Читать книгу Sophienlust Bestseller Staffel 2 – Familienroman - Marisa Frank - Страница 9

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Auf der teppichbespannten Treppe, die vom ersten Stock in die Halle ­führte, begegnete Frau Rennert, die Heimleiterin von Sophienlust, Schwester Regine. Sie verhielt ihren Schritt. »Eine wohltuende Stille«, meinte sie lächelnd. »Ist es Ihnen wirklich gelungen, die kleine Rasselbande ins Bett zu stecken?«

Schwester Regine, Kinder- und Krankenschwester in Sophienlust, nickte. »Ich habe gerade nachgesehen, selbst Heidi schläft. Wir waren heute vormittag beim Forsthaus. Kein Wunder also, daß die Kleinen müde sind.«

In der Halle ging eine Tür. Ein dreizehnjähriges Mädchen, mit einer Stupsnase und unzähligen Sommersprossen, kam aus einem der Zimmer. »Da bist du ja, Schwester Regine. Das mußt du unbedingt lesen.« Das Mädchen schwenkte die Tageszeitung.

Schwester Regine schüttelte unwillig den Kopf. »Ich dachte, ihr Großen macht eure Hausaufgaben.«

»Tun wir auch. Ich muß nur noch Englisch machen. Hier, das ist wichtig.«

»Laß sehen.« Schwester Regine, eine noch junge Frau von 28 Jahren, nahm dem Mädchen die Zeitung aus der Hand. »Oh!« meinte sie, nachdem sie den Artikel überflogen hatte.

»Glaubst du, daß Tante Isi und Nick das auch gelesen haben?« fragte Pünktchen. Pünktchen war ihr Spitzname, den sie ihren vielen Sommersprossen verdankte. Sie fand ihn aber lustig, und es machte ihr überhaupt nichts aus, daß alle sie nur so riefen.

»Ich werde Frau von Schoenecker darauf aufmerksam machen«, versprach Schwester Regine.

»Ja, Tante Isi muß das unbedingt lesen. Ich finde, da muß man etwas tun. Ein sechsjähriger Junge legt Feuer. Da steckt doch bestimmt mehr dahinter?« Fragend sah Pünktchen die Kinderschwester an.

»Kann man nicht sagen«, meinte Schwester Regine. »Nicht alles stimmt, was in den Zeitungen steht.«

»Tante Isi wird sich aber dafür interessieren, oder?«

»Das nehme ich schon an«, meinte Schwester Regine. Frau von Schoenecker verwaltete das Kinderheim Sophienlust bis zur Großjährigkeit ihres Sohnes Dominik von Wellentin-Schoenecker und nahm ihre Aufgabe sehr ernst. Sie versuchte nicht nur den Kindern, die in Sophienlust lebten, ein richtiges Heim zu bieten, sondern scheute auch keine Mühe, wenn es darum ging, ein gefährdetes oder verlassenes Kind nach Sophienlust zu holen.

»Kann ich die Zeitung wiederhaben?« Pünktchen streckte ihre Hand aus. »Nick soll das auch sehen.«

Schwester Regine unterdrückte ein Lächeln. Wie alle auf Sophienlust wußte auch sie, daß Pünktchen eine Vorliebe für Nick hatte. Seit Jahren schon war der nun sechzehnjährige Junge mit dem Mädchen befreundet. Nick war stolz auf das Kinderheim und half auch bereits gern mit. Pünktchen tat es ihm nach. Sie kümmerte sich stets liebevoll um die neuen oder kleineren Kinder.

»Nick wollte herkommen, wenn er seine Hausaufgaben gemacht hat«, berichtete Pünktchen. »Ich bin neugierig, was er davon hält. Irgendwie stimmt da doch etwas nicht.« Sie nahm die Zeitung wieder an sich.

»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, rief Schwester Regine. »Mach’ lieber deine Englisch-Aufgaben weiter.«

»Wird gemacht«, Pünktchen lächelte. »Ich werde heute sogar noch mit Nick lernen. Übermorgen schreiben wir nämlich eine Arbeit. Nick ist wirklich prima. Er will mich abfragen.« Jetzt strahlte das Mädchen über das ganze Gesicht.

»Wie geht es den anderen? Soll ich irgend jemanden bei den Aufgaben helfen?« erkundigte Schwester Regine sich.

»Nicht nötig. Hier wohnen nur kluge Kinder.« Pünktchen wirbelte davon. Schmunzelnd sah Schwester Regine ihr nach. Pünktchen hatte aber recht. Die Kinder von Sophienlust lernten wirklich brav. Jeden Morgen wurden sie mit roten Kleinbussen zur Schule gefahren, die Kleineren zur Grundschule nach Wildmoos, die Größeren zum Gymnasium nach Maibach.

*

»Bis zum Abend«, sagte Denise von Schoenecker.

Sofort erhob sich ihr Mann, Alexander von Schoenecker. Er hatte die Mittagspause genützt und in der Tageszeitung geblättert. »Das dürfte dich interessieren«, meinte er und reichte seiner Frau die Zeitung. »Hier!« Mit dem Zeigefinger deutete er auf einen Artikel.

Eine Falte erschien auf Denises Stirn. Alexander hatte damit gerechnet. Er verwaltete den Familienbesitz Schoeneich selbst und war daher ein vielbeschäftigter Mann. Trotzdem fand er noch Zeit, mit seiner Frau über Sophienlust zu sprechen, das durch eine Straße mit dem Gut verbunden war. Er liebte seine Frau sehr, und daher versuchte er auch stets, Anteil an ihrer Arbeit zu nehmen.

»Wenn das stimmt! Der arme Junge!«

Erstaunt sah Alexander seine Frau an. »Im Gegenteil, der Junge muß sehr ungezogen sein. Legt einfach Feuer! Zum Glück konnte verhindert werden, daß die ganze Wohnung ausbrannte.«

»Hier steht aber, daß der Junge erst sechs Jahre alt ist. Er muß schon sehr verzweifelt sein, um so etwas zu tun.«

»Das ist wieder typisch du.« Alexander legte seiner Frau die Hände auf die Schultern. »Du liest aus so einem Artikel immer alles mögliche heraus. Aber wahrscheinlich hast du recht, wie immer.« Er küßte seine Frau auf die Stirn. »Erzählst du mir am Abend von dem Jungen? So wie ich dich kenne, wirst du doch nähere Erkundigungen einziehen.«

»Worauf du dich verlassen kannst! Ich habe sowieso vor, nach Maibach zu fahren. Zuerst muß ich aber noch nach Sophienlust. Und was machst du?«

»Du hast recht, auch für mich wird es Zeit. Ich muß mich um ein krankes Fohlen kümmern. Ich werde aber versuchen, pünktlich zum Abendessen hier zu sein.«

»Ich auch«, versprach Denise. Sie wechselte mit ihrem Mann noch einen liebevollen Blick, dann verließ sie das Wohnzimmer.

Denise wollte gerade in ihr Auto steigen, als ihr einfiel, daß Nick hatte mitfahren wollen. Sie drehte sich um und blickte zum Haus hin, einem schloßartigen Bau mit einem Turm, der nicht nur bei allen Besuchern Begeisterung auslöste, auch sie erfreute sich immer wieder an diesem Anblick. Im stillen nannte sie es ihr Märchenschloß. An den dunklen Mauern rankte sich wilder Wein empor. Es war ihr kleines Paradies, in dem sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern glücklich und zufrieden lebte.

Während sie noch sinnend auf das Haus sah, öffnete sich die Tür und Nick kam heraus. »Mutti«, rief er, »hast du mich vergessen?«

»Wie du siehst, warte ich«, entgegnete Denise.

»Warum hast du mir nicht gesagt, daß du fährst? Ich war in meinem Zimmer.«

»Weil ich es vergessen habe.« Denise lachte. »Komm’ steig ein!« Sie öffnete für ihren Sohn die Autotür. »Was hast du in Sophienlust vor?«

»Nichts Besonderes«, meinte Nick. Er glitt auf den Beifahrersitz. »Ich werde prüfen, ob Pünktchen ihre Englisch-Vokabeln auch gepaukt hat.« Er lachte. »Vielleicht sehe ich dann noch nach dem kranken Fohlen. Das heißt, wenn Pünktchen Lust dazu hat.«

»Ich höre immer wieder Pünktchen«, neckte seine Mutter ihn.

»Pünktchen ist auch ein patentes Mädchen«, sagte Nick ohne die geringste Verlegenheit. »Weißt du, sonst halte ich eigentlich nicht viel von Mädchen. Meine Klassenkameradinnen sind alles dumme Gänse. Die laufen nur noch mit Spiegel und Lippenstift herum. Pünktchen ist da anders. Mit ihr kann man über alles reden. Na, du weißt ja, was ich meine. Du verstehst dich mit Vati ja auch prima. Ihr besprecht doch auch alles miteinander.«

Denise unterdrückte ein Schmunzeln. Sie hatte nichts gegen die Freundschaft ihres Sohnes mit Pünktchen. Sie hatte das Mädchen auch sehr gern. Es war gescheit, lebhaft und auch sehr hilfsbereit. Pünktchen lebte schon viele Jahre in Sophienlust. Ihr richtiger Name war Angelina Dommin. Sie war ein Zirkuskind, konnte sich aber kaum noch an ihr damaliges Leben erinnern. Ihre Eltern hatte sie bei einem Zirkusbrand verloren, danach war sie ausgerissen, und Nick hatte sie gefunden und ins Kinderheim gebracht.

»Übrigens scheint Henrik in einem schwierigen Alter zu sein«, fuhr Nick fort. »Bei jeder Gelegenheit schmollt er.«

Nun lachte Denise doch. »Er macht sich eben gern wichtig und beneidet dich«, meinte sie. »Kannst du das nicht verstehen?«

»Schon«, gab Nick zu. Im großen und ganzen verstand er sich mit seinem sieben Jahre jüngeren Bruder gut. »Er kann es aber auch übertreiben und manchmal zu einer Plage werden. Jetzt, zum Beispiel, hat er unbedingt gewollt, daß ich seinetwegen in Schoeneich bleibe. Diesmal habe ich aber nicht nachgegeben.«

»Dann wird er sich sicher bald auf sein Fahrrad schwingen und nachkommen«, meinte seine Mutter gelassen.

Auch das Kinderheim Sophienlust, ein ehemaliger herrschaftlicher Besitz, lag in einem großen Park. Das Haus war ein großes einstöckiges Gebäude mit neuangebautem Nebentrakt. Eine Freitreppe führte zum Portal, durch das man in eine Halle gelangte. Diese Halle war der Mittelpunkt von Sophienlust.

Denise ließ ihr Auto vor der Freitreppe ausrollen.

»Danke, Mutti.« Rasch sprang Nick heraus. Zwei Stufen auf einmal nehmend eilte er die Treppe empor, und schon war er im Innern verschwunden. Von der Halle aus führten Türen zu allen im Erdgeschoß liegenden Zimmern. Zielsicher steuerte Nick die Tür zum Aufenthaltsraum an, wo die größeren Kinder noch bei ihren Schularbeiten saßen. Unter ihnen befand sich auch Pünktchen, die bei seinem Anblick sofort aufsprang.

»Fein, daß du schon da bist! Ich muß dir etwas zeigen.« Sie griff nach der Zeitung, welche sie vorsorglich vor sich liegen gehabt hatte.

»Sind das etwa deine Englisch-Vokabeln?« ulkte Nick.

»Es ist wichtig.« Sie hielt ihm die Zeitung vor die Nase.

»Ein Zimmerbrand«, stellte Nick fest, nachdem er einen kurzen Blick auf den Artikel geworfen hatte. »Seit wann interessierst du dich für Brände? Willst du etwa zur Feuerwehr gehen?«

»Lies doch richtig!« forderte Pünktchen ungeduldig.

»Dann mußt du die Zeitung ruhiger halten. Du schlägst sie mir ja ins Gesicht.«

»Mensch, Nick. Sei doch mal einen Augenblick ernst! Es handelt sich um ein Kind.«

»Gib her!« Nick nahm ihr die Zeitung aus der Hand. Er las aufmerksam. Seine Stirn kräuselte sich. Ehe er etwas sagte, las er Wort für Wort noch einmal.

»Was sagst du nun?« fragte Pünktchen. Sie hatte ihn beim Lesen nicht aus den Augen gelassen.

»Das muß Mutti sehen«, bestimmte Nick.

Pünktchen war enttäuscht, und sie machte keinen Hehl daraus. »Ich dachte, wir könnten uns mal umsehen. Sicher kann uns morgen jemand in der Schule sagen, wo es gebrannt hat.«

»Finde ich nicht gut.«

Pünktchen verzog beleidigt das Gesicht.

»Ich finde es aber gut, daß dir der Artikel aufgefallen ist.« Nick legte seiner Freundin den Arm um die Schultern. »Da steckt bestimmt mehr dahinter. Und deshalb muß Mutti sich auch damit befassen. Ich habe Mitleid mit dem kleinen Jungen. Richtig gemein schreibt der Journalist. Er scheint zu vergessen, daß der Kleine erst sechs Jahre alt ist.«

Pünktchen strahlte wieder. »Genau das finde ich auch«, versicherte sie.

»Gut, dann gehen wir damit gleich zu Mutti. Komm!« Nick nahm Pünktchen an der Hand und zog sie aus dem Zimmer.

Denise von Schoenecker hatte gerade das Empfangs- und Bürozimmer betreten, als die Tür wieder aufgerissen wurde.

»Mutti, du brauchst dich gar nicht erst zu setzen«, erklärte Nick.

»Na, na, wo brennt es denn?«

»Es hat gebrannt«, sagte Nick. Er setzte sich schwungvoll auf die Schreibtischkante. »Los, Pünktchen, zeige Mutti den Artikel.«

»Nicht nötig.« Denise setzte sich. »Ihr meint sicher den Zimmerbrand? In der Zeitung steht, daß der Brand rechtzeitig entdeckt und gelöscht wurde.«

»Aber der Kleine, Mutti! Hast du den Artikel nicht richtig gelesen?«

»Doch! Vati hat ihn mir gezeigt.«

»Und da kannst du hier so ruhig sitzen? Den Kleinen scheint niemand zu mögen. Mutti, da mußt du etwas unternehmen!«

Denise lächelte. »Habe ich auch vor. Ich fahre sowieso gleich nach Maibach.«

»Und was willst du tun?« Nick nahm Pünktchen die Zeitung aus der Hand. »Hier steht nirgends, wo es gebrannt hat.«

»Ich werde bei der Zeitung vorbeifahren. Dort können sie mir sicher Näheres sagen.«

»Eine gute Idee«, lobte Nick. Man sah ihm an, daß er stolz auf seine Mutter war. »Was habe ich dir gesagt«, meinte er zu Pünktchen gewandt. »Mutti weiß sofort, was zu tun ist. So, jetzt können wir uns deinen Vokabeln widmen.« Nick rutschte von der Schreibtischkante.

Pünktchen schnitt eine Grimasse, aber das übersah Nick geflissentlich.

*

»Rainer, dein Typ wird verlangt.«

Rainer Bichler saß an der Schreibmaschine und tippte gerade einen neuen Artikel. Er hob den Kopf. »Keine Zeit, dieses Zeug soll noch in die Abendausgabe.«

»Der Chef persönlich wünscht dich zu sprechen. Bei ihm ist eine Frau von Schoenecker.«

»Schoenecker«, überlegte der Journalist laut. »Bei Wildmoos gibt es ein Gut Schoeneich. Es ist im Besitz der Familie von Schoenecker und wird von Alexander von Schoenecker selbst verwaltet. Richtig«, fiel ihm dann noch ein, »seine Frau verwaltet ein Kinderheim, von dem man nur Gutes hört.«

»Genau. Um diese Frau handelt es sich«, bestätigte der Kollege.

»Was kann sie nur wollen?«

»An deiner Stelle würde ich zum Chef gehen, dann erfährst du es sicher. Frau von Schoenecker ist übrigens eine sehr aparte Frau.«

»Und dieser Artikel?« Rainer deutete auf seine Schreibmaschine. »Ich kann mich schließlich nicht zerreißen.«

»Vielleicht kann ich ihn für dich fertigmachen.«

»Genau! Das ist die Idee. Ich soll über die Schulfeier berichten. Notizen findest du in dieser Mappe.« Zufrieden erhob Rainer sich von seinem Stuhl. Ehe es sich der Kollege noch anders überlegen konnte, eilte er zum Chefbüro. Nach kurzem Klopfen trat er ein.

»Da sind Sie ja«, begrüßte ihn der Chef. »Frau von Schoenecker hätte ein paar Fragen an Sie.« Dann wandte er sich der Dame zu, die vor seinem Schreibtisch saß. »Das ist Herr Bichler, der über den Brand berichtet hat.«

Rainer trat näher. Fasziniert starrte er Denise von Schoenecker an. Sie war groß und schlank, hatte schwarzes Haar und dunkle Augen und wirkte noch immer sehr jugendlich. »Was kann ich für Sie tun?« fragte er und machte eine galante Verbeugung.

»Ich bin wegen des Artikels über den Zimmerbrand hier.«

»Ach der!« Rainer Bichler machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der Schaden ist nicht der Rede wert. Das Bemerkenswerteste daran war nur, daß der Brand von einem kleinen Jungen gelegt wurde.«

»Ich habe es gelesen. Mich interessiert der Junge. Wissen Sie Näheres über ihn?«

»Ich sprach mit seiner Tante. Den Jungen habe ich aber auch kennengelernt. Wenn es mein Kind wäre, dann würde ich ihm gehörig den Hintern versohlen«, sagte Rainer mit Überzeugung.

»Ich würde mich mit Ihnen gern ausführlicher darüber unterhalten.« Denise erhob sich. »Haben Sie etwas Zeit?«

»Selbstverständlich.« Im Geiste rieb Rainer sich die Hände. Während sein Kollege sich nun mit seinem Bericht abmühte, konnte er mit dieser aparten Frau plaudern.

Denise sah den Redaktionschef an. »Kann ich irgendwo ungestört mit Herrn Bichler sprechen?« fragte sie.

»Hier«, antwortete der Chefredakteur. »Ich muß mich sowieso um die Fotos für die Abendausgabe kümmern. Darf ich Ihnen vielleicht einen Kaffee anbieten?«

Denise war aber schon eine andere Idee gekommen. »Vielen Dank«, sagte sie, »aber das ist nicht nötig. Gegenüber Ihrer Redaktion befindet sich doch ein kleines Café. Wir könnten dorthin gehen, oder was meinen Sie?« Denise sah den Journalisten an. Dieser war begeistert.

»Selbstverständlich. Es ist ein sehr nettes Café.«

Denise lächelte. Sie versuchte, seinen Eifer zu dämpfen, indem sie sagte: »Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Ich finde es schrecklich, daß so ein kleiner Junge versucht hat, eine Wohnung anzuzünden.«

»Ist es auch«, bestätigte Rainer sofort. »Mir ist selten ein verzogeneres Balg begegnet.«

»Verzogen? Ich glaube, ich sehe es ein bißchen anders.«

»Frau von Schoenecker leitet ein Kinderheim«, sagte der Chefredakteur.

»Ich weiß. Ich weiß auch, daß dieses Kinderheim einen ausgezeichneten Ruf besitzt. Außerdem ist mir bekannt, daß Frau von Schoenecker sich für jedes Kind einsetzt. Ihr ist es zu verdanken, daß einige Fälle von Kindesmißhandlung aufgeklärt wurden. Ich weiß zwar im Moment nicht, worum es jetzt geht, aber ich bin Ihnen gern behilflich.« Wieder verneigte sich Rainer leicht in Richtung Denise.

»Gut, dann können wir ja gehen.« Denise reichte dem Chefredakteur die Hand, und dann öffnete dieser für sie die Tür.

Das Café lag der Redaktion schräg gegenüber. Rainer entdeckte in einer Ecke ein freies Tischchen. Er führte Denise dorthin. »Was darf ich für Sie bestellen?« fragte er, als er ihr den Stuhl zurechtrückte.

»Eine Tasse Kaffee«, sagte Denise. Sie setzte sich. Wieder fühlte sie den bewundernden Blick des jungen Journalisten. Sie schüttelte leicht den Kopf und sagte: »Damit wir uns richtig verstehen, ich zahle den Kaffee selbst. Auch Ihre Bestellung geht auf meine Rechnung. Schließlich habe ich Sie um Ihre Begleitung gebeten. Ich würde gern mehr über den Zimmerbrand wissen. Sie haben nur wenige Zeilen darüber geschrieben.«

Rainer nahm Denise gegenüber Platz. Er fand es schade, daß sie so unnahbar war. Wenn hatte man schon Gelegenheit, einer solch bezaubernden Frau gegenüberzusitzen. Dann riß er sich aber zusammen.

