm immer zusteckte, da wußte sie, daß der Mann die ganze Zeit ein falsches Spiel mit ihr getrieben hatte. Nicht für ihre gemeinsame Zukunft hatte er es gebraucht, sondern für seine Freundin, die ihn jetzt mit Drohungen auf ihre Seite zu ziehen versuchte.
Bei dem letzten Satz war es um Irinas Fassung geschehen. Mit einem lauten Knall warf sie die Tür zu und hastete zur Garderobe.
Ihre Hände zitterten so sehr, daß sie Mühe hatte, ihren dünnen Mantel anzuziehen. Hoffentlich schaffte sie es noch, die Wohnung zu verlassen, ehe Alfred kapierte, was überhaupt geschehen war.
Aber ihr Wunsch erfüllte sich leider nicht.
»Wo willst du denn hin?« tat Alfred ahnungslos, trat hinter sie und legte ihr seine Arme auf die Schultern. »Ich dachte, wir wollten essen und es uns dann gemütlich machen?« Seine Augen schauten sie bittend an, aber Irina sah auch die Furcht, die in ihnen flackerte.
»Armer Alfred, jetzt habe ich deine ganzen schönen Pläne für den heutigen Abend über den Haufen geworfen. Du hättest mir doch sagen können, daß du für diese Nacht bereits verabredet bist.«
Irina bot ihre ganzen Kraftreserven auf, um nicht vor ihm zusammenzubrechen. Diesen Triumph wollte sie ihm nicht gönnen. Niemals durfte er erfahren, wie weh er ihr getan hatte.
»Wie redest du denn mit mir?« Noch immer spielte der Mann den Ahnungslosen, obwohl er längst eingesehen hatte, daß sein Spiel verloren war. »Diese Anschuldigungen mußt du erst einmal beweisen.«
Angriff ist die beste Verteidigung, sagte sich der Mann, aber Irina ging nicht darauf ein.
»Ich habe gehört, wie du mit deinem Uschilein telefoniert hast. Das also war dein Freund, mit dem du so wichtige Dinge zu besprechen hattest, die keinen Aufschub mehr duldeten.«
»Das hast du völlig mißverstanden, Irina. Aber komm doch wieder in die Wohnung, oder sollen wir das zwischen Tür und Angel besprechen, damit die Nachbarn auch noch etwas zu lachen haben?«
»Nein, das brauchen wir nicht. Deine Ausreden interessieren mich nicht im geringsten. Ich gehe jetzt. Mir reichen deine Lügen.« Hastig drehte sie sich um und lief einige Stufen hinunter. »Du hast die Kuh verscheucht, die du melken wolltest.« Mit Absicht benützte sie seine Worte, damit er auch bestimmt wußte, daß sie alles gehört hatte.
Mit hängenden Schultern stand Alfred oben und schaute der Frau nach. Irgendwie tat es ihm leid, daß er sie nun nicht mehr wiedersehen sollte. Und es war nicht nur wegen des Geldes. Immerhin hatten sie eine lange und schöne Zeit miteinander verbracht.
Als er hörte, daß Irina unten das Auto startete, wußte er, daß er sie endgültig verloren hatte.
Irina war so aufgeregt, daß sie gar nicht mehr wußte, was sie tat. Ziellos fuhr sie durch die Straßen der Stadt, in der sie sich immer wie zu Hause gefühlt hatte. Plötzlich aber kamen ihr die vollgepferchten Straßen und die hohen Häuser wie völlig seelenlose Steinberge vor, ohne Herz und Gefühl.
Hatte sie denn alles falsch gemacht in ihrem Leben? Was hatte sie hier eigentlich all die Monate gesucht, die sie fern von zu Hause, fern von Werner und ihrem Sohn Holger verbracht hatte?
Waren diese ganz oberflächlichen Vergnügungen wirklich das Opfer wert gewesen? Immerhin hatte sie ihre Familie, ihr eigenes Kind verraten.
Irina liefen die Tränen über die Wangen. Alles hatte sie falsch gemacht, das wußte sie jetzt. Aber noch war es Zeit, es wiedergutzumachen. Noch war sie Werners Frau, und Holger war noch jung genug, um zu vergessen, was sie ihm angetan hatte.
Sie mußte nach Hause, so schnell es ging. Alles wollte sie Werner sagen, alles beichten, und dann hoffen, daß er ihr verzeihen konnte. Er mußte es einfach. Dann wollte sie ihm die Frau sein, die er verdiente.
Längst war es Nacht geworden. Die Landstraße, die bei Tag schon kaum befahren war, erschien ihr um diese Zeit noch einsamer. Seit über einer Stunde war Irina kein Auto mehr begegnet.
Sie hatte sich das Radio eingeschaltet, damit sie sich nicht gar so einsam fühlte.
Die Straße schlängelte sich jetzt eine ganze Zeitlang nur durch Obstplantagen auf der einen Seite und einem dichten Nadelwald auf der anderen Seite. Hätten Irina jetzt nicht so viele Probleme beschäftigt, hätte sie sich mit Sicherheit gefürchtet.
So aber hatte sie mit sich selbst genug zu tun. Immer wieder mußte sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischen, die ihren Blick verschleierten, dann wieder mußte sie gegen die Schwäche ankämpfen, die sie zu befallen drohte.
Sie mußte es einfach schaffen, nach Hause zu kommen. Werner würde es schon verstehen, sie zu trösten und ihr Mut zuzusprechen, so wie er es früher immer getan hatte.
Ganz plötzlich schien eine eisige Faust nach Irinas Herzen zu greifen, sie bekam keine Luft mehr. Ganz instinktiv trat sie mit dem rechten Fuß auf die Bremse, aber es war schon zu spät.