»Da muß ich Sie enttäuschten, Frau von Schoenecker. Der Brand gab nicht mehr her. Es hat ja nicht einmal richtig gebrannt. In Zukunft wird Frau Reichelt sicher besser aufpassen. Stellen Sie sich vor, der Kleine hat gedroht, es noch einmal zu versuchen.«

»Das interessiert mich. Haben Sie diese Drohung selbst gehört, oder hat Ihnen Frau Reichelt davon erzählt?«

»Der kleine Junge drohte seiner Tante in meiner Gegenwart. Ich habe wirklich noch nie einen so ungezogenen Bengel gesehen. Von Reue keine Spur.« Die Bedienung trat an den Tisch und Rainer bestellte für Frau von Schoenecker und für sich je eine Tasse Kaffee.

»Sie sprechen nur von einer Tante«, nahm Denise das Gespräch wieder auf, nachdem sich die Bedienung entfernt hatte.

»Der Kleine lebt bei seiner Tante. Frau Reichelt hat mir erzählt, daß sie das Kind zu sich genommen hat, als es ein Jahr alt war. Bisher hat sie mit ihm aber nur Enttäuschungen erlebt.«

»Was hat sie Ihnen sonst noch erzählt?« fragte Denise, als Rainer schwieg.

»Sie hat sich natürlich über den Jungen beklagt, aber das wundert mich nicht. Ich hatte ihm wirklich nichts getan, trotzdem beschimpfte er mich und zeigte mir sogar die Zunge. Frau Reichelt war das sehr peinlich.«

»Und welchen Eindruck machte der Junge sonst auf Sie?«

Erstaunt sah Rainer auf Denise. »Das sagte ich doch schon. Mein Sohn dürfte das nicht sein.«

»Ich nehme an, daß Sie Ihren Sohn auch mit mehr Liebe erziehen würden«, meinte Denise.

»Bei diesem Kind ist Hopfen und Malz verloren«, erklärte der junge Journalist. Seine Miene verfinsterte sich, das Kind hatte ihn sogar anspucken wollen.

»Und warum ist der Kleine so geworden?« fragte Denise. »Meinen Sie nicht, daß es auch an der Erziehung liegt? Irgend etwas muß dabei wohl versäumt worden sein.«

Rainer zuckte die Achseln. So weit hatte er noch nicht gedacht.

»Warum wohnt der Kleine übrigens bei seiner Tante? Wissen Sie das?«

»Ja. Er ist der Sohn von Frau Reichelts Schwester. Ein uneheliches Kind.«

»Aha«, sagte Denise. Jetzt wunderte sie nichts mehr. Dem Kleinen hatte Liebe gefehlt. Wahrscheinlich wurde er von seiner Tante nur geduldet. Doch Denise wollte kein voreiliges Urteil fällen. Sie bat daher: »Können Sie mir die Adresse von Frau Reichelt geben? Ich würde die Frau gern aufsuchen?«

»Natürlich. Aber was wollen Sie von ihr?« In Rainer erwachte Interesse.

»Mich mit ihr unterhalten. Vielleicht kann ich ihr und dem Jungen helfen.«

»Warum wollen Sie das tun?« Rainer musterte die aparte Frau ohne Scheu. »Sie waren doch einmal Tänzerin, nicht wahr?«

Denises Miene verschloß sich. »Das ist schon lange her.«

»Aber Sie sind noch immer eine sehr schöne Frau.«

»Danke!« Denise öffnete ihre Handtasche und holte ihr Notizheft heraus. »Würden Sie nun so gut sein und mir die Adresse von Frau Reichelt geben?«

»Natürlich!« Rainer hatte die Adresse noch im Kopf und nannte sie ihr. Dann strahlten seine Augen Denise wieder bewundernd an. »Sie könnten noch immer auf der Bühne stehen.«

»Hören Sie auf«, entgegnete Denise unwillig und leerte ihre Tasse.» Ich möchte Sie nicht länger aufhalten.«

Rainer wurde nun sichtlich verlegen. »Verzeihen Sie. Ich wollte Sie nicht...«

»Ist schon gut. Im übrigen danke ich Ihnen.«

»Habe ich Ihnen helfen können?« In Rainer erwachte wieder das berufliche Interesse. »Was werden Sie tun? Wollen Sie den Kleinen nach Sophienlust holen? Ich kann Ihnen nur abraten.«

»So weit ist es noch lange nicht.« Denise winkte der Kellnerin. Sie war neugierig auf den Jungen. Sie wollte Frau Reichelt gleich aufsuchen.

*

»Tobi, Tobias! Wo steckst du denn schon wieder?« Frau Reichelts Stimme klang schrill. Da keine Antwort kam, eilte sie über den Gang und riß die Tür zum Kinderzimmer auf.

»Kannst du keine Antwort geben?« fuhr sie den Kleinen an, der an einem Tischchen saß und malte.

»Nein«, sagte Tobias. Ohne aufzusehen, malte er weiter.

»Tobias, so geht es nicht weiter! Ich komme zu gar nichts mehr. Dauernd muß ich hinter dir herlaufen.«

»Mußt du doch gar nicht«, entgegnete Tobias seelenruhig.

»Doch, ich muß. Wer weiß, was du wieder anstellst! Keine Sekunde lasse ich dich mehr aus den Augen!«

Nun wandte Tobias ihr das Gesicht zu. »Wenn ich will, dann mache ich wieder Feuer!« schrie er seiner Tante ins Gesicht.

Inge Reichelt hob die Hand. Blitzschnell duckte Tobias sich. Da ließ sie ihre Hand wieder sinken. »So geht es doch nicht«, jammerte sie. »Tobi, willst du das denn nicht einsehen? Stell dir nur vor, alles hätte verbrennen können. Alle deine schönen Sachen.«

»Mir egal.« Tobias sah trotzig an seiner Tante vorbei. »Ich will nichts haben.«

»Aber du hast doch so schöne Sachen. Sieh nur, dort ist dein Bär. Auch er wäre verbrannt.«

Nun schluckte Tobias. Seinen Bären liebte er. Ohne ihn ging er nie zu Bett. Trotzdem wandte er seinen Kopf zur Seite. »Ist egal. Ich brauche nichts«, stieß er erneut hervor.

»Junge, Junge, ich weiß nicht, wie das noch enden soll.« Inge Reichelt wollte ihrem Neffen die Hand auf den Kopf legen, doch dieser drehte sich rechtzeitig zur Seite.

»Kannst du dich überhaupt nicht anständig benehmen?« Inge Reichelt seufzte. »Da bemühe ich mich all die Jahre, und das hat man nun davon.« Sie seufzte erneut. »Dein Onkel hat ganz recht, ich bin viel zu gut zu dir gewesen.«

»Dann hau mich doch«, höhnte Tobias. Mit vorgeschobener Unterlippe und trotzigem Gesicht sah er zu seiner Tante auf. Diese hob drohend die Hand.

»Das werde ich auch noch tun. Ich lasse dir nicht mehr alles durchgehen. Und in Zukunft bleibt die Tür offen. Ich will immer wissen, was du tust.«

»Ich zünde dir wieder den Vorhang an. Ich habe noch Zündhölzer. Willst du sie sehen?« Grinsend schob Tobias die rechte Hand in seine Hosentasche.

Diesmal war Inge Reichelt schneller. Wie eine Furie fuhr sie auf den Kleinen los. »Gib sofort her!«

»Au!« schrie Tobias. Seine Tante hatte ihn sehr unsanft gepackt.

»Los!« Sie riß ihm die Hand aus der Hosentasche. »Wo sind die Streichhölzer? Wird es bald!«

»Ich habe keine«, sagte Tobias. Er senkte den Kopf.

Seine Tante hob ihn vom Stühlchen. Sie durchsuchte ihn gründlich und ging dabei nicht gerade sanft mit ihm um. Tobias preßte seine Lippen fest aufeinander. Kein Klagelaut entschlüpfte ihm mehr.

»Du hast also wieder einmal gelogen.« Inge Reichelt versetzte ihrem Neffen einen derben Stoß, so daß er gegen das Tischchen fiel. »So nicht, mein Junge! Mit meiner Geduld ist es nun zu Ende. Ich habe dir wirklich viel durchgehen lassen. Du bleibst heute den ganzen Tag in deinem Zimmer! Und die Tür bleibt offen! Wehe, du kommst ohne Erlaubnis heraus!«

»Ich bleibe gern hier. Geh, geh doch endlich aus meinem Zimmer.« Tobias ballte die Hände.

»Na warte, wenn erst der Onkel kommt.« Empört schnappte Inge Reichelt nach Luft, dann besann sie sich aber und ging zur Tür. Dort drehte sie sich nochmals um. »Du hast verstanden, du verläßt das Zimmer nicht ohne Erlaubnis!«

»Ich male«, sagte Tobias. Er setzte sich wieder auf sein Stühlchen und griff nach seinem Bleistift.

Frau Reichelt machte zwei Schritt auf ihn zu. »Wehe, wenn du das Tischchen anmalst. Du malst nur auf das Papier.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als Tobias mit dem roten Farbstift über das Blatt hinausfuhr. Dicke Striche malte er auf die Tischplatte. Frau Reichelt stieß einen Schrei aus. In diesem Moment klingelte es an der Wohnungstür.

»Da, du mußt aufmachen«, rief Tobias und warf den Rotstift weg.

Inge Reichelt rührte sich nicht. Sie starrte den Kleinen nur wütend an. Sie war mit ihren Nerven am Ende. Tobias bekam Angst. Er wich bis zum Schrank zurück. Da läutete es erneut.

»Vielleicht ist es Tante Sonja«, rief er. Dieser Gedanke weckte seine Lebensgeister wieder. Er schlug einen Haken um seine Tante, und dann raste er über den Flur und riß die Wohnungstür auf.

»Du, wer bist denn du?« Tobias starrte Denise von Schoenecker verblüfft an.

»Ich bin Tante Isi. Kannst du mir sagen, wie du heißt?« Denise lächelte Tobias freundlich an. Sie gewann stets sehr schnell das Vertrauen eines jeden Kindes. Tobias jedoch starrte sie nur finster an.

»Kann ich schon, aber ich will nicht. Du kannst wieder gehen. Ich will, daß Tante Sonja kommt.«

»Tobias, was soll das?« Mit hochrotem Gesicht kam Inge Reichelt aus dem Kinderzimmer. »Verzeihen Sie, bitte.« Sie bemühte sich um ein Lächeln, fuhr dann aber Tobias gleich wieder an. »Was habe ich dir gesagt? Du sollst doch in deinem Zimmer bleiben!«

»Will aber nicht.« Tobias lehnte sich an die Wand. Die Arme verschränkte er vor der Brust. Er sah zu Denise hin. »Was will sie hier?«

»Ich möchte mit deiner Tante sprechen. Entschuldigen Sie, Frau Reichelt, darf ich hereinkommen?«

Inge Reichelt kam näher. Sie musterte Denise. »Ich kaufe nichts«, sagte sie dann.

»Sie irren sich, ich bin keine Vertreterin. Ich habe in der Zeitung von dem Brand gelesen.«

Frau Reichelt ließ Denise nicht aussprechen. »Wir sind schon versichert.«

»Nein, es handelt sich auch nicht darum.« Denise lächelte Tobias zu, der noch immer an der Wand lehnte und finster vor sich hinstarrte. Dann erklärte sie mit kurzen Worten, wer sie war.

»Oh!« Inge Reichelt war überrascht. Gleich darauf hatte sie sich aber wieder gefangen. »Da siehst du, was du uns alles einbrockst«, sagte sie zu Tobias.

»Und ich mache es wieder«, sagte Tobias und stampfte mit einem Fuß auf.

»Da, jetzt hören Sie es selbst. Ich weiß wirklich keinen Rat mehr.« Inge Reichelt rang die Hände.

»Kann ich mal mit ihm sprechen?« fragte Denise.

»Wenn Sie glauben, daß Sie mehr Erfolg haben.« Spöttisch wölbten sich Inge Reichelts Lippen.

»Ich habe ständig mit Kindern zu tun«, meinte Denise.

»Natürlich. Bitte kommen Sie doch herein. Wir haben in der letzten Zeit schon daran gedacht, Tobias in ein Heim zu geben. Ich habe alles versucht, aber jetzt bin ich am Ende.« Inge Reichelt hob ihre Hände und ließ sie dann wieder sinken. Dann fiel ihr ein, daß Tobias Frau von Schoenecker noch nicht begrüßt hatte. Sie ging zu ihm hin.

»Tobi, so sag der Frau Grüß Gott. Mach’ einen schönen Diener. So wie du es gelernt hast.«

»Mag nicht.« Tobias steckte seine Hände in die Hosentaschen und drehte sich einfach um.

»Da sehen Sie es. Ich kann machen, was ich will, er folgt einfach nicht. Nur schämen kann man sich mit ihm.« Frau Reichelt seufzte. »Aber kommen Sie doch bitte ins Zimmer.«

»Gern.« Denise lächelte, obwohl ihr nicht zum Lachen zumute war. Sie wandte sich an Tobias: »Kommst du auch mit?«

»Darf nicht. Muß in meinem Zimmer bleiben.«

»Gut, Tobias, wenn du lieb bist, dann darfst du mit ins Wohnzimmer kommen«, lenkte Inge Reichelt ein. »Ich mußte ihm Zimmerarrest geben«, sagte sie zu Denise gewandt. »Er hat seinen Tisch bemalt.«

»Ich mache es wieder«, verkündete Tobias. Trotzig starrte er auf den Boden.

»Hast du kein Papier zum Malen?« fragte Denise.

»Doch!« Kurz hob Tobias den Kopf. »Ich male aber lieber auf den Tisch.«

»Da sehen Sie selbst«, jammerte Frau Reichelt. »Was soll man mit so einem Kind machen? Ich kann ihn doch nicht ständig schlagen.«

»Das wäre auch genau das Verkehrte«, sagte Denise.

»Das sage ich auch immer«, meinte Frau Reichelt sofort.

»Du kannst mich ruhig schlagen. Mir ist es egal.« Herausfordernd blickte Tobias seiner Tante ins Gesicht.

»Und da soll man ruhig bleiben! Nein, so geht es nicht weiter. Ich stimme meinem Mann zu, Tobias muß in ein Heim. Stellen Sie sich nur vor, wenn ich nicht zufällig ins Schlafzimmer gekommen wäre, wäre alles abgebrannt. Die Vorhänge hat er angezündet.«

»Ich mache es wieder«, schrie Tobias. Er rannte an seiner Tante vorbei und riß die Schlafzimmertür auf. »Das nächste Mal zünde ich die Decke an.«

Das übertraf Denises Befürchtungen bei weitem. Mit wenigen Schritten war sie bei dem Kleinen. Sie warf einen kurzen Blick ins Schlafzimmer. Der Schaden war wirklich nicht groß. Da hatte Rainer Bichler recht.

»Sieh nur, das habe ich getan«, rief Tobias triumphierend. »Jetzt haben die Tante und der Onkel keine Vorhänge mehr.«

»Das war aber gar nicht lieb von dir«, sagte Denise streng. Sie nahm den Jungen auf den Arm. Dieser zappelte mit Händen und Füßen. Dabei schrie er: »Ich will nicht lieb sein!«

»Warum nicht?« fragte Denise ruhig. Freundlich sah sie Tobias dabei ins Gesicht.

»Weil...« Er schluckte. Er blinzelte. Er wunderte sich. Die Augen der Frau blickten überhaupt nicht zornig. »Ich will einfach nicht«, sagte er gedehnt.

»Es wäre aber vernünftiger. Man würde dich dann auch liebhaben.« Denise strich Tobias über das Haar. Da erwachte wieder sein Trotz. Heftig drehte er seinen Kopf weg.

»Laß mich los!« forderte er und ehe Denise reagieren konnte, schlug er ihr einfach auf den Oberarm.

Mit keiner Geste verriet Denise, wie bestürzt sie war. Sie stellte Tobias auf den Boden zurück und ließ ihn los.

»Mich muß niemand liebhaben«, schrie der Kleine. »Ich brauche niemanden.« Er lief in sein Zimmer. Krachend schlug er die Tür hinter sich zu.

Frau Reichelt wollte ihm nachstürzen, doch Denise hielt sie zurück. »Lassen Sie ihn. Im Moment hat es nicht viel Sinn.«

»Aber so ist er immer. Er ist frech, und ich schäme mich für ihn.« Verzweifelt sah Frau Reichelt auf Denise. »Was mache ich nur falsch?«

Das war wenigstens schon etwas, fand Denise. Sie sagte »Darüber können wir uns gern unterhalten. Wenn Sie jetzt keine Zeit haben, komme ich ein andermal wieder.«

»Nein, nein«, sagte Inge Reichelt rasch. »Sie verwalten doch ein Kinderheim. Wäre es nicht möglich, Tobias dort unterzubringen? Seine Mutter, meine Schwester, ist tot. Sein Vater kümmert sich nicht um ihn. Er lebt in Amerika, aber er zahlt regelmäßig und außerdem gut.«

*

Fritz Reichelt steckte den Wohnungsschlüssel ins Schloß, da hörte er seine Frau auch schon schimpfen. Sein Gesicht verzog sich. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt. Seine Frau hatte ihn jedoch schon gehört. Sie kam ihm entgegen.

»Gut, daß du kommst. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich tun soll. Tobias hat sich unter seinem Bett versteckt. Ich kann mir die Seele aus dem Leib rufen, er reagiert nicht.«

»Ich will mit ihm nichts mehr zu tun haben«, sagte Fritz Reichelt mürrisch. »Von mir aus kann er unter dem Bett hocken bleiben.«

»Das geht doch nicht«, jammerte seine Frau.

»Mich laß jedenfalls mit ihm zufrieden.« Fritz Reichelt ging an seiner Frau vorbei. Er setzte sich ins Wohnzimmer und schlug die Zeitung auf. Er kam aber nicht zum Lesen, denn seine Frau hielt ihrem Neffen so laut eine Standpauke, daß er keine Ruhe hatte.

»Wenn du jetzt nicht sofort unter dem Bett hervorkommst, dann kommt der Onkel«, schrie sie hysterisch. Sie wußte sich nicht mehr anders zu helfen. »Dann kannst du aber etwas erleben!«

Seufzend erhob Fritz Reichelt sich. So ging es nun wirklich nicht weiter. Der Junge mußte aus dem Haus. Er hatte endgültig genug von diesem Theater.

Erleichtert atmete Inge Reichelt auf, als sie ihren Mann ins Kinderzimmer treten sah. Sie deutete zum Bett hin.

»Was ist hier los?« grollte Fritz Reichelt. »Wenigstens am Feierabend möchte ich meine Ruhe haben. Sei sofort still!«

»Ich tue doch gar nichts. Tante soll mich bloß in Ruhe lassen«, kam es unter dem Bett hervor.

»Jetzt reicht es aber. Frech auch noch! Inge hole den Stock.«

»Nein!« Nun bekam es Tobias doch mit der Angst zu tun. Langsam kam er unter dem Bett hervorgekrochen. »Nicht schlagen!« Er machte Anstalten, unter die Bettdecke zu kriechen.

»Gib ihm etwas zu essen, und dann soll er ins Bett gehen«, befahl Herr Reichelt. »Ich will ihn nicht mehr sehen.«

»Das hast du nun davon«, sagte Inge Reichelt hoheitsvoll, und da Tobias sich nicht rührte, fuhr sie ihn an. »Hast du verstanden? Du mußt ins Bett. Also geh dich sofort waschen.«

Tobias warf seinem Onkel einen scheelen Blick zu, dann nickte er und trabte aus dem Zimmer.

»Ich habe Schinkenröllchen vorbereitet«, sagte Inge nun zu ihrem Mann. »Wir können gleich essen. Ich decke nur noch den Tisch.«

»Ich esse erst, wenn der Junge im Bett ist. Mir reicht es sowieso. Jeden Tag das gleiche Theater. Du wirst noch einmal erleben, daß ich nicht nach Hause komme.«

»Was soll ich tun«, jammerte Inge. »Es wird immer schlimmer. Ich wage mich mit ihm kaum noch vor die Tür.«

»Dein Problem. Schließlich ist er dein Neffe. Ich habe dich ja gewarnt. Was willst du von einem unehelichen Balg schon groß erwarten?« Fritz ließ seine Frau stehen. Als seine Frau ihm ins Wohnzimmer folgte, meinte er nur: »Sieh zu, daß du den Kleinen ins Bett bekommst.«

»Ja, natürlich. Der Junge war heute wirklich schwierig genug. Ich beeile mich. Wir machen uns dann einen gemütlichen Abend.«

»Gemütlich! Daß ich nicht lache. Bei uns ist es schon lange nicht mehr gemütlich.« Fritz Reichelt streckte die Beine weit von sich.

»Das wird sich ändern. Ich muß dir etwas erzählen.« Zuversichtlich lächelte Inge ihrem Mann zu, doch dieser hatte sich bereits wieder hinter seiner Zeitung vergraben. So ging sie ins Badezimmer. Dort traf sie Tobias nicht mehr an. Ärgerlich rief sie: »Tobias, wo bist du schon wieder?«

»Hier«, kam die Antwort aus dem Kinderzimmer. Er trug bereits seinen Pyjama.

»Du kannst dich überhaupt noch nicht gewaschen haben«, meinte Inge empört.

»Ich bin sauber genug.« Tobias verbarg seine Hände hinter dem Rücken.

»Du bist ein Ferkel, aber mir kann es recht sein. Ich muß mich sowieso nicht mehr lange mit dir herumärgern. Los, komm in die Küche, dort gebe ich dir etwas zu essen.«

»Habe aber keinen Hunger.«

»Wenn du glaubst, daß du mich heute noch ärgern kannst, dann hast du dich getäuscht.« Inge ließ den Jungen einfach stehen.

Mit offenem Mund starrte Tobias ihr nach. So eine Reaktion war er nicht gewöhnt. Er setzte sich aufs Bett und wartete. Seine Tante kam auch bald wieder zurück. In den Händen hielt sie ein Tablett.

»Hier!« Sie stellte das Tablett auf das Tischchen. »Hier hast du zwei Brote und ein Glas Milch. Ich will dich jedenfalls heute nicht mehr sehen.« Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, ging sie aus dem Zimmer.

»Es ist ja so still«, wunderte sich Fritz Reichelt, als seine Frau zu ihm ins Wohnzimmer kam.

»So wird es in Zukunft immer sein.« Inge setzte sich ihrem Mann gegenüber. »Hör zu.« Sie begann, ihm von Denise von Schoenecker zu erzählen. »Wenn sie meint, mit Tobias besser zurechtzukommen, dann soll sie es doch probieren«, schloß sie.

*

»Tobi, wohin willst du denn?« Sonja Kaiser streckte ihre Hand aus, aber Tobias Singer war schon an ihr vorbeigerast. Erstaunt sah sie ihm nach. Sie unterhielt sich oft mit dem Kleinen. Da sie neben den Reichelts wohnte, kannte sie Tobias gut. Sie hatte auch vor Jahren oft Babysitter gespielt. Diesmal hatte er sie nicht einmal gegrüßt.

Sonja Kaiser steckte ihren Wohnungsschlüssel wieder in die Tasche. Sie machte kehrt und stieg die Treppe wieder hinunter. Vor dem Haus sah sie sich um. Tobias saß auf dem Rand der Sandkiste. Sonja trat zu ihm.

»Was machst du da?«

»Tante Inge hat gesagt, ich soll spielen.«

»Ja, willst du denn nicht?«

»Nein.« Tobias senkte seinen Kopf.

»Warum nicht, Tobi? Es sind doch Kinder auf dem Spielplatz. Du kennst sie doch alle.«

Tobias blickte kurz zum Spielplatz hin. Dort gab es eine Wippe, ein Klettergerät und eine Rutsche. Diese Geräte wurden von allen Kindern der Umgebung gern benützt. Es herrschte stets reger Betrieb auf dem Spielplatz.

»Will nicht spielen.« Tobias stand auf. Mit dem Fuß stieß er dabei in die Erde.

»Warum denn nicht?« Sonja streckte Tobias ihre Hand hin. »Willst du es mir nicht sagen?«

»Nein.« Er versteckte seine Hände hinter dem Rücken.

Sonja war an seinen Trotz gewöhnt. Sie versuchte seit langem, zwischen ihm und seiner Tante zu vermitteln. Jetzt legte sie ihm ihre Hand auf die Schulter. Tobias ließ es sich gefallen. Er hob sogar den Kopf und sah sie an.

»Willst du es wirklich wissen?« fragte er.

»Ja. Die Kinder spielen alle so schön. Soll ich fragen, ob du mitspielen darfst?«

»Ich habe doch gesagt, daß ich nicht spielen will.« Tobias stieß Sonjas Hand zur Seite. »Ich finde die Kinder alle doof.«

»Aber Tobias! Du bist heute wieder einmal gar nicht lieb.« Sonja wollte nach ihm greifen, aber er wich zurück.

»Ich weiß. Ich will auch nicht lieb sein.« Er drehte sich um und lief davon. Sonja sah, daß er zur Grünanlage hinüberlief. Langsam folgte sie ihm.

Tobias saß auf einer Bank, er baumelte mit den Beinen und tat so, als ob er Sonja nicht sehen würde. Sonja setzte sich neben ihn. Sie konnte warten. Es dauerte lange, bis Tobias ihr seinen Kopf zuwandte.

»Was machst du da?« fragte er.

»Warten«, sagte Sonja und lächelte ihn an.

»Ich finde warten doof«, erklärte Tobias. Er rutschte von der Bank. »Ich gehe spazieren.«

»Tobias, du weißt doch, daß du den Spielplatz nicht verlassen darfst. Wenn deine Tante dich hier sehen könnte, würde sie wieder schimpfen.«

»Warum?« Tobias sah Sonja treuherzig an. Wenn er nicht gerade trotzig war, mochte er sie. »Du schimpfst ja auch nicht.«

Sonja biß sich auf die Lippen. Es war wirklich nicht einfach mit dem Kleinen. »Weißt du«, versuchte sie zu erklären, »deine Tante ist für dich verantwortlich. Du bist noch zu klein, um allein herumzulaufen.«

»Schade, daß nicht du für mich verantwortlich bist«, meinte Tobias.

»Ich würde dann auch mit dir schimpfen«, meinte Sonja ernst.

»Wirklich?« Tobias zog eine Schnute. »Das wäre aber nicht nett von dir.«

»Es muß aber sein. Du folgst meistens nicht.«

»Will auch gar nicht folgen.« Tobias stieß mit seinem Fuß nach der Bank. »Meine Tante kann auch ruhig schimpfen. Mir macht es nichts aus.«

»Aber mir. Ich mag keinen Buben, mit dem man immer schimpfen muß.« Sonja wandte sich ab.

»Wohin gehst du?« rief Tobias hinter ihr her.

»Zurück zum Spielplatz.« Sonja blieb stehen. »Willst du nicht mitkommen?«

»Nein. Ich gehe fort. Weit fort. Ich brauche niemand.« Das klang so traurig, daß Sonja zu ihm zurückging und ihn in die Arme nahm.

»Es stimmt«, schluchzte Tobias. »Alle anderen Kinder haben eine Mami. Ich habe keine.«

»Ich weiß.« Sonja drückte ihn zärtlich an sich. »Deine Mami ist tot. Deswegen hat deine Tante dich zu sich genommen.«

»Jetzt will sie mich weggeben. Zu einer fremden Frau«, platzte Tobias heraus.

»Wie?« Sonja erschrak.

»Mir macht es aber gar nichts aus«, erzählte Tobias weiter und dabei liefen ihm die Tränen über die Wangen. »Mir ist es egal, wo ich wohne. Mir ist auch egal, wenn sie mit mir schimpfen. Ich werde auch bei dieser neuen Tante böse sein. Ich bin nun mal der böse und schlimme Tobias. Und spielen werde ich auf keinen Fall.«

Gerne hätte Sonja den Kleinen geherzt und geküßt, aber sie wagte es nicht. Er war so unberechenbar. Sie sah auf die Uhr. Eigentlich hatte sie keine Zeit mehr, aber das war jetzt nicht so wichtig.

»Tobi«, sagte sie liebevoll. »Hättest du Lust zum Spazierengehen?«

»Darf doch nicht.«

»Wenn ich mitgehe, schon. Ich frage deine Tante.« Sonja hielt Tobias ihre Hand hin. »Nun?«

Er schob seine Hand in die ihre. Ganz nachgeben wollte er aber noch nicht, daher maulte er: »Weiß nicht, ob ich spazierengehen will.«

»Wir werden bis zur Eisdiele gehen«, lockte Sonja. Sie unterdrückte ein Schmunzeln, denn Tobias’ Gesichtchen begann zu strahlen.

*

»Ich habe ein Bild gemalt, ein schönes Bild.« Heidi Holsten, das jüngste Dauerkind von Sophienlust, schwenkte das Blatt durch die Luft.

Niemand beachtete sie in diesem Moment. Fabian und Vicky waren mit einem Puzzlespiel beschäftigt. Angelika, Vickys zwei Jahre ältere Schwester, war bemüht, einen Fehler in ihrer Strickarbeit zu beheben. Sie fluchte leise, denn zum x-tenmal war ihr die Masche wieder von der Nadel geglitten. Pünktchen sah und hörte überhaupt nichts. Sie saß auf dem Bärenfell, welches vor dem offenen Kamin lag, und war in ein Buch vertieft.

»Ja, will denn keiner mein Bild sehen«, rief die fünfjährige Heidi beleidigt.

»Zeig schon her«, sagte Fabian. Er streckte seine Hand aus, ohne einen Blick vom Puzzle zu lassen.

»Da!« Heidi drückte es ihm in die Hand. »Ist es nicht schön?«

Fabian sah kurz hin. »Ganz schön«, meinte er.

»Es ist sehr schön! Es muß schön sein. Ich will jemand damit eine Freude machen.« Heidi nahm das Bild Fabian wieder weg.

»Pünktchen, schau du es an.« Sie ließ sich neben Pünktchen auf das Bärenfell fallen und hielt ihr das Bild unter die Nase.

»Du hast es selbst gemalt?« Pünktchen nahm das Bild.

»Es soll ein Haus sein. Weißt du, was es sein soll?« Erwartungsvoll sah Heidi Pünktchen an.

»Ein Haus, das sieht man deutlich. Es hat ein schönes Dach und große Fenster.«

»Ja, aber was für ein Haus«, drängte Heidi.

Das war schon schwieriger. Viel konnte man aus der Zeichnung nicht herauslesen. Die Striche waren noch ziemlich wackelig. »Es ist ein schönes Haus«, sagte Pünktchen daher nur.

»Klar! Es ist ja Sophienlust.«

»Natürlich. Das hast du fein gemacht«, lobte Pünktchen.

Heidi strahlte. Dann fragte sie: »Glaubst du, es wird ihm gefallen?«

»Sicher. Willst du es Nick schenken?«

»Ich meine doch nicht Nick.« Heidi nahm Pünktchen ihr Bild wieder aus der Hand. »Nick ist doch schon ein lieber und braver Junge.«

Pünktchen mußte lachen.

»Lach’ nicht«, schimpfte Heidi: »Nick ist doch wirklich lieb. Tante Isi hat aber gesagt, daß der Junge nicht lieb ist.«

»Wen meinst du denn?« fragte Pünktchen erstaunt.

»Den Jungen, der zu uns kommt. Tante Isi hat gesagt, er ist schwierig. Was heißt schwierig?«

»Schwierig ist dieses Puzzle«, meinte Fabian.

»Das verstehe ich nicht.« Heidi sprang auf und lief zu Fabian hin. »Warum ist das Puzzle schwierig?« Sie griff nach einigen Teilen.

»Laß das«, rief Fabian entsetzt. »Du bringst uns wieder alles durcheinander.«

»Schrei doch nicht so.« Erschrocken ließ Heidi die Teilchen fallen. Doch sie hatte sich gleich wieder gefaßt, stemmte die Hände in die Seiten und fragte, während sie Fabian neugierig ins Gesicht starrte. »Bist du auch ein schwieriges Kind?«

Inzwischen war die zwölfjährige Angelika auch aufmerksam geworden. Sie ließ ihre Strickerei sinken. »Wie kommst du denn darauf? Wir haben hier doch keine schwierigen Kinder.«

Heidi nickte. »Das habe ich mir auch gedacht. Wir sind doch alle lieb. Aber gerade hat Fabian auch geschrien. Der Junge soll auch schreien und nie das tun, was er tun soll. Aber Tante Isi hat auch gesagt, daß er dringend Hilfe braucht.«

Fabian tippte sich vielsagend an den Kopf. »Von wem spricht sie eigentlich?«

»Ich glaube von Tobias. Ihr wißt doch, daß wir heute ein neues Kind bekommen.« Pünktchen erhob sich. »Sag’ mal, hast du gelauscht? Tante Isi hat so etwas doch nicht zu dir gesagt.«

»Nein, sie hat es zu Tante Ma gesagt, aber ich war dabei. Gelauscht habe ich nicht. Ich habe nur meine Ohren nicht zugemacht.«

»Das ist doch das gleiche«, rief Viktoria, die allgemein Vicky genannt wurde. »Tante Isi hat bestimmt nicht gewußt, daß du in der Nähe warst!«

»Klar«, gab Heidi ungerührt zu. »Ich wollte doch etwas über den Jungen erfahren. Ich freue mich doch, daß wir ein neues Kind bekommen. Der Tobias ist nur ein bißchen älter als ich.«

»Und was hast du noch erfahren?« fragte Vicky neugierig.

Heidi zuckte die Achseln. »Ich habe nicht alles verstanden.« Sie runzelte die Stirn. »Vielleicht will der Junge nicht zu uns kommen. Das haben wir ja schon gehabt. Er weiß ja noch nicht, wie schön es bei uns ist. Deshalb habe ich ihm das Bild gemalt. War das nicht lieb von mir?« Beifallheischend sah Heidi zu Pünktchen hin.

»Das war lieb von dir«, bestätigte diese auch sogleich. »Heidi hat recht«, setzte sie hinzu. »Wir müssen zu dem Jungen besonders lieb sein. Das hat Tante Isi uns doch gesagt.«

Die Kinder nickten. Vicky, die gern ein wenig vorlaut war, fragte:» Warum weißt du, daß wir zu Tobias besonders lieb sein müssen?«

»Weil...« Pünktchen suchte nach Worten. Sie wollte nicht verraten, daß sie Bescheid wußte. Sie hatte lange mit Nick darüber geredet. Tante Isi hatte Nick und ihr von ihrem Besuch bei Tobias’ Tante ausführlich erzählt. Daher wußte sie auch, daß Tobias voll Trotz und Widerspruch steckte.

»Was liest du da eigentlich?« fragte Angelika. Sie hatte das Taschenbuch in Pünktchens Hand entdeckt.

»Oh, nichts!« Pünktchen wurde rot.

»Zeig’ mal her«, Angelika nahm ihr das Buch aus der Hand. Sie las, dann fragte sie erstaunt: »Seit wann beschäftigst du dich mit Erziehungsfragen?«

»Es ist wegen Tobias«, gestand Pünktchen nun. »Er hat bisher nur wenig Liebe bekommen. Tante Isi hat euch doch gesagt, daß seine Mutter tot ist. Deshalb ist er ein so schwieriges Kind. Er lehnt sich gegen alles auf. Aber das ist auch kein Wunder, denn niemand scheint ihn richtig zu mögen.« Pünktchen hatte sich in Eifer geredet. »Nick hat mir das Buch besorgt. Wir wollen bei Tobias nicht die Geduld verlieren. Er wird sicher Schwierigkeiten haben, sich bei uns einzuleben.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Heidi. Mit offenem Mund sah sie Pünktchen an. »Wir sind doch lieb. Ich mag Tobias schon jetzt.«

»Natürlich. Aber Tobias wird es uns nicht leichtmachen. Versteht ihr?« Pünktchen sah zu Fabian und Angelika hin. Beide nickten.

»Prima, daß du dieses schlaue Buch liest«, meinte Angelika mit Bewunderung. »Du kannst uns dann immer sagen, wenn wir etwas falsch machen.«

»So einfach ist das auch wieder nicht«, schwächte Pünktchen Angelikas Begeisterung ab. »Ihr müßt euch schon selbst bemühen. Ihr müßt einfach Geduld haben.«

»Tante Isi muß doch jeden Augenblick mit dem Jungen kommen. Sollen wir nicht hinausgehen? Dann können wir ihn gleich begrüßen«, schlug Fabian vor.

»Ja«, rief Heidi. »Mein Bild nehme ich mit. Ich schenke es ihm gleich. Ihr solltet ihm auch etwas schenken.« Sie lief als erste zur Tür.

*

»Ich will nicht mehr weiterfahren. Ich will aussteigen.« Tobias trat mit den Füßen gegen den Vordersitz.

Denise von Schoenecker unterdrückte einen Seufzer. So ging es seit Beginn der Fahrt. Zum Glück war es von der Kreisstadt Maibach bis nach Wildmoos nicht sehr weit.

»Laß mich hier raus«, forderte Tobias erneut. »Ich laufe weg, weit, weit weg.«

»Das ist doch Unsinn.« Denise lenkte das Auto an den Straßenrand. Sie wandte sich nach Tobias um. »Was willst du denn ganz allein machen? Du würdest bald müde sein und Hunger haben.«

»Ist egal.« Finster starrte der Kleine vor sich hin.

»Gut, ich zwinge dich nicht, mitzukommen. Ich habe dir sehr viel von Sophienlust und den Kindern erzählt. Aber wenn du sie dir nicht einmal anschauen willst...«

»Ich will niemanden.« Erneut stieß Tobias mit dem Fuß gegen den Sitz.

»Das ist schade. Ich habe den Kindern schon von dir erzählt.«

»Du hast ihnen gesagt, daß ich ein böser und schlimmer Junge bin.« Tobias drehte den Kopf zur Seite.

»Bist du wirklich so böse und schlimm?« fragte Denise. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, aber er wich zurück.

»Tobi«, versuchte Denise es noch einmal. »Ich freue mich, daß du nun zu uns kommst.«

Tobias sah sie kurz an. Eigentlich gefiel sie ihm. Sie war fast so lieb wie Tante Sonja. Er aber wollte es allen zeigen. Seine Hände ballten sich. »Ich will da raus«, schrie er.

»Gut, aber es ist nicht richtig von dir.« Denise beschloß auszuprobieren, wie weit sein Trotz gehen würde. Sie stieg aus und öffnete die hintere Autotür. »Du kannst aussteigen.«

Sekundenlang sah Tobias sie verwirrt an, dann stieg er aus. »Ich gehe weit, weit weg«, drohte er erneut.

»Das würde mir leid tun. Ich finde, du bist ein netter Junge. Ich hätte in Sophienlust gerne mit dir gespielt.«

Sekundenlang vergaß Tobias seinen Trotz. Mit großen erstaunten Augen sah er Denise an. »Mit mir? So wie Tante Sonja?«

Denise wußte nicht, wer Tante Sonja war, aber das war jetzt unwichtig. »Sicher«, sagte sie. »Es wird sehr lustig werden. Weißt du ein paar Spiele?«

»Ja.« Tobias’ Miene erhellte sich.

»Das ist fein. Während wir weiterfahren, kannst du mir erzählen, was du spielen willst.« Denise wollte den Kleinen hochheben, aber sofort begann er sich wieder zu wehren.

»Will nicht. Laß mich los.« Er versuchte nach ihr zu schlagen, und als sie ihn trotzdem nicht losließ, streckte er ihr die Zunge heraus.

»Wie du willst!« Denise stellte ihn auf den Boden zurück. Ruhig fragte sie: »Was machst du nun?«

»Fortgehen, weit weg.« Sein Gesicht war jetzt wieder abweisend.

Denise hätte ihn gern gestreichelt und getröstet, aber sie wußte, daß es verkehrt gewesen wäre.

»Gut, wenn dir langweilig ist oder du Hunger bekommst, kannst du ja nach Sophienlust kommen.« Sie drehte sich um. So sah sie auch nicht Tobias’ verwirrten Gesichtsausdruck. Ratlos stand er da.

»Ich gehe wirklich«, sagte er dann und machte ein paar Schritte.

Denise ging um ihr Auto herum, sie versuchte, ihn gar nicht zu beachten. Nach einiger Zeit hörte sie Tobias sagen: »Auf Wiedersehen.«

Jetzt hob sie den Kopf. Der Junge hatte sich einige Meter entfernt. Er stand mit dem Rücken zu ihr, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Er wirkte klein und hilflos. Trotzdem sagte Denise: »Auf Wiedersehen, und mach’s gut.«

»Klar! Ich bin ja schon groß.« Tobias streckte sich. Er setzte sich wieder in Bewegung. Aus den Augenwinkeln sah Denise, daß seine Schritte aber gleich wieder langsamer wurden. Doch dann begann er zu laufen. »Ich gehe weg«, rief er dabei.

Er schien sich entschlossen zu haben. Nun mußte sie handeln. Sie mußte ihn zurückhalten. Oder sollte sie ihn einfach laufenlassen? Sie konnte ihm ja mit dem Auto heimlich folgen.

Da blieb Tobias plötzlich stehen. Er drehte sich um. »Ich gehe weg, Tante.«

»Ja. Ich sehe es.« Denise seufzte laut. »Dabei hättest du es in Sophienlust so schön. Nun, du mußt ja wissen, was du tust.«

»Ich weiß es«, verkündete Tobias laut.

»Wohin willst du denn gehen?« fragte Denise.

»Weg!«

»Und wo willst du schlafen? Du kannst doch nicht die ganze Zeit laufen.«

»Ich bin nicht müde.«

»Ich würde allein nicht so weit gehen, das ist langweilig.«

»Ich will aber. Ich brauche niemanden. Ich gehe einfach geradeaus.«

»Viel Spaß«, wünschte Denise. Sie hob sogar die Hand und winkte ihm abschiednehmend zu.

Tobias schluckte. »Du... du willst, daß ich fortgehe?«

»Nein, ich möchte, daß du mit nach Sophienlust kommst. Ich fahre jetzt dorthin.«

»Will aber nicht.«

Denise zuckte die Achseln. Sie öffnete die Autotür. Jetzt kam es darauf an. Würde Tobias zurückkommen? Er tat es nicht.