Ein häßliches Krachen zerriß die nächtliche Stille, und dann war alles ruhig. Das Auto war gegen eine dicke alte Fichte geprallt.
Die Fahrertür war durch den Aufprall aufgesprungen. Die Frau, die den Gurt nicht umgelegt gehabt hatte, war mit dem Kopf gegen die Glasscheibe geflogen.
Aber sie war nicht bewußtlos, zumindest nicht gleich. Ungläubig fuhr ihre Hand an den Hals, wo aus einer Wunde Blut sickerte.
»Werner«, stöhnte die Frau und ließ sich nach hinten sinken. Bleierne Müdigkeit erfaßte sie und lähmte ihre Gedanken.
Niemand kam, um zu helfen. Irina starb allein und einsam, ebenso wie sie gelebt hatte.
Erst am nächsten Morgen entdeckte eine Polizeistreife den Unfall. Aber da war es längst zu spät für Irina.
Kaum eine Stunde später wurde Werner Rombold verständigt. Helene hatte den Beamten Franziskas Adresse gegeben.
*
»Mensch, endlich haben wir Sommerferien.« Fabian Schöller warf die Tür des roten Kleinbusses zu, mit dem sie von der Schule abgeholt worden waren.
Schwester Regine wartete bereits an der Auffahrt, um die Kinder in Empfang zu nehmen. Auch sie freute sich mit ihnen, daß sie sich endlich wieder von dem Schulstreß ausruhen konnten.
»Heute nachmittag lege ich mich in die Sonne und rühre keinen Finger«, verkündete Irmela und strahlte über das ganze Gesicht.
»Ich werde dir dabei Gesellschaft leisten, wenn du nichts dagegen hast.« Pünktchen hakte sich bei der Freundin ein und schwenkte in der anderen Hand ihre Schultasche. Sie war stolz auf ihr Zeugnis, obwohl es in Mathe nicht die ersehnte Note gegeben hatte. Trotzdem konnte sie wirklich zufrieden sein.
»Heute gibt es Erdbeereis als Nachtisch«, verkündete Schwester Regine und ging mit den Kindern auf das Haus zu. »Beeilt euch bitte ein bißchen. Heidi kann es gar nicht mehr erwarten.«
»Und Marion sicher auch nicht, wie ich sie kenne.« Holger grinste, weil auch ihm das Wasser im Munde zusammenlief.
Diese Ferien bedeuteten für Holger und Marion etwas ganz Besonderes. Werner Rombold hatte seinem Sohn bereits schonend von dem Tod der Mutter berichtet. Holger hatte es ziemlich gefaßt hingenommen, obwohl auch ihm es leid tat, daß alles so hatte kommen müssen. Aber er hatte in den letzten Jahren seine Mutter so oft entbehren müssen, daß er es leichter überwand, als Werner befürchtet hatte. Und heute nun war der große Tag, auf den er schon so lange gewartet hatte. »Eigentlich habe ich gar keinen Hunger«, stellte er plötzlich fest. Er rannte in sein Zimmer hinauf, warf die Schultasche in eine Ecke, obwohl er sonst eher ordentlich war, und rannte die Treppe wieder hinunter. »Ich bin am Waldsee, wenn mich jemand suchen sollte«, rief er Denise von Schoenecker noch zu, die ihm kopfschüttelnd nachschaute.
»Was hat er denn?« wollte sie von Schwester Regine wissen, aber die zuckte nur die Schultern. »Ach, ich weiß schon. Er wird es kaum mehr erwarten können, bis seine Eltern kommen. Franziska wird ihm eine wunderbare Mutter sein«, sagte Denise leise zu der Kinderschwester, die zustimmend nickte.
»Er hat es verdient«, sagte die junge Frau.
Wenig später kamen Werner und Franziska direkt vom Standesamt. Es war nur eine einfache Trauung gewesen, weil Irina noch nicht lange verstorben war.
Schwester Regine gratulierte dem jungen Paar und übergab Werner dann die Sachen der Kinder, die er sogleich im Kofferraum verstaute. Dann nahmen sie Marion bei der Hand, die gerade mit Essen fertig geworden war.
»Wo steckt denn Holger?« fragte Werner Rombold.
»Er ist zum Waldsee gelaufen. Nicht einmal das Erdbeereis hat ihn davon abhalten können«, antwortete Denise. »Er kann es nicht mehr abwarten.«
Zusammen mit Werner und Franziska Rombold, die Marion in ihre Mitte genommen hatten, trat Denise in den sonnigen Nachmittag hinaus.
In der Ferne entdeckte sie eine Gestalt, die rasch näher kam. »Ich glaube, auch der Waldsee hat ihn heute nicht gefreut, obwohl dort eigentlich sein Lieblingsplatz ist«, stellte Denise fest.
Jetzt sahen auch Franziska und Werner den Jungen, der in Windeseile angesaust kam.
»Da seid ihr ja endlich.« Holger schaute von einem zum anderen. »Haben wir jetzt Mutti und Vati?« fragte er ein bißchen ängstlich.
Marion machte große Augen. »Wo ist die Mutti?« fragte sie nun auch.
Franziska lachte und hob das kleine Mädchen auf ihre Arme. »Hier ist deine neue Mutti, und da steht dein neuer Vati. Und der große Junge da, das ist dein Bruder Holger. Einverstanden?«
Werner Rombold umfaßte mit einem liebevollen Blick seine große Familie. Dann reichte er Denise von Schoenecker die Hand, um sich zu verabschieden.
Als sie langsam auf das Auto zugingen, erklang aus dem alten Herrenhaus ein hübsches Sommerlied, das von hellen Kinderstimmen gesungen wurde.