»Laß mich in Ruhe«, schrie er, und dann ging er in die entgegengesetzte Richtung.

Ein Hund kam Denise zu Hilfe. Er kam laut bellend über die Wiese gehetzt und wäre wohl über den Graben gesprungen, hätte der Ruf seines Herrn ihn nicht zurückgehalten. Kläffend blieb er am Straßenrand stehen.

Tobias war zu Tode erschrocken. Zuerst stand er wie erstarrt, dann schlug er beide Hände vor das Gesicht und schrie.

»Nicht, Tobi. Du brauchst keine Angst zu haben.« Sie eilte auf ihn zu.

»Tante, hilf mir!« schrie Tobias außer sich. Entsetzt starrte er auf den Hund, der laut bellte.

Da war Denise auch schon bei ihm. Sie nahm ihn in die Arme, und Tobias preßte sich an sie. »Ein böser Hund«, schluchzte er. »Schick ihn weg.«

»Er tut dir nichts.« Denise strich ihm beruhigend über das Köpfchen. »Sieh nur, jetzt ist er ganz friedlich und wedelt sogar mit dem Schwanz.«

Tobias sah schnell hin, sagte aber gleich: »Ich will ihn nicht sehen.«

Denise beschloß nun, aufs Ganze zu gehen. Sie stellte Tobias wieder auf den Boden. »Ich muß jetzt fahren. In Sophienlust warten sie alle auf mich.«

Tobias fuhr sich über die Augen. »Warte«, rief er dann. »Ich komme mit. Ich kann ja später fortgehen.«

*

»Nein, du darfst ihnen nicht weh tun!« rief Heidi verzweifelt.

»Ich reiße ihnen die langen Ohren aus«, drohte Tobias ungerührt.

»Es sind meine Häschen. Ich wollte sie dir nur zeigen. Du darfst ihnen nichts tun. Sie sind so lieb.«

»Ha!« lachte Tobias. »Sie sind häßlich. Ich werfe sie weg.« Er preßte die Kaninchen an sich.

»Gib her. Sie haben sicher Angst.« Fordernd streckte Heidi ihre Hände aus.

»Du bekommst sie nie wieder«, drohte Tobias. »Ich laufe mit ihnen weg.« Er machte seine Drohung wahr und rannte in den Park hinein.

»Meine Häschen! Bitte, gib mir meine Häschen wieder!« Weinend lief die Fünfjährige ihm nach. Sie liebte die zwei Kaninchen heiß und innig. Sie schleppte sie gern mit sich herum, und wenn sie jemandem eine Freude machen wollte, dann brachte sie ihm die Tiere. Ansonsten wurden sie vom alten Justus betreut. Dieser war einst Verwalter von Sophienlust gewesen, jetzt versorgte er die Tiere.

»Ich laufe mit ihnen in den Wald. Dort werfe ich sie in den See«, rief Tobias.

»Das darfst du nicht.« Heidi rannen die Tränen über die Wangen.

»Dann sage es doch Tante Isi«, höhnte Tobias und lief weiter.

»Halt!« Heidi blieb stehen. Sie konnte nicht mehr. »Du bist ein böser, sehr böser Bub«, keuchte sie atemlos.

Wie angewachsen blieb Tobias stehen. »Was hast du gesagt?«

Heidi war herangekommen. Sie war nur noch wütend. »Du bist böse. Ich möchte, daß du wieder von hier fortgehst«, schrie sie ihm mitten ins Gesicht.

Sekundenlang sah es so aus, als würde Tobias die Kaninchen einfach fallen lassen, dann bückte er sich jedoch und setzte sie auf den Boden. »Hier hast du deine häßlichen Viecher. Wenn ich sie aber noch einmal sehe, dann drehe ich ihnen den Hals um.«

Erschrocken breitete Heidi ihre Hände über die Kaninchen.

»Nimm sie nur und verstecke sie gut. Ich beiße ihnen sonst die Ohren ab.« Tobias riß den Mund auf. »Hasenbraten schmeckt gut.«

»Arme Häschen.« Heidi drückte die Tiere an sich. »Der böse Bub darf euch nichts tun.« Sie lief hastig mit den Tieren davon, ohne Tobias noch eines Blickes zu würdigen.

»Paß nur auf, ich komme! Ich fresse deine Kaninchen auf!« rief Tobias hinter ihr her.

»Nein, das darf er nicht«, sagte Heidi weinend. »Ich verstecke euch. Ihr müßt keine Angst haben.« Sie lief so schnell sie konnte zum Haus zurück. Erst vor dem Portal machte sie halt und sah zurück. Tobias war ihr nicht gefolgt.

»Er ist ganz, ganz böse«, sagte sie nochmals. »Wir werden nie wieder mit ihm spielen.« Die Kaninchen liebevoll an die Brust gedrückt, ging sie ins Haus.

»Heidi, was ist denn los?« Pünktchen kam ihr entgegen. »Warum weinst du denn?«

»Laß mich, ich...« Heidis Arme schlossen sich fester um ihre Kaninchen.

»Ist etwas mit deinen Kaninchen?« fragte Pünktchen hilfsbereit. So verzweifelt hatte sie die Kleine schon lange nicht mehr gesehen.

»Laß mich.« Heidi lief an Pünktchen vorbei. Sie wollte die Treppe hinauf.

»Heidi«, rief Pünktchen hinter ihr her. »Mit den Kaninchen darfst du nicht in den oberen Stock, das weißt du doch.«

»Mir egal.« Heidi hastete weiter. Sie stolperte. Da war Pünktchen schon bei ihr.

»Was ist denn mit dir los? Deine Kaninchen dürfen nicht in die Zimmer.«

»Ich muß aber. Laß doch. Mir ist egal, daß es verboten ist«, schluchzte Heidi.

»Jetzt redest du genauso wie Tobias«, tadelte Pünktchen.

»Bin ich nun auch böse?« Heidi schnupfte verwirrt auf.

»Böse? Niemand ist böse.«

»Doch! Der Tobias ist ganz, ganz böse.« Die Tränen liefen wieder über Heidis Wangen.

Pünktchen seufzte. »Was hat Tobias jetzt schon wieder gemacht?« fragte sie. Tobias ärgerte immer wieder die anderen Kinder und brachte sie zum Weinen.

»Er soll fortgehen. Ich fürchte mich vor ihm.«

Das war neu. »Aber Heidi!« Liebevoll zog Pünktchen die Kleine an sich. »Du brauchst doch keine Angst vor Tobias zu haben.«

»Doch«, schluchzte Heidi. »Er hat so einen großen Mund.« Ängstlich sah sie auf ihre Kaninchen. Und ehe Pünktchen fragen konnte, bat sie: »Du mußt meine Kaninchen verstecken. Er will sie fressen.«

»Oh!« Pünktchen wußte nicht, was sie sagen sollte. Immer wieder verhielt Tobias sich so aggressiv und verängstigte damit vor allem die Kleineren.

»Soll ich es Tante Isi sagen? Vielleicht versteckt Tante Isi meine Kaninchen, oder sie schickt Tobias weg. Gelt, Pünktchen, wir können ihn hier nicht gebrauchen.«

Jetzt seufzte Pünktchen. »Heidi, du weißt doch, daß Tobias es nicht so meint«, versuchte sie die Kleine zu beruhigen.

Heidi jedoch war nicht zu beruhigen. Sie drückte ihre tränenfeuchten Wangen gegen das Fell ihrer Kaninchen. »Er mag Hasenbraten, er will sie fressen.«

»Das ist doch Unsinn.«

»Doch! Er hat es gesagt.« Völlig unerwartet brüllte Heidi dann los: »Tante Isi! Tante Isi!«

Denise von Schoenecker kam sofort aus dem büroähnlichen Empfangsraum. Seit Tobias hier war, verging keine Stunde ohne daß etwas geschah.

»Tante Isi.« Heidi lief ihr entgegen. »Hier, meine Häschen. Es darf ihnen nichts passieren. Ich habe sie doch so lieb.« Die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor. Dazwischen schluchzte sie heftig.

»Tobias«, sagte Pünktchen erklärend.

»Aber, aber!« Denise nahm Heidi die Kaninchen ab. Sachte strich sie über das weiche Fell der Tierchen.

»Wir müssen sie verstecken.«

»Du mußt keine Angst haben, Heidi. Tobias darf ihnen nichts tun. Justus wird schon dafür sorgen. Bringe sie nur wieder zu Justus.«

»Nein.« Schon wieder füllten sich Heidis Augen mit Tränen. »Tobias ist ja da draußen. Ich habe ihm gesagt, er muß fortgehen, aber er tut nie das, was man ihm sagt.«

»Ich komme mit. Wir bringen deine Häschen zu Justus, und dann suchen wir Tobias«, meinte Denise.

»Zu Justus gehe ich, aber nicht zu Tobias. Ich mag ihn nicht mehr. Er hat gesagt, daß meine Häschen häßlich sind. Er ist ein böser Bub, und das habe ich ihm auch gesagt.« Heidi schnupfte auf.

»Ich glaube, ich muß mich um Tobias kümmern. Gehst du mit Heidi und ihren Häschen zu Justus?« Denise sah Pünktchen an.

»Klar.« Pünktchen lächelte Heidi zu. »Darf ich dir die Häschen abnehmen?«

»Ja!« Heidi schnupfte erneut auf. »Zu Justus gehe ich. Er mag meine

Häschen. Aber zu Tobias gehe ich nie wieder.« Trotzig warf sie ihren Kopf in den Nacken.

Denise wechselte mit Pünktchen einen Blick. Denise war sich noch nie so hilflos vorgekommen. Sie merkte, daß Tobias’ Benehmen auf die anderen Kinder abfärbte, aber sie konnte nichts dagegen tun. Seit einer Woche bemühte sie sich um ihn. Aber weder sie, noch Schwester Regine oder die Heimleiterin, Frau Rennert, die von den Kindern liebevoll Tante Ma genannt wurde, konnten den kleinsten Erfolg verbuchen. Tobias war genauso störrisch, wie am Tag seiner Ankunft.

»Dann bist du auch nicht lieb«, sagte Denise jetzt sehr entschieden. Sie holte ihr Taschentuch hervor. »Hier!«

»Danke.« Heidi putzte sich kräftig die Nase.

Wenig später ging Denise durch den Park. Sie rief ein paarmal nach Tobias, bekam aber keine Antwort. Sie begann schon unruhig zu werden, als sie ihn schließlich unter einem Baum sitzen sah.

»Warum hast du nicht geantwortet?« fragte sie ihn. »Ich habe dich gesucht.«

»Hast du geglaubt, ich bin weggelaufen?« stellte Tobias eine Gegenfrage. Langsam stand er auf. »Du mußt keine Angst haben. Jetzt, wo alle wollen, daß ich weggehen soll, tue ich es sicher nicht mehr.«

Natürlich. Jetzt war er wieder beleidigt und fühlte sich abgeschoben. Ehe Denise etwas sagen konnte, sagte er trotzig. »Ich mache nie das, was man von mir will. Daher bin ich auch ein böser Junge.«

»Ich bin froh, wenn du nicht wegläufst«, sagte Denise.

»Das glaube ich nicht. Mich mag doch niemand.«

»Tobi, das ist doch nicht wahr. Besonders Heidi hat dich gleich liebgehabt. Sie hat gehofft, daß du mit ihr spielen wirst.«

»Heidi hat gepetzt«, unterbrach Tobias Denise. »Schimpf doch mit mir. Mir macht es nichts aus. Wenn ich will, dann ärgere ich Heidi wieder.« Tobias drehte sich um und lief zum Haus zurück. Denise folgte ihm langsam. Warum wehrte Tobias sich nur gegen jedes liebe Wort? Zum erstenmal wußte Denise nicht, wie es weitergehen sollte.

*

»Ich möchte auch bei Frau Reichelt vorbeisehen. Am Telefon war sie so kurz angebunden. Ich möchte mehr über Tobias’ Vater wissen.« Denise von Schoenecker sah von ihrem Notizblock auf. Sie wollte einiges in Maibach erledigen.

Frau Rennert, die gerade Schreibarbeiten erledigte, blickte mit gerunzelter Stirn auf. »Glauben Sie, daß Frau Reichelt sehr gesprächig sein wird?«

»Nein, aber ich möchte mit Tobias’ Vater Verbindung aufnehmen. Ich weiß so gut wie nichts von ihm. Frau Reichelt erwähnte nur, daß er ihre Schwester verlassen hat, bevor Tobias zur Welt kam.«

»Über Geld scheint dieser Mann aber zu verfügen«, meinte Frau Rennert. »Die Summe war jedenfalls nicht klein, die er uns geschickt hat, als er erfuhr, daß Tobias jetzt bei uns ist.«

»Geld«, entgegnete Denise bitter, »das war das einzige.«

Frau Rennert ergriff für den ihr unbekannten Mann Partei: »Er hat sich vorher auch nicht um Tobias gekümmert. Wie Frau Reichelt sagt, hat er stets nur Geld geschickt.«

»Darüber eben will ich mit Frau Reichelt sprechen«, sagte Denise entschlossen. »Ich möchte dem Mann schreiben.«

»Glauben Sie, daß das viel Sinn hat?«

»Ich will jedenfalls nichts unversucht lassen. Tobias braucht einen Menschen, der zu ihm gehört. Wir kümmern uns hier um ihn, aber er weiß genau, daß wir für alle Kinder dasein müssen. Er wurde bisher immer nur geduldet.«

»Sie haben sicher recht, aber Tobias macht es uns nicht leicht. Unsere Kinder trifft keine Schuld. Sie haben sich alle bemüht.«

»Unsere Kinder! Tobias gehört jetzt auch zu unseren Kindern.«

»Natürlich.« Die mütterliche Frau machte ein bekümmertes Gesicht. »Das weiß ich. Ich bemühe mich auch, keinen Unterschied zu machen, aber Tobias fordert mich immer wieder heraus. Er bringt hier alles durcheinander. Kein Spiel kann mehr zu Ende geführt werden.«

»Wir dürfen nicht aufgeben«, mahnte Denise. »Er wird sich schon noch einfügen.« Leiser setzte sie hinzu: »Ich hoffe es so.«

Die Tür zum Empfangszimmer wurde aufgerissen. Schwester Regine kam herein. Bei Denises Anblick stutzte sie. »Oh, Sie sind noch da! Ich dachte, Sie wären schon nach Maibach gefahren.« Man sah ihr an, daß sie erregt war.

»Was ist denn jetzt schon wieder los.« Frau Rennert legte ihre Hände gegeneinander. Es war eine verzweifelte Geste.

»Tobias«, sagte Schwester Regine kurz. Dann wandte sie sich erneut an Denise. »Ich bin froh, daß Sie noch hier sind. Es ist meine Schuld. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe Tobias angeschrien, und nun ist er weg.«

»Was?« Denise sprang auf.

»Es war auf dem Spielplatz«, berichtete die Kinderschwester. »Er hat stets alle Verstecke verraten. Schließlich wollte kein Kind mehr mit ihm spielen. Da ist mir die Geduld gerissen.« Schwester Regine zuckte die Achseln. Verzweifelt setzte sie hinzu: »Ich weiß, es war verkehrt. Mir tut Tobias ja so leid. Er ist verbittert, eifersüchtig auf jedes Kind. Sein Trotz läßt es einfach nicht zu, daß er richtig mit uns spielt. Dabei bin ich sicher, daß er es gerne möchte.«

»Wo ist Tobias jetzt?« fragte Denise.

»Er wird von den Größeren gesucht. Er ist weggegangen, ohne etwas zu sagen. Diesmal hat er nicht einmal gedroht.« Man sah Schwester Regine an, daß sie sich Vorwürfe machte. Auch hatte sie Angst, daß Tobias seine stetigen Drohungen wahrgemacht und Sophienlust verlassen hatte.

»Ich helfe suchen.« Denise ging zur Tür.

»Er wird sich wieder irgendwo versteckt haben«, meinte Frau Rennert. Es sollte beruhigend klingen.

Denise trat in die Halle hinaus. Schwester Regine folgte ihr auf dem Fuß. Sie sah Tobias als erste. Sie war so verblüfft, daß sie einen erstaunten Laut von sich gab.

Der Junge saß auf dem Bärenfell und grinste.

Ruhig ging Denise auf ihn zu. »Weißt du, daß wir dich suchen?«

Tobias nickte. Strahlend erklärte er: »Ich bin hinter Schwester Regine hergeschlichen. Sie hat mich nicht bemerkt.«

»Aber ich habe dich doch gerufen.« Schwester Regine lächelte den Jungen ebenfalls an.

»Das war lustig. Du hast gerufen, und ich war hinter dir.«

»Schwester Regine hat Angst um dich gehabt.«

»Ich weiß.« Tobias nickte ungerührt. »Sie hat geglaubt, ich bin weggelaufen. Ich werde immer machen, daß sie Angst um mich hat.« Tobias erhob sich. Er fletschte die Zähne und brüllte: »Ich bin der schwarze Mann!«

»Das finde ich nicht nett«, sagte Denise ruhig.

»Dann schreie mich doch auch an. Mir macht es gar nichts aus.« Tobias steckte seine Hände in die Hosentaschen und drehte sich um.

»Ich würde es viel netter finden, wenn du mit uns spielen würdest. Sei doch einmal zur Abwechslung nicht der schwarze Mann, sondern der liebe Tobias.« Denise ging zu ihm hin und legte ihm von hinten die Hand auf die Schulter.

Tobias drehte sich zu ihr um. »Ich kann nicht. Ich bin nun mal der böse, schlimme Tobias. Mir ist das auch egal.«

»Schade, wirklich schade.« Denise drehte sich um. Sie war wieder einmal ratlos.

»Tante Isi, wohin gehst du denn?« rief Tobias ihr nach. Es klang so verzweifelt, daß es Denise trotz allen Ärgers tief ins Herz schnitt.

»Ich fahre nach Maibach«, sagte sie, und dann fragte sie spontan: »Willst du mich begleiten?«

»Ganz allein mit dir?« Rasch sah Tobias zu Schwester Regine hin. »Wird sie es mir auch erlauben?«

»Klar, nur solltest du dann auch lieb sein«, meinte Denise, ehe die Kinderschwester etwas sagen konnte.

Tobias überlegte. Er starrte vor sich auf den Boden. »Weiß nicht. Kann ich nicht versprechen.« Dann hob er den Kopf und sah Denise an. »Aber die Zunge werde ich dir sicher nicht herausstrecken.«

*

»Sie?« Frau Reichelt sah Denise von Schoenecker nicht gerade freundlich an.

»Entschuldigen Sie, wenn ich störe. Da ich gerade in Maibach bin, dachte ich, ich...« Weiter kam Denise nicht, denn Tobias rief dazwischen: »Tante Inge störst du nicht. Die liest sowieso immer nur Illustrierte.«

Inge Reichelt lief rot an. »Wie ich sehe, ist Tobias noch immer frech und vorlaut. Offensichtlich kommen auch Sie nicht mit ihm zurecht.« Sie warf Denise einen spöttischen Blick zu. »Ich beneide Sie nicht. Bei uns ist jetzt endlich wieder die Ruhe eingekehrt.«

»Jetzt bin ich aber wieder hier. Ich bin der schwarze Mann. Uaa!« Tobias legte seine Hände als Trichter vor den Mund und brüllte aus Leibeskräften. Frau Reichelt wich zurück. »Nein, ich will mit ihm nichts mehr zu tun haben.«

»Tobi!« Denise nahm den Jungen in den Arm. Sofort verstummte er. »So kann ich dich wirklich nirgends mehr mit hinnehmen«, sagte sie tadelnd. »Jetzt wird uns deine Tante nicht einmal in die Wohnung lassen.«

»Wenn es sein muß, dann bin ich still«, sagte Tobias. »Ich schreie nicht mehr. Großes Ehrenwort. Fabian hat gesagt, ein großes Ehrenwort muß man halten.«

»Was wollen Sie eigentlich?« fragte Frau Reichelt. Sie hatte noch keine Anstalten gemacht, Frau von Schoenecker in die Wohnung zu bitten.

»Ich möchte noch einiges wissen«, meinte Denise.

»Gut, aber den Jungen nehme ich nicht mehr zurück. Auf keinen Fall. Sie haben sich angeboten, für ihn zu sorgen. Nun sehen Sie auch zu, wie Sie mit ihm zurechtkommen.«

»Darum geht es gar nicht«, sagte Denise unwillig. Sie spürte, wie Tobias sich in ihren Armen versteifte. Liebevoll drückte sie ihn enger an sich. Tobias lehnte sein Köpfchen an sie.

»Tante Isi will mich gar nicht hergeben, ätsch«, sagte er.

»Dieses Kind.« Frau Reichelt rang ihre Hände. »Aber das ist vorbei, endgültig.«

»Tante Isi, gehen wir wieder. Ich will doch Tante Inge gar nicht besuchen«, meinte Tobias.

»Entschuldigen Sie.« Frau Reichelt warf ihrem Neffen einen bitterbösen Blick zu. »Der Kleine bringt einen wirklich völlig durcheinander. Kommen Sie doch herein.«

»Ich will aber nicht.« Tobias fing in Denises Armen zu zappeln an.

»Tobi«, mahnte Denise. »Ich muß mit deiner Tante etwas besprechen. Wolltest du nicht lieb sein?«

»Ich habe es nicht versprochen«, brummte der Kleine.

»Hören Sie nicht auf ihn«, mischte sich Inge Reichelt ein. »Kommen Sie. Am besten wird es sein, Tobias geht ins Kinderzimmer. Wir haben es noch nicht geändert. Komm schon!« Sie nahm Tobias aus Denises Armen. »Ich gebe dir die Farbstifte und ein Blatt, aber wehe, wenn du nicht Ruhe gibst.«

»Ich mag aber nicht malen«, maulte Tobias.

»Versuch es«, sagte Frau Reichelt energisch. »Was wir zu besprechen haben, ist sicher nicht für deine Ohren bestimmt.« Sie warf Denise einen raschen Blick zu. »Sie müssen strenger sein, Frau von Schoenecker.« Dann brachte sie Tobias in sein ehemaliges Kinderzimmer und gab ihm Papier und Farbstifte. Tobias ließ die Stifte fallen und das Papier zu Boden flattern.

»Tobi«, mahnte Denise erneut. Sie war den beiden gefolgt. »Ich würde mich freuen, wenn du mir ein schönes Bild malen würdest.«

»Na gut, dann male ich zwei«, gab der Kleine nach. »Eines für dich und eines für Heidi. Sie hat mir auch schon einmal eines gemalt.«

»Fein.« Denise lächelte ihn an.

»Aber für Tante Inge male ich keines«, trumpfte Tobias auf.

»Brauchst du auch nicht. Kommen Sie, Frau von Schoenecker. Gehen wir ins Wohnzimmer. Ich brühe uns Kaffee auf. Wenn Tobi brav ist, bekommt er auch einen Kakao.«

Tobias öffnete den Mund.

»Tobi«, sagte Denise rasch. »Ich freue mich schon auf das Bild.«

Da senkte der Kleine den Kopf. Ohne noch ein Wort zu sagen, bückte er sich nach dem Papier und den Farbstiften.

»Bitte«, sagte Inge Reichelt wenig später zu Denise und schenkte ihr Kaffee ein. »Bedienen Sie sich.« Sie schob einen Teller mit Gebäck zu ihr hin. Dann horchte sie: »Offensichtlich gibt er Ruhe. Sie müssen strenger zu ihm sein. Das hat mein Mann auch immer zu mir gesagt. Mein Gott! Was habe ich mir alles von Tobias gefallen lassen!«

Denise sagte nichts. Sie nippte an ihrer Tasse.

»Er ist ein schwieriges Kind, nicht wahr? Aber ich habe Sie gewarnt.«

Denise schwieg noch immer. Das irritierte Frau Reichelt. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Mit meiner Hilfe können Sie nicht rechnen. Mein Mann würde es nicht zulassen, daß ich Tobias wieder zu uns nehme. Der Kleine ist jetzt einen Monat bei ihnen. Geben Sie nur zu, daß Sie noch nichts erreicht haben. Was habe ich alles mitgemacht!«

Denise schluckte die scharfe Erwiderung, die ihr auf den Lippen lag, hinunter. »Es ist nicht einfach, das Vertrauen von Tobias zu erringen, das gebe ich zu. Er ist zu oft enttäuscht worden.«

»Was wollen Sie damit sagen? Wenn jemand enttäuscht wurde, dann wir. Mein Mann und ich haben Tobias ohne zu zögern zu uns genommen. Wir haben alles für ihn getan. Wir haben ihn behandelt, als wäre er unser eigenes Fleisch und Blut.« Frau Reichelt redete sich in Rage. »Leider kann er seine Herkunft nicht verleugnen. In meinen Augen ist sein Vater ein Verbrecher, auch wenn er in Amerika zu Geld gekommen ist.« Frau Reichelt mußte Luft holen, und Denise gelang es, etwas einzuwerfen.

»Ich bin hergekommen, um mit Ihnen über Tobias’ Vater zu sprechen. Was wissen Sie von ihm?«

»Nichts, gar nichts! Wir wollen mit diesem Verbrecher auch nichts zu tun haben. Meine Schwester war ja so dumm, sie hat ihn auch noch verteidigt, nachdem er sie im Stich gelassen hatte.«

»War Ihre Schwester lange mit Tobias’ Vater befreundet?«

»Sie liebte ihn. Und er hat diese Liebe ausgenützt. Er hat sie für sich arbeiten lassen, als wäre sie sein Dienstmädchen gewesen«, empörte Inge Reichelt sich. Sie war nicht bereit, auch nur ein einziges gutes Haar an diesem Mann zu lassen.

»Wie meinen Sie das?« fragte Denise.

»Herr May hatte eine Imbißstube. Ich muß zugeben, das Geschäft ging gut. Er verstand sich auch darauf. Jedem konnte er Honig ums Maul streichen. Meine Schwester fiel auch prompt auf ihn herein. Sie war Bankangestellte. Jeden Tag nach Dienstschluß ging sie zu ihm und half in der Imbißstube. Natürlich war sie überzeugt, daß Herr May sie heiraten würde. Doch dann kam dieser plötzlich auf die Idee, auszuwandern. Stellen Sie sich vor, der Mann wollte unbedingt in Texas sein Glück versuchen!« Frau Reichelt lächelte spöttisch.

Denise konnte sich nicht verkneifen zu sagen: »Offensichtlich hat er es in Texas auch zu etwas gebracht.«

»Das konnte man doch wirklich nicht ahnen. Ich riet meiner Schwester jedenfalls davon ab, mit ihm zu gehen. Sie konnte sich doch nicht einem so unzuverlässigen Mann anvertrauen.«

Denise konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. »Herr May wollte Ihre Schwester nach Texas mitnehmen?«

»Natürlich. Er brauchte ja eine billige Arbeitskraft. Ich konnte meine Schwester glücklicherweise überreden, hierzubleiben.«

»Warum haben Sie das nur getan?« Es fiel Denise schwer, ihre Empörung zu verbergen.

Frau Reichelt war überzeugt, gewissenhaft gehandelt zu haben. »Ich bin zehn Jahre älter als meine Schwester. Am Sterbebett habe ich unserer Mutter versprochen, auf Marion aufzupassen, und das habe ich auch getan. Dieser Mann hätte sie nur unglücklich gemacht.«

»Sie fanden es also besser, daß Ihre Schwester ledig ein Kind zur Welt brachte?« fragte Denise scharf.

»Natürlich nicht. Ich hätte Herrn May sonst gezwungen, hierzubleiben und sie zu heiraten. Erst nach seiner Abreise bemerkte meine Schwester, daß sie schwanger war. So etwas Dummes konnte auch nur ihr passieren.« Inge Reichelt atmete tief durch. »Meine Schwester wollte Herrn May zuerst gar nichts davon schreiben. Ich tat es dann, als das Kind auf der Welt war. Schließlich mußte er dafür aufkommen.«

»Was er auch getan hat.«

»Ja, aber mehr hörten wir nicht von ihm. Ich sage Ihnen, meine Schwester konnte froh sein, daß sie diesen Mann losgeworden ist.«

»Dieser Meinung bin ich nicht«, sagte Denise fest. Sie hatte genug von Frau Reichelts Selbstgefälligkeit. »Ich möchte Herrn May schreiben, Tobias ist schließlich sein Sohn.«

»Von diesem Mann können Sie nichts erwarten. Er hat meine Schwester im Stich gelassen«, ereiferte Inge Reichelt sich erneut.

»Das sehe ich anders.« Denise erhob sich. »Sie haben versucht, Schicksal zu spielen. Dazu hatten Sie aber kein Recht.«

»Was erlauben Sie sich!«

»Entschuldigen Sie, Frau Reichelt. Ich danke Ihnen jedenfalls für diese Auskunft.«

Tobias kam ins Zimmer gestürzt. »Tante Isi, wir können gehen. Ich habe zwei Bilder gemalt.« Er hielt Denise zwei Blätter hin.

»Ja, wir können gehen«, sagte Denise.

»Nein. Tobias muß noch seinen Kakao trinken. Ich lasse mir nicht nachsagen, daß er von mir nichts bekommen hat.«

Tobias blickte von seiner Tante zu Denise. »Die Tante ist schon wieder böse, gelt? Laß uns schnell gehen. Ich mag der Tante ihren Kakao nicht.«

»Nun trink ihn schon.« Inge Reichelt nahm die Tasse, die sie bereits für Tobias bereitgestellt hatte und drückte sie ihm in die Hand. »Paß aber auf, daß du nichts verschüttest. Kakao macht Flecken.«

»Ich will aber nicht.«

»Nun trink schon!« Gleich darauf schrie Inge Reichelt auf. »Paß auf! Du verschüttest ja alles. Kannst du nicht einmal anständig trinken?«

»Kann ich nicht. Ich will deinen Kakao auch nicht.« Tobias ließ die Tasse einfach fallen. Der Kakao spritzte nach allen Seiten. Entsetzt schrie Inge Reichelt auf. Sie wollte nach Tobias greifen, aber dieser war schneller. Er stürzte aus dem Zimmer, rannte durch den Gang und war schon aus der Wohnung geschlüpft.

*

Sonja Kaiser kam aus ihrer Wohnung, als Tobias gerade die Stiege hinunterlaufen wollte. Sie rief erfreut: »Tobi!«

Tobias blieb stehen. »Tante Sonja.« Sein Gesichtchen erhellte sich. »Du mußt mir helfen. Du mußt mich verstecken. Tante Inge will mich verhauen.«

»Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?«

»Ich war böse. Aber du mußt schnell machen.« Tobias drängte sich an die junge Frau, die ihren Arm um ihn legte.

»Wohnst du wieder bei deiner Tante?« fragte Sonja.

»Nein! Dort will ich auch nie mehr hin.« Er hörte, daß die Wohnungstür seiner Tante geöffnet wurde und begann zu schreien.

»Tobias«, sagte Denise, die vor Frau Reichelt ins Treppenhaus gekommen war. »Du hast versprochen, nicht zu schreien. Erinnerst du dich nicht mehr an dein großes Ehrenwort?«

»Ja, aber...« Tobias sah zu Denise hin. »Du darfst mich nicht loslassen«, flüsterte er dabei aber Sonja zu.

»Mehr haben Sie nicht zu sagen?« fauchte Frau Reichelt. »Wenn ich den Jungen in die Finger bekomme...« Sie wollte an Denise vorbei, doch diese hielt sie zurück.

»Bitte, Frau Reichelt, Sie wollten doch nichts mehr mit Tobias zu tun haben. Ich bin jetzt für ihn verantwortlich. Ich verspreche Ihnen, Sie in Zukunft nicht mehr zu belästigen.« Mit sanfter Gewalt schob sie die empörte Frau zur offenen Wohnungstür.

»Sie machen einen Fehler«, keifte Inge Reichelt. »So wollen Sie den Kindern gute Manieren beibringen? Wundern Sie sich nicht, wenn er Ihnen das Kinderheim anzündet. Aber das ist ja Ihr Problem. Ich habe Sie gewarnt.«

»Ja, das haben Sie. Auf Wiedersehen, Frau Reichelt. Ich werde dafür sorgen, daß so etwas nicht noch einmal vorkommt.« Denises Ton duldete jetzt keinen Widerspruch mehr. Ohne ein weiteres Wort zog sie von außen Frau Reichelt die Wohnungstür vor der Nase zu.

»Du kannst mich loslassen«, sagte Tobias zu Sonja Kaiser. »Tante Isi tut mir nichts.« Etwas unsicher lächelte er Denise an.

Denise sah Tobias nur an. Keine Miene verzog sich in ihrem Gesicht.

»Tante Isi?« fragte der Kleine da zaghaft. »Bist du nun böse?«

»Ich bin traurig«, sagte Denise.

»Ich... ich wollte den Kakao doch nicht. Tante Isi bist du wieder lieb, wenn ich mich entschuldige?« Es war das erste Mal, daß er so etwas anbot. Dann schielte er zur geschlossenen Wohnungstür hin und setzte hinzu: »Bei Tante Inge entschuldige ich mich aber nicht.«

»Was hat er denn schon wieder angestellt?« fragte Sonja Kaiser. »Entschuldigen Sie, ich bin die Nachbarin von Frau Reichelt. Ich kenne Tobias schon, seit sie ihn zu sich genommen hat.«

»Das ist meine Tante Sonja«, erklärte Tobias nicht ohne Stolz. »Sie kocht viel besseren Kakao als Tante Inge. Ihren Kakao hätte ich nicht auf den Boden geschüttet.«

Denise horchte auf. Von Tante Sonja hatte Tobias stets liebevoll gesprochen. Offensichtlich hatte diese Frau einen guten Einfluß auf Tobias ausgeübt. Sie stellte sich vor.

»Frau Reichelt wollte mir nicht verraten, wo ihr Neffe steckt«, meinte Sonja. »Sie sagte mir nur, daß Tobias bestens aufgehoben wäre. Und damit er sich rasch eingewöhnen könnte, sollte man ihn nicht besuchen.«

»So ein Unsinn!«

Tobias fiel Denise ins Wort. Er jubelte: »Hörst du, Tante Sonja, du darfst mich besuchen kommen. Kommst du?«

»Ganz sicher.« Sonja fuhr Tobias über das Köpfchen. »Was meinst du, soll ich dir einen Kakao machen?« Sie sah schnell zu Denise hin. »Sie müssen entschuldigen. Ich weiß, daß Tobias sich unmöglich benehmen kann, aber ich finde...«

»Ist schon in Ordnung. Es wäre sehr nett, wenn Sie Tobias einmal besuchen würden. Wenn Sie etwas Zeit hätten, würde ich Ihnen gern von Sophienlust erzählen.«

»Selbstverständlich. Ich kann auch später einkaufen gehen. Ich wollte sowieso nur zu dem Laden an der Ecke.«

Sonja bat Denise in ihre Wohnung, und Denise nahm die Einladung gern an. Sie lernte in Sonja Kaiser eine sympathische junge Frau kennen, und vor allem merkte sie, daß Sonja Tobias wirklich gern hatte. Nach dem Auftritt mit Frau Reichelt wurde es bei Sonja Kaiser richtig gemütlich. Erstaunt stellte Denise fest, daß Tobias sich ihr gegenüber sehr gesittet benahm. Er schien plötzlich ein ganz anderer zu sein.

*

»Ich will wieder ins Wasser gehen.« Tobias lief auf Pünktchen zu. »Ich will baden und der Ball auch.« Ehe Pünktchen sich’s versah, hatte Tobias ihr den Ball aus der Hand genommen. Er lief ans Ufer des kleinen Sees und warf ihn hinein.

»Wir wollen doch spielen«, schimpfte Vicky.

»Ich will aber nicht. Wir wollen baden, ich und der Ball.«

»Ein wenig mußt du noch warten«, entschied Schwester Regine. »Du warst doch erst im Wasser.«

»Ihr könnt aber nicht mehr weiterspielen; der Ball ist weg«, trumpfte Tobias auf.

»Ich hole ihn.« Pünktchen stieg ins Wasser. Es war heute ein besonders heißer Tag, und so hatten sie einen Ausflug zum nahegelegenen Waldsee gemacht. Alle waren bester Laune, nur Tobi fiel wieder einmal aus der Rolle.

Er drohte auch sofort: »Ich werfe ihn doch wieder hinein!«

»Es wäre besser, du würdest mit uns spielen«, meinte Schwester Regine.

»Ballspielen ist doof.« Tobias ließ sich am Ufer ins Gras fallen.

»Was willst du denn spielen?« fragte Pünktchen freundlich. Sie warf den Ball Heidi zu, welche ihn geschickt auffing.

»Nichts. Spielen ist doof.« Tobias machte ein mürrisches Gesicht.

»Vielleicht könnten wir Verstecken spielen?« schlug Nick vor. Er hatte sich ebenfalls an diesem kleinen Ausflug beteiligt.

»Doof, doof, doof«, rief Tobias und wälzte sich auf den Bauch.

»Da, Nick, fang«, rief Heidi und warf Nick den Ball zu. Heidi hatte etwas zu hoch gezielt. Der Ball landete neben Tobias. Sofort war der Kleine auf den Beinen und versetzte dem Ball mit dem Fuß einen Stoß, so daß er wieder ins Wasser rollte.

»Nicht!« rief Heidi.

»Doch!« Tobias lachte. »Der dumme Ball soll nur schwimmen.«

Ohne noch etwas zu sagen, holte Pünktchen den Ball erneut aus dem Wasser.

»Wer schlägt ein anderes Spiel vor?« fragte Nick. Auch er wollte Tobias zum Mitmachen ermuntern, doch dieser steckte an diesem Nachmittag wieder voller Widerspruch.

»Ich gehe Schwimmen«, sagte er erneut. Er ging zum Ufer und streckte seinen Fuß ins Wasser.

»Du kannst ja gar nicht schwimmen«, rief Vicky. »Später, wenn wir wieder ins Wasser dürfen, dann zeige ich es dir.«

»Ich gehe einfach ins Wasser. Mir macht es nichts aus, wenn ich untergehe.«

Nick schaltete sich ein. »Tobias, laß den Unsinn. Spielen wir lieber Blindekuh, das hat dir doch gestern solchen Spaß gemacht.«

»Jetzt macht es mir aber keinen Spaß.« Tobias ging einen Schritt tiefer ins Wasser.

»Nicht«, mischte sich nun Heidi ein. »Du darfst nicht hineingehen, du ärgerst Schwester Regine.«

»Wenn ich nicht hineingehen darf, dann laufe ich hinein. Glaubst du, ich traue mich nicht?«

»Tobias«, rief nun Schwester Regine. Sie hatte den Kleinen nicht aus den Augen gelassen. Jetzt stand er bereits bis zu den Knien im Wasser. »Du mußt noch etwas warten.«

»Will aber nicht.« Kurz sah Tobias zu Schwester Regine hin. »Ich laufe jetzt los.«

»Wir machen etwas viel Hübscheres. Wir sammeln Steinchen und Moos, daraus können wir dann ein Haus bauen.« Schwester Regine bückte sich nach dem Stück Rinde, welches Tobias vorher aus dem Wasser gefischt hatte. »Deine Rinde können wir auch dazu verwenden. Wer findet noch etwas Passendes?«

Die Kinder waren begeistert. Sofort begannen sie mit dem Suchen. Nur Tobias rührte sich nicht. Er stand noch immer bis zu den Knien im Wasser.

»Komm«, rief Pünktchen. »Ich helfe dir beim Suchen. Sicher finden wir viel Brauchbares.« Sie ging zu ihm hin. Ehe sie ihn erreicht hatte, begann Tobias weiterzugehen. Er lief tiefer ins Wasser hinein.

»Halt«, rief Pünktchen. »So haben wir nicht gewettet!«

»Ich gehe ins Wasser«, rief Tobias. Er lief weiter. Jetzt ging ihm das Wasser bereits bis zur Brust.

»Geh’ nicht weiter, das Wasser wird tiefer«, warnte Pünktchen. Sie wollte ihm nach, aber Nick hielt sie fest. Leise sagte er. »Er kommt schon wieder zurück.«

Tobias kehrte jedoch nicht um. Er ging weiter. Als ihm das Wasser bis zum Hals stand, erklärte er: »Jetzt gehe ich unter.«

Pünktchen stieß einen Schrei aus. Tobias ging wirklich unter. Das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen.

»Nick!« Sie stürzte los. Nick war jedoch schneller. Er warf sich ins Wasser, bekam Tobias unter Wasser zu fassen und zog ihn hoch. Der Kleine spuckte und rang nach Luft.

»Bist du verrückt geworden«, schimpfte Nick. Er war sehr erschrocken. Er trug Tobias ans Ufer und setzte ihn ins Gras. »Du hättest ertrinken können.«

Tobias hustete noch einmal »Ich wußte, daß du mich herausholen würdest«, erklärte er dann und grinste.

Nick wandte sich ab. Es fiel ihm sehr schwer, ruhig zu bleiben. Am liebsten hätte er dem Kleinen den Hintern versohlt. Er ging zu seinem Platz zurück und warf sich ein Handtuch über die Schultern. »Ich gehe spazieren. Kommst du mit?« Er sah Pünktchen an.

»Ich will auch mit!« Tobias war sofort auf den Beinen. Er hatte sich schnell wieder erholt.

»Du wirst jetzt erst einmal abgetrocknet«, sagte Schwester Regine. Mit einem großen Badetuch kam sie auf Tobias zu, und ehe er sich’s versah, hatte sie ihn darin eingerollt. »Ohne Erlaubnis und ohne Schwimmreifen gehst du mir nicht mehr ins Wasser. Ihr könnt ruhig gehen«, sagte sie dann zu Pünktchen und Nick. »Wir suchen inzwischen Material für unser Haus.«

»Wir sind bald wieder zurück.« Entschuldigend sah Nick auf die Kinderschwester. »Ich muß einfach...«

»Ich verstehe schon.« Schwester Regine lächelte zurück.

»Ich will mit.« Tobias versuchte, sich aus dem Badetuch zu wälzen, doch Schwester Regine hielt ihn fest. »Ein andermal, mein Schatz«, sagte sie ruhig. »Gerade warst du unfolgsam. Du hast Pünktchen und Nick einen schönen Schrecken eingejagt.«

»Ich will mit, mit!« schrie Tobias. Sein Schreien ging in ein lautes Gebrüll über. Pünktchen und Nick, die am Ufer entlanggingen, konnten es noch eine Zeitlang hören.

Langsam wurde Nick ruhiger. »Wir hätten ihn vielleicht doch mitnehmen sollen. Ich war einfach zu wütend. Wie leicht hätte etwas geschehen können.«

»Tobias ist es wieder einmal gelungen, alles durcheinander zu bringen«, machte Pünktchen ihrem Ärger Luft. »Er kann einfach nicht mit den anderen spielen.«

»Du hast recht, aber es ist auch unsere Schuld. Wir lassen uns einfach zu leicht provozieren. Er will im Grunde nichts anderes als im Mittelpunkt stehen. Mutti hat uns doch erzählt, wie manierlich er sich bei Fräulein Kaiser benommen hat.«

»Dafür war er zuerst unmöglich. Arme Tante Isi. Es muß für sie furchtbar gewesen sein.«

»Da kennst du Mutti aber schlecht.« Nick warf sein Handtuch auf den Boden. Er setzte sich, dann zog er Pünktchen an seine Seite. »Tobias hat sich einfach nur gewehrt. Möchtest du immer wieder hören, daß du böse und schlimm bist?«

»Na ja«, gab Pünktchen gedehnt zu. »Er macht es einem aber auch nicht leicht.«

»Wir müssen Geduld haben. Ich hätte nicht fortgehen dürfen. Tobias hat doch nur unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen. Komm, wir gehen zurück.« Nick sprang auf.

Pünktchen wäre gern noch etwas mit Nick allein gewesen, aber sie sagte nichts, sondern folgte Nick zum Badeplatz zurück.

*

»Danke!« Gerald May sah kurz hoch. Seine Sekretärin hatte ihm die Post gebracht. »Ich sehe sie später durch. Wenn ich Sie brauche, rufe ich Sie.«

Die Sekretärin entfernte sich, und die gepolsterte Tür schloß sich hinter ihr. Mit einem Seufzer schob Gerald die Briefe zur Seite. Er bereitete sich auf die Unterredung mit seinen Geschäftsführern vor. Er hatte vor, einige Lokale abzustoßen und dafür neue zu eröffnen.

Über eine Stunde arbeitete Gerald intensiv, dann klingelte auf seinem Schreibtisch das Telefon. Er nahm ab und knurrte seine Sekretärin an: »Ich bin für niemanden zu sprechen, das sagte ich doch.«

»Miß Sutter ist am Apparat.«

Gerald unterdrückte einen Seufzer. Er liebte Miriam, aber wenn er jetzt mit ihr sprach, würde sie wieder einmal kein Ende finden. Nein, er mußte zuerst seinen Bericht fertigstellen. »Ich rufe später zurück. Sagen Sie ihr das bitte.« Er legte auf.

Gleich darauf klingelte das Telefon erneut. Nach einigem Zögern, nahm er den Hörer ab. Es war wieder seine Sekretärin. »Entschuldigen Sie, Chef. Ich soll Ihnen nur von Miß Sutter ausrichten, daß Sie bloß nicht die Party vergessen sollen.«

»Party?« Gerald runzelte die Stirn. Verdammt, daran hatte er wirklich nicht mehr gedacht. In dieser Hinsicht verstand er Miriam nicht. Sie bildete sich ein, auf keiner Party fehlen zu dürfen. Er seufzte; dann wurde ihm bewußt, daß seine Sekretärin noch am anderen Ende der Leitung war. »Danke. Bitte, sorgen Sie dafür, daß ich wirklich nicht mehr gestört werde.«

Als Gerald das nächste Mal auf die Uhr blickte, war es 12 Uhr. Sein Bericht war fertig, aber da lag noch die Post. Er würde sie in der Mittagszeit durchsehen. Entschlossen drückte er die Taste der Sprechanlage. »Miß Hobbs, sind Sie noch da?«

»Ich wollte gerade essen gehen«, kam es nicht sonderlich erfreut zurück.

»Können Sie... Sorgen Sie bitte vorher dafür, daß man mir etwas heraufschickt. Ich arbeite durch.«

»Selbstverständlich, Mr. May.«

Wenig später klopfte es an der Tür, und der Kellner eines seiner Restaurants der May-Restaurant-Kette, die für gutbürgerliche Küche bürgten, schob einen Servierwagen herein. »Wo kann ich servieren, Herr May?«

»Danke, lassen Sie nur. Ich esse gleich hier am Schreibtisch. Das Geschirr können Sie in einer halben Stunde wieder abholen.« Gerald erhob sich. Er wartete, bis der Kellner gegangen war, dann zog er sich den Servierwagen näher heran. Er begann zu essen, ohne eigentlich zu wissen, was er aß. Zwischen den einzelnen Bissen sortierte er die Briefe. Dann stutzte er. Er hatte den Absender eines Briefes entziffert. »Kinderheim Sophienlust«, las er. Was wollte das Kinderheim von ihm? Er hatte doch viel mehr Geld überwiesen, als nötig gewesen wäre.

Während er das Dessert in sich hineinlöffelte, las er den Brief. Und dann vergaß er darüber das Essen.

»Sie hat recht«, murmelte er und las den Brief noch mal von vorn. Eine Frau von Schoenecker hatte ihm geschrieben. Sie wollte ihn daran erinnern, daß er ein Vater war.

Er ließ den Brief sinken und starrte vor sich hin. Natürlich hatte er gewußt, daß er einen Sohn hatte. Frau Reichelt, Marions Schwester, hatte es ihm mitgeteilt. Sie hatte ihm aber auch gleichzeitig zu verstehen gegeben, daß er zwar für dieses Kind aufkommen müßte, sonst aber nichts mit ihm zu schaffen hätte. Daher hatte er sich auch nie als Vater gefühlt. Von Marion hatte er nichts mehr gehört. Dann hatte Frau Reichelt ihm Marions Tod mitgeteilt. Zuerst hatte es ihn geschmerzt, aber Deutschland war so weit entfernt. Er war auch gerade dabei gewesen, seinem ersten Restaurant ein zweites hinzuzufügen. Die Geschäfte florierten, er hatte viel zu tun. Aber Frau von Schoenecker hatte recht. Marions Kind war sein Sohn.

»Tobias«, sagte er leise. Sein Sohn hieß Tobias. Nicht einmal das hatte er gewußt.

Zum drittenmal las Gerald den Brief. Wie hatte er nur zulassen können, daß sein Sohn bei Inge Reichelt aufwuchs? Er kannte das Ehepaar. Mit Frau Reichelt hatte er oft genug lange Auseinandersetzungen gehabt. Gerald verbarg sein Gesicht in den Händen. Warum hatte er nie daran gedacht? Sein Sohn war dieser Frau etliche Jahre ausgeliefert gewesen. Sein Sohn, das klang ganz seltsam.

»Ich habe einen Sohn.« Gerald ließ die Hände wieder sinken. Er lachte. Jetzt überkamen ihn die Erinnerungen, und er gab sich ihnen hin. Er kehrte erst in die Gegenwart zurück, als seine Sekretärin erschien.

»Haben Sie die Post durchgesehen? Ist etwas Wichtiges dabei?«

»Nein, ja... ich bin noch nicht durch.« Gerald riß sich zusammen. »Das ist auch nicht so wichtig. Versuchen Sie, Miß Sutter zu erreichen. Ich muß sie dringend sprechen.«

»Ist gut.« Die Sekretärin zog sich zurück. Gerald wartete. Er begann, in seinem Büro auf und ab zu gehen. Die Ungeduld trieb ihn schließlich ins Vorzimmer.

»Was ist?«

»Tut mir leid. Ich konnte Miß Sutter noch nicht erreichen.«

»Probieren Sie es über ihre Agentur. Die Nummer...«

»Die habe ich hier.« Die Sekretärin schlug das Notizbuch auf. Hier hatte sie fein säuberlich alle Nummern, die Miß Sutter betrafen, notiert. Seit einem Jahr war Gerald May mit dem Mannequin befreundet. So wie es aussah, würde es bald eine Hochzeit geben.

»Wenn Sie Miß Sutter erreichen, dann stellen Sie bitte durch.« Gerald verschwand wieder in seinem Büro und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Wie sein Sohn wohl aussehen mochte? Hatte er Marions blondes Haar?

Die Sprechanlage summte. Gerald drückte die Taste nieder. »Ja!«

»Miß Sutter ist auf der Burron-Ranch. Dort werden Aufnahmen gemacht. Ihre Managerin sagte, daß sie bis vier beschäftigt sein wird. Ich habe sie noch am Apparat. Sie läßt fragen, ob man Miß Sutter etwas ausrichten soll.«

»Danke.« Gerald sah auf seine Armbanduhr. »Ich fahre selbst hinaus zur Burron-Ranch.«

»Darf ich Sie daran erinnern, daß Sie gegen 15 Uhr Mr. Tilton erwarten«, tönte es aus der Sprechanlage.

»Sagen Sie ab. Ich habe heute keine Zeit mehr. Irgend etwas wird Ihnen schon einfallen.« Gerald drückte die Taste herunter. Das Gespräch mit Mr. Tilton war zwar wichtig, aber im Augenblick war ihm das egal. Er mußte mit Miriam sprechen. Es ging um seinen Sohn. Er hatte einen Sohn. Zum erstenmal war er sich dessen voll bewußt.

*

Miriam Sutter stellte sich nochmals zurecht und lächelte in die Kamera. Sie war Mannequin, aber auch ein gefragtes Fotomodell. Einige Posen, ein bezaubernder Augenaufschlag. Das war ihr Leben. Im Licht der Scheinwerfer fühlte sie sich wohl.

Gerald May war unter einem der großen Bäume stehengeblieben. Mit gekreuzten Armen lehnte er am Stamm und beobachtete die letzten Aufnahmen. Stolz erfüllte ihn. Miriam war eine bezaubernde Frau, eine wunderbare Frau. Alle Männer lagen ihr zu Füßen, aber sie gehörte ihm. Und da Miriam durch ihre deutschen Großeltern mütterlicherseits praktisch zweisprachig aufgewachsen war, konnte er sich mit ihr sogar in Deutsch unterhalten, wenn sie dazu aufgelegt war.

»Schluß für heute«, rief der Fotograf. »Ich glaube, es reicht. Die Bilder sind im Kasten. Du warst wieder einmal wunderbar, Miriam.« Er ging auf die noch immer lächelnde Frau zu. »Wie wär’s mit einem Drink?«

Miriam nickte gnädig, dann sah sie Gerald. »Hallo, Darling«, flötete sie und ließ den Fotografen stehen. »Wie schön, daß du mich abholst.« Ihr bekannter Schmollmund erschien. »Hast du eingesehen, daß du nicht nett zu mir warst? Guten Tag hättest du mir wenigstens sagen können. Läßt mich einfach von deiner Sekretärin abfertigen.«

»Ich hatte wirklich keine Zeit. Du weißt ja, es stehen einige Lokale zum Verkauf, und was günstig ist, möchte ich erwerben.«

Miriam lachte glucksend auf. »Hast du noch immer nicht genug? Du hast immer nur deine Restaurants im Kopf.« Spielend schlug sie ihm auf die Wange. »Ich werde mich mehr um dich kümmern müssen.«

»Ein verlockender Gedanke. Was hältst du davon, daß wir beide eine Europareise machen?« Er sah ihr ins Gesicht und freute sich über ihr Erstaunen.

»Du meinst Paris, Rom, London?« Von diesen Städten schwärmte sie. Ihr Ruf als Fotomodell war über Texas noch nicht hinausgedrungen.

»Ich dachte eigentlich mehr an Deutschland«, gestand Gerald.

»Deutschland, da gibt es den Rhein, aber was sonst? Darling, hast du wirklich vor, nach Europa zu reisen?«

»Habe ich«, bestätigte er.

»Oh, Darling, das ist himmlisch. Das werde ich heute abend gleich den Grays erzählen. Sie sprechen schon seit einem Jahr von einer Europareise.«

»Heute abend...«

»Heute abend ist doch diese große Party. Hat dich deine Sekretärin nicht daran erinnert?« Miriam hakte sich bei ihm ein. »Viel Zeit haben wir nicht mehr. Ich wollte eigentlich noch zu meiner Kosmetikerin.«

»Aber Darling, das hast du doch gar nicht nötig. Du siehst bezaubernd aus.«

»Danke«, hauchte Miriam. »Aber ein Bad sollte ich unbedingt vorher noch nehmen. Ich bin ziemlich gestreßt, auch wenn man es mir nicht ansieht. Du hast doch sicher deinen Wagen dabei. Dann brauche ich nicht mit Jack zu fahren.«

»Darling, ich habe dich abgeholt, weil ich mit dir sprechen möchte.«

»Natürlich, Sweetheart. Ich sage alle meine Verpflichtungen ab und begleite dich nach Europa. Du bist wirklich ein Engel, mir so eine Freude zu bereiten.« Sie schmiegte sich enger an ihn. Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, versprach den Himmel auf Erden.

»Es wird bestimmt herrlich werden«, murmelte Gerald. Er sah ihr tief in die Augen. Doch dann riß er sich zusammen. »Da ist noch etwas«, begann er.

»Bitte, fang’ jetzt nicht wieder von Geschäften an. Laß uns lieber fahren. Warte, ich sage nur schnell Jack Bescheid.« Sie löste sich von ihm. Er sah ihr nach, wie sie zu dem Fotografen hinüberging. Plötzlich kamen ihm Bedenken. Er konnte ihr nicht so einfach den Grund seiner Europareise sagen. Er mußte sie darauf vorbereiten.

Sie kam zurück. »Wir können fahren, Darling. Alles O. K. Jetzt habe ich auch noch genügend Zeit, mich für die Party zurechtzumachen.«

Gerald führte Miriam zu seinem Sportwagen. Dabei überlegte er, wie er ihr beibringen sollte, daß er nicht die Absicht hatte, mit ihr heute abend diese Party zu besuchen. Er wollte mit ihr allein sein und mit ihr über ihre gemeinsame Zukunft sprechen. Kurzentschlossen fuhr er daher nicht in Richtung Stadt, sondern den Bergen zu, wo er ein kleines Landhaus hatte, das er jedoch nur selten benutzte.

Miriam hatte sich im Sitz zurückgelehnt. Sie merkte nichts. Sie plapperte munter darauf los, erzählte von den Erlebnissen des Tages. Dann plötzlich schreckte sie hoch.

»Sag mal, wohin fahren wir eigentlich?« Sie starrte aus dem Fenster und versuchte, sich zu orientieren.

»In die Berge, Darling.« Gerald lachte, aber sein Lachen klang unsicher. »Ich habe noch eine Überraschung für dich.«

Davon wollte Miriam jetzt aber nichts wissen. Ihr hübsches Gesicht verzog sich. »Du bist wohl verrückt!« kreischte sie. »Was willst du jetzt in den Bergen? Kehr’ sofort um! Ich wollte mich doch noch etwas entspannen. Auf dieser Party heute abend werden wichtige Leute sein!«

»Darling!« Gerald legte ihr kurz seine Hand aufs Knie. »Laß doch diese Party sausen. Wir fahren in mein Landhaus. Ich möchte mit dir allein sein.«

»Doch nicht heute, Sweetheart. Diese Party ist wichtig. Es werden Leute von New York anwesend sein. Vielleicht bekomme ich einen Auftrag.«

»Aber Miriam, das hast du gar nicht nötig.« Geralds Stimme klang ungeduldig. »Wir heiraten doch. Ich denke in zwei, drei Monaten. Was hältst du davon?« Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu.

»Himmlisch, Darling!« Miriam triumphierte. Endlich hatte er einen Zeitpunkt genannt. »Aber was hat das mit der heutigen Party zu tun? Du erwartest doch nicht von mir, daß ich meinen Beruf aufgebe?«

»Natürlich nicht«, sagte Gerald. Er war sich da aber nicht mehr so sicher. Er brauchte für Tobias unbedingt eine Mutter.

»Bitte, Darling, kehr’ um. Noch ist es nicht zu spät. Wir können doch auch auf der Party alles besprechen.«

»Nein, das können wir nicht«, sagte Gerald fest. Anstatt ihrem Wunsch nachzukommen, beschleunigte er das Tempo.

Schmollend schob Miriam ihre Unterlippe vor. Sie blickte zu ihm hin und wollte etwas sagen, aber dann unterließ sie es. Sie erkannte, daß es besser war, diesmal nachzugeben. Sie wollte ihn schließlich heiraten, und alles andere würde sich dann schon finden.

»Du machst mich neugierig«, begann sie nach einiger Zeit. »Du weißt, vom Geschäft verstehe ich so gut wie gar nichts.«

»Ich will mit dir auch nicht über Geschäfte sprechen. Da geht schon alles klar. Morgen habe ich eine Unterredung mit meinem Geschäftsführer. Wir werden alles vorantreiben. In spätestens drei Wochen dürfte alles geregelt sein. Dann geht es ab nach Europa. Ich war über sechs Jahre nicht mehr in Deutschland.«

Miriam musterte ihn mißtrauisch. »Ich wußte gar nicht, daß du dich nach Old Germany zurücksehnst.«

»Tue ich auch nicht.«

»Warum dann diese plötzliche Reise?« Miriam versuchte noch immer, in seinem Gesicht zu lesen.

»Ich dachte, ich mache dir damit eine Freude«, wich Gerald aus. »Ich werde dir Deutschland zeigen.« Er starrte hinaus auf die breite Fahrbahn. Wollte er das wirklich tun? Sein Hauptziel war schließlich dieses Kinderheim Sophienlust.

»Ist das alles? Aber Gerald, deswegen müssen wir doch nicht in diese Wildnis fahren«, schmollte Miriam.

»Wir werden einen gemütlichen Abend verleben«, entgegnete Gerald. »Ich kann im Kamin Feuer machen.«

»Ich habe Hunger. Ich habe seit dem frühen Vormittag nichts mehr zu mir genommen.«

»Wenn das deine einzige Sorge ist«, Gerald lachte sie an. »Der Kühlschrank ist wohl gefüllt. Und du vergißt, daß ich früher Koch gewesen bin. Ich werde uns im Handumdrehen ein Festmahl zaubern.«

Miriam gab sich geschlagen. Innerlich seufzte sie allerdings. Die Party wäre sicher sehr unterhaltsam geworden. Nun, wenn sie schon einen langweiligen Abend vor einem Kamin verbringen mußte, dann würde sie wenigstens versuchen, Gerald dazu zu bringen, ihr den endgültigen Hochzeitstermin zu nennen. Vielleicht konnte sie ihn dazu überreden, noch vor der geplanten Europareise ihre Verlobung bekanntzugeben. Dieser Gedanke gefiel ihr, und sie begann zu schnurren wie ein Kätzchen.

Gerald hingegen freute sich. Endlich würde er einmal mit Miriam allein sein. Sie hatte ihn in letzter Zeit häufig auf Partys geschleppt. Keine drei Worte hatten sie da miteinander gesprochen.

Während Gerald die Kurven nahm, dachte er an die Zukunft. Hier in diesem Landhaus wollte er wohnen. Zwar war dann die Fahrt zur Stadt weiter, aber das wollte er gern auf sich nehmen. Das Leben hier mit Miriam und seinem Sohn Tobias malte er sich in den herrlichsten Farben aus. Er ahnte nicht, daß Miriams Gedanken in ganz andere Richtungen gingen.

Schwungvoll fuhr er vor dem Landhaus vor. »Komm! Wir machen es uns jetzt richtig gemütlich.«

Mit skeptischer Miene blickte Miriam auf das Häuschen, das im bayerischen Landhausstil erbaut war. Es gefiel ihr nicht. Für ihren Geschmack war es zu klein. Auch der wunderbare Ausblick konnte sie nicht reizen. Sie interessierte sich nicht für den nahen Wald; ihr war das Leben in der Hauptstadt lieber.

Gerald war jedoch in seinem Element. Mit strahlendem Gesicht half er ihr aus dem Auto. »Ich habe keine Ahnung, wie es hier aussieht; ich war schon über einen Monat nicht mehr hier, aber das werden wir gleich haben.«

Nun seufzte Miriam hörbar. »Mußtest du mich unbedingt hierher bringen? Ich finde dieses Haus wirklich nicht besonders gemütlich. Da ziehe ich mein Appartement noch vor.«

»Es wirkt nur etwas trostlos, weil die Fensterläden geschlossen sind.«

Miriam zuckte die Achseln. Sie rührte dann auch keinen Finger, während Gerald durch das Haus eilte, im Kamin Feuer machte und für das Essen sorgte.

»Was sagst du nun?« fragte er nicht ohne Stolz, als er ihr vor dem Kamin servierte.

»Das hätten wir in meinem Appartement billiger haben können«, stellte sie fest.

»Ist das dein Ernst?« Gerald war verwirrt. Er hatte sich solche Mühe gegeben.

Miriam erkannte, daß sie einen Fehler gemacht hatte. »Natürlich nicht.« Sie lächelte ihn an. »Hier ist es richtig gemütlich. So stelle ich mir Old Germany vor. Ihr Deutschen, ihr seid doch so romantisch.«

»So ein Abend zu zweit ist auch etwas Wunderbares.« Gerald beugte sich über sie und küßte sie zärtlich auf die Schläfe. »Diese vielen Menschen auf den Parties können mir gestohlen bleiben.«

»Aber Darling, sie sind wichtig!« Entsetzt sah Miriam ihn an.

»Natürlich. Aber dieser Abend gehört uns allein. Ich möchte dich verwöhnen.«

Das hörte sich schon besser an. Miriam hob die Hand und fuhr ihm über das Haar. Er war nun mal ihr Boy aus Germany. Zum Glück konnte er aber auch ein harter Geschäftsmann sein. Und das war im Grunde das, was für sie zählte.

*

»Du bist wirklich ein ausgezeichneter Koch.« Zufrieden schob Miriam den Teller von sich. Sie begann sich mit dem Abend auszusöhnen. Gerald spürte es, und seine Zuversicht wuchs.

Er hob sein Glas und prostete ihr zu: »Auf die Zukunft!«

»Ja, auf unsere Zukunft. Wann, Darling, geben wir unsere Verlobung bekannt?« Sie lächelte ihn an und Gerald wurde es warm ums Herz. Er konnte sich wirklich glücklich schätzen. Er gehörte nicht nur zu den erfolgreichen Geschäftsmännern, nun lachte ihm auch noch privat das Glück. Es war ihm gelungen, eine der bezauberndsten Frauen zu erringen.

»Wenn du willst, schon nächste Woche. Wenn wir dann von Deutschland zurückkommen, wird geheiratet«, sagte er.

»Oh, Darling!« Miriam war überglücklich. Als er hinter sie trat, schmiegte sie sich in seine Arme. Er hielt sie fest und flüsterte ihr ins Ohr. »Das alles haben wir nur Frau von Schoenecker zu verdanken. Sie hat mir den rechten Weg gewiesen.«

»Wie bitte?« Erstaunt löste Miriam sich von ihm. »Wovon sprichst du?«

»Natürlich, du hast ja noch keine Ahnung. Setzen wir uns.« Gerald zog sie auf die Couch. Er legte seinen Arm um ihre Schultern. »Ich habe dir doch erzählt, daß mein Sohn jetzt in einem Kinderheim lebt.«

»Dein Sohn! Wie das klingt!« mokierte Miriam sich. »Dieses Kind wurde dir doch untergeschoben.«

»Nein, das stimmt nicht. Ich bin tatsächlich der Vater.«

»Was soll das heißen?« Miriam schüttelte seinen Arm ab. Das waren ja ganz neue Töne.

»Ich gebe zu, ich habe mich bis heute nicht als Vater gefühlt. Ich habe mir nie Gedanken um dieses Kind gemacht. Es war mir überhaupt nicht bewußt, daß es mein eigen Fleisch und Blut ist.«

»Was soll das?« Miriam konnte einfach nicht länger den Mund halten. »Dieses Kind geht dich doch gar nichts an. Du hast es nie gesehen.«

»Eben das soll sich nun ändern.« Gerald war von seiner Idee noch so begeistert, daß er ihre entsetzte Abwehr überhaupt nicht spürte. »Ich fahre nach Deutschland. Ich werde meinen Sohn zu mir holen.«

»Du bist verrückt!« rief Miriam.

»Aber Miriam!« Verwirrt sah Gerald seine Freundin an. »Ich bin wirklich ein Narr«, meinte er dann. »Ich wollte dir alles in Ruhe erzählen, und nun bin ich doch mit der Tür ins Haus gefallen. Weißt du, für mich ist das auch alles noch neu. Mir war bisher überhaupt nicht richtig bewußt, daß ich einen Sohn habe.«

»Ich rate dir, es auch dabei zu belassen«, sagte Miriam kühl.

»Aber Miriam, er ist mein Sohn. Frau von Schoenecker hat recht.«

»Mach’ dich doch nicht lächerlich. Du hast dich doch nie um ihn gekümmert.«

»Das soll nun anders werden.« Gerald sah sie an und war überrascht von ihrem Zorn. Ihr hübsches, stets lächelndes Gesicht war zur Fratze verzerrt. Hysterisch fuhr sie ihn an: »Und da sprichst du von Heirat? Soll ich vielleicht Mutter spielen?«

»Ich dachte... Wir sehen uns den Kleinen einmal an. Er ist mein Sohn. Er wird dir sicher gefallen.«

»Ohne mich, mein Lieber.« Miriam zitterte am ganzen Körper. Um ihr diese Eröffnung zu machen, hatte Gerald sie in diese Wildnis gelockt. Sie stürzte den Inhalt ihres Glases in einem Zug hinunter. Nur langsam wurde sie ruhiger.

»Wenn ich dich richtig verstanden habe, willst du nur nach Europa fahren, um deinen Sohn zu sehen.« Sie funkelte ihn an.

»Ja«, gab Gerald zu. »Ich habe mich überhaupt noch nicht mit ihm befaßt. Aber er existiert. Wie mir Frau von Schoenecker schrieb, ist er stets nur herumgestoßen worden. Warum soll ich das nicht ändern?«

»Du willst ihn also zu dir nehmen?« fragte Miriam weiter. Ihre Stimme klang gefährlich ruhig.

»Ich glaube, ja.« Gerald gab sich einen Ruck. »Warum eigentlich nicht? Schau, ich kann dich ja verstehen. Für dich ist das alles sehr überraschend. Wir haben bisher kaum von meinem Sohn gesprochen. Er hat ja auch für mich praktisch nicht existiert.« Gerald erhob sich. Er nahm Miriams Hände in die seinen. »Wir werden für Tobias ein Kindermädchen engagieren. Du wirst dich nicht ständig um ihn kümmern müssen. Wichtig ist, daß Tobias endlich ein richtiges Heim bekommt. Das hat jedenfalls Frau von Schoenecker geschrieben. Sie muß es wissen. Sie ist die Verwalterin des Kinderheims, in dem Tobias jetzt lebt.«

Empört entzog Miriam ihm ihre Hände. »Deswegen willst du mich also heiraten?«

»Aber nein.« Erschrocken sah Gerald sie an. »Ich liebe dich. Das weißt du doch.«

Miriam atmete tief durch, dann sagte sie: »Unter diesen Umständen werde ich dich aber nicht heiraten. Du wirst dich zwischen deinem Sohn und mir entscheiden müssen.« Sie lächelte spöttisch. »Da du deinen Sohn noch nie gesehen hast, kann ich mir nicht vorstellen, daß dir das schwerfällt.«

Gerald sah sie an. Er versuchte, sie zu verstehen. Kalt erwiderte sie seinen Blick. »Also! Ziehst du wirklich ein dir bisher fremdes Kind mir vor?«

»Natürlich nicht. Ich dachte nur...« Er biß sich auf die Lippen.

Miriam lenkte ein. Schließlich wollte sie ihn nicht verlieren. »Was dachtest du?« fragte sie freundlich.

»Daß wir Tobias – stell dir vor, nicht einmal seinen Namen habe ich gewußt.« Ein zaghaftes Lächeln erschien auf Geralds Gesicht. »Ich dachte, daß ich Tobias zu mir nach Amerika holen könnte.«

»Holen kannst du ihn schon. Schließlich gibt es auch hier Heime. Ich habe nichts dagegen, wenn du ihm eine gute Schulbildung zukommen läßt. Aber wozu plötzlich den lieben Vater spielen? Nur weil diese Frau versucht hat, an deine väterlichen Gefühle zu appellieren?«

Gerald senkte den Blick. Hatte Miriam nicht recht? Keinen Gedanken hatte er bisher an dieses Kind verschwendet. Ihm war nie wirklich bewußt geworden, Vater eines Kindes zu sein.

Miriam erkannte, daß er unsicher wurde. Rasch legte sie ihm ihre Hand mit den sorgfältig manikürten Fingernägeln auf die Schulter. »Sweetheart, sei doch vernünftig. Du kannst wirklich nicht von mir verlangen, daß wir unsere gemeinsame Zukunft mit einem Kind beginnen. Es wäre noch etwas anderes, wenn dir dieses Kind etwas bedeuten würde. Aber du kennst es doch gar nicht.«

»Und was soll ich deiner Ansicht nach tun?«

»Wenn du es nicht in diesem Heim lassen willst, dann bringe es hier in Amerika in ein Internat. Aber laß alles so, wie es ist.«

»Und du würdest mich nach Europa begleiten?«

»Wenn du mir versprichst, das Kind dann hier sofort in ein Heim zu geben. Der Junge soll sich gar nicht erst an dich gewöhnen. Darling, sei ehrlich, kannst du dir mich als Mutter eines sechsjährigen Sohnes vorstellen?« Miriam hatte sich gefangen. Sie lächelte ihn so bezaubernd an wie eh und je.

»Du hast recht.« Gerald schloß sie in die Arme. Leidenschaftlich küßte er sie.

*

»Etwas Schlimmes?« fragte Schwester Regine. Der Postbote hatte soeben ein Telegramm gebracht.

»Ich hoffe nicht. Es kommt von Tobias’ Vater.« Denise von Schoenecker reichte Schwester Regine das Telegramm.

»Oh«, entfuhr es der Kinderschwester. »Herr May kommt nach Sophienlust.«

»Und das schon nächste Woche«, meinte Denise. Sie lächelte nicht.

»Das ist doch schön«, freute Schwester Regine sich.

»Ich bin mir nicht mehr so sicher. Ich habe Herrn May zwar geschrieben und auf eine Reaktion gehofft, aber das überrascht mich nun doch.«

»Warum? Sein Kommen zeigt doch an, daß er an seinem Sohn Interesse hat.«

»So plötzlich?« gab Denise zu bedenken. »All die Jahre hat er sich nie nach Tobias erkundigt. Auch uns hat er nur Geld überwiesen, ohne je nach dem Jungen zu fragen.«

»Offensichtlich hat er es sich jetzt anders überlegt. Er kommt deswegen sogar nach Deutschland. Sein Sohn ist ihm diese Reise wert.«

»Hoffentlich haben Sie recht. Für Tobias wäre es schlimm, wenn Herr May nur einer Laune folgen würde. Ich muß ihn auf den Besuch seines Vaters vorbereiten. Das wird ihm sicher etwas bedeuten. Und er wird gewisse Erwartungen daran knüpfen.«

Schwester Regine nickte. Jetzt verstand sie Frau von Schoeneckers Bedenken. »Sie meinen, Herr May könnte Tobias’ Erwartungen nicht erfüllen?«

»Wie sollte er das auch? Tobias brauchte Liebe. Er sehnt sich nach einem Menschen, der nur für ihn da ist. Vorgestern, als Fräulein Kaiser ihn besuchte, war er wie ausgewechselt.«

»Stimmt! Kaum war sie abgefahren, war er wieder nicht mehr ansprechbar«, mußte Schwester Regine zugeben.

»Er hat zu viele Enttäuschungen erlebt. Daher habe ich Angst. Eine weitere wird er nicht verkraften. Wenn sein Vater nur ein paar liebe Worte für ihn hat und dann wieder spurlos aus seinem Leben verschwindet, was dann? Ich hatte gehofft, mit dem Mann zuerst einen Briefwechsel führen zu können. Nun, es ist nicht mehr zu ändern. Ich werde Tobias aber auf keinen Fall Hoffnungen machen.« Denise erhob sich. »Am besten spreche ich gleich mit ihm.«

Die Kinder befanden sich im Bastelraum. Unter Anleitung von Wolfgang Rennert, dem Sohn der Heimleiterin, der in Sophienlust als Musik- und Zeichenlehrer tätig war, bastelten die Kinder Lampions, bunte Schlangen und Tischschmuck. In zehn Tagen begannen die Schulferien. Da einige Kinder, so zum Beispiel Irmela Groote, dann für einige Zeit verreisten, sollte eine große Abschiedsfeier stattfinden. Alle Kinder waren mit Eifer dabei, nur Tobias machte Unsinn. Bewußt zerschnitt er ein Blatt Papier, oder er beschmierte Gegenstände mit Leim. Wolfgang Rennert war bemüht, es zu übersehen. Als Vater eines Zwillingspärchens verfügte er über eine Menge Geduld.

Denise betrat den Bastelraum. Begeistert wurde sie von den Kindern begrüßt. Jedes Kind wollte zeigen, was es schon gebastelt hatte. Denise begutachtete und lobte, dann sah sie zu Tobias hin. Er hatte sich nicht gerührt. Sie ging zu ihm hin.

»Und was hast du gemacht?« fragte sie freundlich.

»Nichts. Ich mag keine Lampions. Ich finde Feste sowieso doof.«

»Das ist schade. Aber vielleicht kannst du etwas anderes basteln, oder etwas malen. Was willst du denn tun?« Denise fuhr ihm liebevoll über das Haar.

»Soll ich sagen, was ich will?« Tobias sah sie erwartungsvoll an.

»Natürlich. Ich habe dich doch gefragt.«

»Ich möchte mit dir wieder im Auto fahren, aber ganz allein. Wir könnten zu Tante Sonja fahren. Tante Inge dürfen wir aber nicht besuchen.« Da Denise nicht sofort etwas sagte, setzte er ein »Bitte« hinzu.

»Das geht jetzt nicht. Jetzt...«

»Hör auf.« Tobias stieß Denises Hand zur Seite. »Wenn ich etwas will, dann geht es nie.« Er rutschte vom Stuhl. »Ich gehe spazieren.«

»Warte, ich komme mit.«

»Du kommst mit?« Tobias sah sie groß an. »Gehen nur du und ich?«

»Ja! Die anderen Kinder basteln doch.«

»Fein, dann können wir ja Tante Sonja besuchen.« Tobias strahlte Denise an.

»Das ist viel zu weit. Aber wir können in den Park gehen.« Denise streckte Tobias ihre Hand hin.

»In den Park! Nein, da ist es mir zu nahe. Ich will weiter laufen.«

»Ich gehe mit.« Heidi hatte den Malstift zur Seite gelegt.

»Nein, ich gehe.« Blitzschnell griff Tobias nun nach Denises Hand. »Wir gehen in den Park. Du und ich allein.«

»Heidi, du mußt sowieso noch diese Schlange fertigmalen«, sagte Pünktchen rasch, bevor die Kleine protestieren konnte.

»Schnell, Tante Isi, gehen wir.« Tobias zog Denise zur Tür.

Zufrieden ging er neben Denise durch den Park. »Warum können wir nicht zum Tor gehen«, schlug er dann vor. »Wir gehen durch das Tor durch, und immer, immer weiter. Du und ich ganz allein.«

»Wohin willst du denn?« Denise behielt die kleine Kinderhand in der ihren.

»Wenn ich allein weggehen würde, dann würde ich zu Tante Sonja gehen«, meinte Tobias. »Aber wenn du mit bist, dann brauchen wir das nicht. Wir gehen einfach weiter. Wir gehen so lange, bis wir müde sind, und dann legen wir uns ins Gras und schlafen.« Treuherzig blickte er zu Denise auf.

»So lange kann ich aber nicht wegbleiben«, meinte Denise.

»Warum nicht? Die anderen Kinder haben ja noch Tante Ma und Schwester Regine. Ich würde dann auch immer brav sein«, schmeichelte Tobias. »Ich würde sogar Lampions basteln.«

»Wir gehen bis zum Springbrunnen«, schlug Denise vor.

»Nicht durch das große Tor?« Tobias’ Gesichtchen verfinsterte sich. »Du willst mit mir gar nicht spazierengehen. Du hast die anderen Kinder viel lieber als mich.«

»Das ist nicht wahr. Ich habe alle Kinder gleich gern.«

»Wirklich? Aber vielleicht wäre dir lieber, wenn ich wie Heidi sein würde. Heidi ist immer brav. Wenn ich Heidi sein würde, dann würde ich auch brav sein«, sinnierte Tobias.

Denise verbiß sich ein Lächeln. Tobias konnte auch ein liebes Kerlchen sein. »Wie wäre es, wenn du als Tobias einmal lieb sein würdest? Weißt du, du könntest den Kindern doch mal zeigen, daß du auch lieb sein kannst.«

»Meinst du?« Tobias nagte an seiner Unterlippe. »Ich werde es mir überlegen.« Eine Zeitlang ging er schweigend neben Denise her, dann sagte er: »Ich habe es mir überlegt. Ich werde wieder brav sein, aber dann fahren wir auch wieder einmal zu Tante Sonja, oder du sagst Tante Sonja, daß sie mich wieder besuchen soll.«

Das war für Denise das Stichwort. »Bekommst du gern Besuche?« fragte sie.

»Ich kann ja Tante Sonja nicht mehr besuchen. Von hier ist es viel zu weit, das hast du selbst gesagt. Dabei kann ich wirklich schon sehr weit laufen. Soll ich dir zeigen, wie weit ich laufen kann?«

»Ein andermal.« Denise ergriff schnell wieder Tobias’ Hand. »Nächste Woche bekommst du Besuch«, sagte sie.

»Tante Sonja«, rief Tobias erfreut.

»Nein, nicht Tante Sonja.«

Tobias blieb wie angewurzelt stehen. »Nein, ich will keinen Besuch. Dann laufe ich weg! Tante Inge darf nicht kommen und Onkel Fritz auch nicht.«

»Die beiden kommen ja gar nicht«, beruhigte Denise ihn. »Es kommt jemand anderes. Du hast doch gern Besuch?«

»Besuch!« Tobias überlegte. »Als Dieter Besuch gehabt hat, hat er eine ganze Tafel Schokolade bekommen. Wenn mir der Besuch auch etwas mitbringt, dann darf er kommen.«

»Weißt du, dein Besuch kommt von weit her.« Denise setzte sich auf die Bank, die in der Nähe des Springbrunnens stand. Sie zog Tobias auf ihre Knie. »Er will sehen, wie es dir geht.«

»Mhm«, machte Tobias. Das interessierte ihn weniger. »Was bringt ein Besuch außer Schokolade noch mit?« fragte er.

»Das kann ich nicht sagen, aber willst du gar nicht wissen, wer dich besuchen kommt?«

»Wenn es nicht Tante Sonja ist, dann ist es mir egal.«

»Du weißt aber, daß jedes Kind einen Vater und eine Mutter hat«, begann Denise. Sie wurde aber von Tobias sofort unterbrochen.

»Ich habe keine Mami, meine Mami ist tot. Ich habe nur eine Tante und einen Onkel, und die will ich nicht haben.«

»Deine Mutter ist tot«, fuhr Denise fort, »aber du hast noch einen Papa. Er lebt weit weg in Amerika.«

»Ja«, hauchte Tobias. Voller Angst sah er Denise an.

»Siehst du, und dein Papa kommt dich nun besuchen.«

»Nein! Er darf nicht«, schrie Tobias entsetzt.

»Aber Tobias!« Denise verstand sein Entsetzen nicht. »Es ist doch schön, wenn du Besuch bekommst.«

»Nein, der Papi darf nicht kommen. Ich... ich...« Tobias sah sich so verängstigt um, als würde sein Vater schon hinter ihm stehen.

Erstaunt zog Denise den Kleinen enger an sich. Sie verstand seine Reaktion nicht und versuchte, ihn zu beruhigen.

»Dein Papa will nur einmal sehen, wie es dir geht. Er kennt dich doch gar nicht.«

»Du darfst ihn nicht hereinlassen. Bitte, bitte nicht.« Und dann fing Tobias bitterlich zu weinen an.

*

»Weiß Tobias jetzt, daß morgen sein Vater kommt?« fragte Nick Pünktchen, als er nach dem Mittagessen in Sophienlust eintraf.

Pünktchen schüttelte den Kopf. »Ich habe nur seinen Vater erwähnt, da begann er schon wieder zu weinen. Er hat Tante Isi gebeten, seinen Vater nicht hereinzulassen.«

Pünktchen und Nick war entgangen, daß Heidi mit offenem Mund zugehört hatte, und jetzt sagte sie: »Tobias ist aber dumm. Ich bekomme nie Besuch. Warum habe ich nicht einen Vater, der mich besuchen kommt?«

Nick und Pünktchen sahen sich an.

»So dumm«, wiederholte Heidi. »Da kommt sein Vater und er freut sich nicht einmal.« Heidi schüttelte den Kopf. »Ich werde Tobias’ Vater schon begrüßen. Vielleicht bringt er Bonbons oder Schokolade mit. Ich frage Tobi, ob er mir etwas abgibt.«

»Heidi!« rief Pünktchen hinter dem kleinen Mädchen her, aber diese war schon in den Wintergarten hineingestürmt. Seit neuestem hielt Tobias sich dort am liebsten auf. Was Tobias dort so faszinierte, waren jedoch nicht die vielen Pflanzen, sondern daß dort Papagei Habakuk, ein Wellensittich und ein Kanarienvogel ihr Heim hatten.

»Tobi, wo bist du?« Zunächst konnte Heidi Tobias nicht entdecken. Die Pflanzen rankten sich nämlich vom Fußboden bis zur Decke empor.

»Habe keine Zeit«, knurrte Tobias. Er steckte den Kopf zwischen den Pflanzen hervor und erklärte hoheitsvoll: »Ich bringe dem Papagei das Sprechen bei.«

»Ich muß dich was fragen. Magst du Schokolade?«

»Klar!«

»Heidi!« Pünktchen war der Kleinen gefolgt.

»Laß mich. Du, Tobi, bekomme ich etwas von der Schokolade ab, die dir dein Vater morgen mitbringt?«

Tobias erstarrte.

»Ein Besuch bringt immer Schokolade mit. Ich mag Schokolade. Ein Stückchen kannst du mir abgeben.«

Langsam kam Tobias unter den Pflanzen hervor. »Mein Papa darf nicht kommen.« Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Pünktchen an.

»Ich würde mich freuen«, meinte Heidi. »Warum freust du dich nicht?«

»Nein. Er darf nicht kommen.« Tobias war aufgestanden. Er hatte die Hände gegen die Brust gepreßt. Pünktchen merkte, daß er zitterte.

»Aber Tobi, du brauchst doch keine Angst zu haben.« Pünktchen wollte den Kleinen an sich ziehen, aber er wehrte sich.

»Ihr seid böse, und gemein seid ihr auch!« Tobias schluchzte auf. »Ich habe gedacht, ihr seid netter als Tante Inge.« Bevor Pünktchen ihn zurückhalten konnte, stürzte er aus dem Zimmer. Er rannte durch die Halle.

»Tobias, was ist los?« rief Nick hinter ihm her.

Tobias blieb nicht stehen; weinend rannte er weiter.

*

»Nichts!« Atemlos kam Pünktchen angelaufen. »Ich habe im Pavillon und in der Laube nachgesehen.«

»Wir werden ihn schon finden«, versuchte Nick sie zu trösten. »Mutti, Tante Ma und Schwester Regine suchen ihn im Haus.«

»Warum ist er nur wieder fortgerannt? Er hat Angst, Nick«, beantwortete Pünktchen sich die Frage selbst. »Ich verstehe nur nicht, warum er vor seinem Vater solche Angst hat. Er hat ihn doch noch nie gesehen.«

»Er tut mir leid«, meinte Nick.

»Es war meine Schuld. Ich habe überhaupt nicht gemerkt, daß Heidi neben uns stand.« Pünktchen nagte an ihrer Unterlippe. Noch immer sah sie Tobias’ große verzweifelten Augen vor sich. Anklagend hatte er sie angesehen, und dann war er davongestürzt.

»Unsinn. Sein Vater kommt morgen. Tobias hätte es sowieso erfahren müssen. Ich frage mich nur, warum der Mann kommt?«

»Weil Tante Isi ihm geschrieben hat«, meinte Pünktchen. »Das ist doch klar.«

»Vielleicht hätte Mutti das nicht tun sollen.«

»Aber Nick!« Nun war Pünktchen empört. »Es ist höchste Zeit, daß der Mann sich um seinen Sohn kümmert. Tobias braucht eine Bezugsperson. Du hast doch selbst gesehen, daß er sich bei uns nicht eingliedert.«

»Wir können Tobias doch nicht einfach mit seinem Vater nach Amerika gehen lassen. Wer weiß, ob dieser Mann sich um Tobias kümmert. Bisher hat er es jedenfalls nicht getan.«

»Davon kann noch gar keine Rede sein. Er kommt her und will seinen Sohn sehen. Ich finde das gut. Tante Isi läßt Tobias sicher nicht mitgehen, wenn sie Bedenken gegen seinen Vater hat. Du vergißt, deine Mutti hat eine sehr gute Menschenkenntnis.« Pünktchen hatte sich in Eifer geredet.

»Aber Tobias hat Angst vor dem Mann«, gab Nick zu bedenken.

»Ihr könnt ein andermal darüber diskutieren«, sagte Irmela. Mit ihren fünfzehn Jahren war sie das älteste Dauerkind von Sophienlust. »Helft lieber suchen. Tobias muß sich wieder einmal irgendwo verkrochen haben.«

Beschämt eilte Pünktchen davon. Sie war es dann auch, die Tobias fand. Er hatte sich im Schuppen, hinter einigen Geräten, verkrochen.

»Tobias!« Erleichtert hockte Pünktchen sich neben den Kleinen. Tobias jedoch sah nicht einmal auf. Er weinte still vor sich hin. Er war nur noch ein kleines, schmutziges Häufchen Elend.

»Komm, Tobias!« Pünktchen versuchte, ihn aus seiner Ecke herauszuziehen, aber Tobias stemmte sich dagegen. Dabei wurde sein ganzer Körper vom heftigen Schluchzen geschüttelt.

Pünktchen bekam Angst. Was war nur los? Trotz war sie von Tobias gewohnt. Aber das war kein Trotz.

»Sag mir doch, was los ist«, bat sie liebevoll. Endlich gelang es ihr, ihren Arm um ihn zu legen. Tobias versteifte sich. Liebevoll sprach Pünktchen auf ihn ein, aber er reagierte überhaupt nicht. Da nahm Pünktchen ihn einfach auf und trug ihn aus dem Schuppen.

»Nein, nein.« Tobias begann zu schreien.

Denise war als erste zur Stelle. Mit gespieltem Entsetzen, schlug sie die Hände zusammen. »Ja, wie siehst du denn aus! An dir ist wohl kein sauberes Fleckchen mehr. Am besten wird sein, wir stecken dich in die Badewanne.«

Denise hatte nicht unrecht. Tobias, der nur eine kurze Hose trug, war auf dem schmutzigen Schuppenboden herumgekrochen. Sein Oberkörper und sein Gesichtchen wiesen zahlreiche Schmutzspuren auf.

Tobias hielt den Kopf gesenkt und weinte still vor sich hin.

»Das ist doch nicht schlimm«, meinte Denise nun. Sie nahm den Kleinen aus Pünktchens Armen und stellte ihn auf den Boden. »Wir bekommen dich schon wieder sauber. Wenn du willst, dann kannst du deine Badehose anziehen, und ich spritze dich mit dem Schlauch ab.« Denise wußte: das begeisterte die Kinder stets.

So war es auch heute. Alle anderen Kinder wollten nun auch ihre Badehosen anziehen. Nur Tobias stand bewegungslos da und schluchzte vor sich hin. Er hob nicht einmal den Kopf.

Denise bemühte sich zwei Stunden um ihn, aber er antwortete ihr nicht einmal. Sobald ihn jemand ansprach, begann er bitterlich zu weinen. Jeder hatte Mitleid mit ihm, denn er schluchzte herzerweichend.

Heidi, die ein großes Schleckermäulchen war, kam auf eine weitere Idee. Sie lief in die Küche zu Magda. »Du mußt uns viele gute Sachen geben«, bat sie.

»Nanu, du hast doch nicht etwa Geburtstag?« Magda hob Heidi hoch und setzte sie auf den Küchentisch. Die Köchin war eine ältere, sehr mütterliche Frau.

»Ist doch nicht für mich«, rechtfertigte Heidi sich. »Ist für Tobias. Er ist so traurig. Es müssen also lauter gute Sachen sein. Er hat mir verraten, daß er Schokolade auch so gern ißt wie ich. Wenn er Schokolade ißt, dann muß er doch aufhören zu weinen.«

»Das ist wahr. Wollen wir doch mal sehen, ob wir das nicht schaffen.« Magda, die nicht nur vorzüglich kochte, sondern sich auch oft um die Kinder kümmerte, begann einen Teller mit Gebäck und Süßigkeiten zu füllen. Heidi lief beim Zusehen schon das Wasser im Mund zusammen. Begehrlich schielte sie auf die Schleckereien. Sie schluckte.

»Glaubst du, ich bekomme auch etwas davon ab? Ein ganz kleines Stückchen würde mir doch schon genügen.«

»Augen zu, Mund auf«, kommandierte Magda, und dann schob sie Heidi ein Stückchen Marzipan in den Mund.

»Oh, ist das gut.« Heidi schloß die Augen nochmals. Sie riß ihr Mündchen wieder weit auf.

Erneut bekam sie etwas zugesteckt, dann erklärte Magda aber: »Nun ist es genug. Zuerst füttern wir Tobias.«

Heidi war damit einverstanden. Neben Magda, welche die gefüllte Schüssel trug, lief sie aus dem Haus. »Tobi«, schrie sie schon von weitem. »Nun mußt du nur noch Augen zumachen und Mund aufmachen. Es gibt lauter gute Sachen.«

Aber auch damit erreichte man bei Tobias nichts. Er sah nicht einmal die Schüssel an, sondern weinte weiter still vor sich hin.

»Ich rufe Fräulein Kaiser an«, entschied Denise, als nichts half. »Tobi, soll ich deine Tante Sonja anrufen?«

Tobias sah nicht hoch. Ein neuer Weinkrampf schüttelte seinen Körper.

*

»Fräulein Kaiser kommt«, meldete Fabian.

»Wo ist Tobias?« fragte Denise und erhob sich.

»Er sitzt auf dem Bärenfell vor dem Kamin. Er weint nicht mehr, aber er spricht auch mit niemandem«, berichtete der elfjährige Junge.

»Ich komme.« Denise folgte ihm in die Halle. Sie ging Sonja Kaiser entgegen. Dankbar drückte sie die Hand der jungen Frau. »Ich wußte wirklich keinen anderen Ausweg mehr«, versicherte sie.

»Ich bin gern gekommen. Viel Erfahrung habe ich auch nicht, aber ich habe den Kleinen gern. Vielleicht spürt er das.« Sonja folgte Denises Blick. Sie sah Tobias zusammengesunken auf dem Bärenfell sitzen. Er schien seine Umgebung überhaupt nicht wahrzunehmen.

»Oh, Tobi!« Sie eilte auf ihn zu. Impulsiv schloß sie ihn in ihre Arme. »Was ist denn los mit dir? Ich dachte, du bist gern in Sophienlust?« Stocksteif saß Tobias da.

Sonja sah nur noch den Kleinen. Sein verweintes Gesichtchen, den zuckenden Mund. Auch sie spürte, daß das kein Trotz war, sondern echte, tiefe Verzweiflung.

»Tobi.« Sie kniete sich neben ihn und versuchte, die Tränen zu trocknen, die wieder über seine Wangen liefen. »Ich möchte dir doch helfen. Du mußt mir nur sagen, warum du so weinst.«

»Alle, alle sind gemein.« Tobias drehte den Kopf zur Seite. Es waren die ersten Worte, die er seit zwei Stunden sprach.

Sonja drehte mit sanfter Gewalt sein Köpfchen wieder in ihre Richtung. »Schau mich doch an, Tobi«, bat sie. »Ich bin zu dir gekommen. Nur zu

dir.«

»Zu mir?« Fassungslos sah Tobias Sonja ins Gesicht. »Du kommst mich besuchen?«

»Natürlich!« Liebevoll sah Sonja ihn an.

»Oh!« Tobias seufzte tief auf. »Da bin ich aber froh.« Schon schlang er seine Arme um Sonjas Hals.

Denise hatte die anderen Kinder aus der Halle geschickt. Jetzt atmete sie erleichtert auf. Die erste Hürde war genommen.

Sonja herzte Tobias. Sie war sehr froh über sein Vertrauen.

»Mich kommst du besuchen? Mich allein?« vergewisserte sich Tobias noch einmal.

»Sicher, ich habe dich doch am Sonntag auch besucht. Nun laß dir aber rasch deine Nase putzen. Ich will keine Tränen mehr sehen.« Lächelnd holte Sonja ein Taschentuch hervor.

Tobias hielt still. Über sein Köpfchen hinweg tauschte Sonja einen Blick mit Frau von Schoenecker. Nachdem Tobias sich kräftig geschneuzt hatte, meinte sie:

»Nun möchte ich aber noch wissen, warum du so geweint hast?«

»Ich habe ja nicht gewußt, daß du kommst.« Tobias schmiegte sich enger an Sonja. »Tante Isi hat es mir nicht gesagt.«

»Tante Isi hat mich angerufen, weil du so geweint hast«, erklärte Sonja. Sie setzte sich hin und nahm Tobias auf den Schoß.

»Ich habe wirklich nicht gewußt, daß du kommst«, sagte er nochmals. Und dann sah Sonja, wie sich seine Augen wieder weiteten. »Ich dachte, mein Papa kommt. Er darf aber nicht kommen. So schlimm war ich doch gar nicht.«

»Nein, du warst nicht schlimm. Aber Tobi, was ist denn?« Sonja spürte, daß der Kleine wieder zitterte.

»Warum hat Tante Isi dann gesagt, daß mein Papa kommt?« fragte er schluchzend.

Sonja sah zu Denise hin. Sie merkte, daß auch diese erstaunt war. Sie beantwortete Tobias’ Frage nicht, sondern stellte eine Gegenfrage: »Warum hast du denn Angst vor deinem Papa?«

»Er will mich doch schlagen, und in den Keller sperren wird er mich auch.« Tobias weinte wieder.

»Aber Tobias!« Sonja schüttelte ihn leicht. »Warum sollte dein Papa dich denn schlagen? Er kommt dich besuchen. Er will dich kennenlernen.«

»Weil ich schlimm und böse bin. Weil ich frech bin, weil ich alles kaputtmache, und weil ich Tante Inge nie folge.« In kurzen Abständen stieß Tobias diese Sätze hervor.

Denise begriff endlich seine Angst. Jetzt konnte sie helfen. Sie setzte sich neben Sonja. »Schau, Tobi«, begann sie. »Du bist doch jetzt nicht mehr bei deiner Tante Inge. Du wohnst bei uns in Sophienlust.«

»Aber Papa kommt. Er wird mich schlagen. Tante Inge hat gesagt, er haut mich so fest, daß ich nicht mehr sitzen kann. Er kommt nur, um mich zu bestrafen.«

Nun verstand Sonja auch. »Das ist doch die Höhe!« rief sie empört. »Da hat Frau Reichelt ihm also mit seinem Vater gedroht.«

»So sieht es aus. Das konnte ich natürlich nicht ahnen.« Denise preßte sekundenlang ihre Lippen aufeinander. Am liebsten wäre sie zum Telefon gegangen und hätte Frau Reichelt ihre Meinung gesagt. Sie wußte aber auch, daß das wenig Sinn hatte.

»Ich habe geahnt, daß Frau Reichelt nicht genügend Verständnis für Tobias hat. Daß sie aber so etwas tun würde, hätte ich wirklich nicht gedacht.«

»Ich hätte es mir eigentlich denken können. Offensichtlich hat sie es auch verstanden, ihre Schwester gegen diesen Mann zu beeinflussen.« Denise unterbrach sich. Ihr wurde bewußt, daß Tobias sie mit großen Augen ansah.

»Ich bin nicht so ganz böse, oder?« fragte Tobias. Um seine Mundwinkel zuckte es noch. »Du mußt das Tante Inge sagen, damit mein Papa nicht kommt.« Blitzschnell glitt Tobias von Sonjas Schoß. Er bückte sich und streckte Denise sein Hinterteil hin. »Du darfst mich schlagen. Ich werde auch nicht schreien.«

»Warum sollte ich dich schlagen?« Denise packte ihn und schwenkte ihn durch die Luft. »Habe ich dich schon einmal geschlagen?«

»Nein, du bist ja auch lieb.« Ein Lächeln erschien auf Tobias’ Gesicht.

»Hat Tante Inge dich geschlagen?« fragte Sonja. Sie war noch immer empört.

»Nicht oft. Sie hat es aber Onkel Fritz gesagt.« Tobias’ Gesicht spiegelte Trotz. »Mir hat es aber nichts ausgemacht, wenn er mich geschlagen hat.«

»Dein Papa wird das aber ganz sicher nicht tun«, meinte Denise.

»Er kommt! Er braucht nicht kommen, bitte, bitte, Tante Isi!«

»Er tut dir bestimmt nichts«, sagte nun auch Sonja. »Er weiß gar nicht, daß du Tante Inge geärgert hast.«

»Doch!« Tobias, den Denise wieder auf den Boden gestellt hatte, wich zurück. »Tante Inge hat es ihm sicher geschrieben. Er kommt mit einer Peitsche und einem großen Stock.«

»Das ist nicht wahr. Tante Sonja und ich wissen das ganz genau.«

»Und wenn es doch wahr ist?« Tobias setzte sich auf den Boden. Die jahrelang eingeimpfte Angst ließ sich einfach nicht so schnell auslöschen.

Sonja beugte sich zu ihm hinunter. »Er wird dir nichts tun. Du kannst es mir glauben.«

»Beschützt du mich? Du bist nie auf mich böse gewesen. Ich habe dir auch nie die Zunge herausgestreckt.«

»Dein Papa tut dir sicher nichts.« Sonja strich ihm über das Köpfchen. »Dafür sorgt Frau von Scheonecker schon, und alle anderen Kinder passen auch auf dich auf. Sie sind doch alle lieb zu dir?«

»Schon«, mußte Tobias zugeben. »Aber ich glaube nur dir. Bitte, du mußt mich vor meinem Papa beschützen.«

»Ich...« Sonja sah Denise an.

»Es wäre schön, wenn Sie hierbleiben könnten. Tobias hat zu Ihnen mehr Vertrauen als zu mir«, sagte Denise. »Wir kennen seinen Vater nicht, und meine Bedenken habe ich Ihnen ja bereits am Telefon erklärt.«

»Ich nehme Urlaub«, erklärte Sonja entschlossen. »In vierzehn Tagen wäre es sowieso soweit gewesen. Ich wollte mit einer Bekannten an den Bodensee fahren, aber nun ist deren Mutter schwer erkrankt, und so haben wir unsere Buchung rückgängig gemacht.«

»Ich mache auch Urlaub«, rief Tobias sofort begeistert. »Tante Sonja und ich machen Urlaub. Wir spielen, daß Sophienlust ein Hotel ist. Hast du für Tante Sonja ein Bett?«

»Wir haben genügend Gästezimmer.« Denise sah Sonja an. »Wollen Sie Gast in Hotel Sophienlust sein?«

»Urlaub auf Sophienlust, warum nicht?« Sonja lachte. Ehrlich setzte sie hinzu: »So etwas hätte ich mir nie träumen lassen. Als ich noch mit Kurt befreundet war, verbrachten wir die Ferien immer irgendwo im Ausland. Je weiter, desto besser. Allein macht es aber keinen Spaß.«

»Ihr Freund?« fragte Denise. Sie hatte sich an die nette junge Frau gewandt, ohne eigentlich etwas von ihr zu wissen.

»Er kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben.« Sonja wollte nicht darüber reden. Sie wandte sich an Tobias. »Was meinst du, soll ich für unseren gemeinsamen Urlaub etwas zum Anziehen holen? Auch meine Zahnbürste werde ich brauchen.«

Tobias war begeistert, aber Sonja nach Maibach begleiten wollte er nicht. Er hatte Angst, daß sein Papa schon bei Tante Inge war.

*

»Eine reizvolle Gegend«, sagte Gerald May. Er fuhr langsam. Er war nicht oft in Maibach gewesen, und die Umgebung der Kreisstadt kannte er gar nicht.

»Typisch deutsch«, meinte Miriam etwas abfällig.

Gerald war anderer Ansicht. »Ein reizender Ort«, stellte er fest, als sie durch Wildmoos fuhren. »Wir müssen gleich da sein. Das Kinderheim Sophienlust gehört zu Wildmoos. Sieh nur diesen Gasthof.« Unwillkürlich trat Gerald auf die Bremse. »Zum Grünen Krug«, entzifferte er laut das Schild. »Was hältst du davon, wenn wir hier absteigen?«

Miriam war entsetzt. »Hier! Das ist doch ein ganz gewöhnlicher Gasthof!« Gerald war bereits auf einen Parkplatz gefahren. »Nein, mein Darling, da bleibe ich keine Nacht. Was willst du hier? Hier ist doch nichts los. Da sagen sich doch Füchse und Hasen gute Nacht.«

»Ich will meinen Sohn sehen.«

»Natürlich.« Miriam ließ sich in den Sitz zurückfallen. »Warum fährst du dann nicht endlich zu diesem Kinderheim? Sag deinem Sohn guten Tag, und damit ist der Fall erledigt.«

»Aber Miriam, wir haben doch ausgemacht, daß wir Tobias mit nach Amerika nehmen.«

»Und ihn dort in ein Heim geben«, ergänzte Miriam.

»Ja«, sagte Gerald, aber es klang zögernd.

»Also. Was willst du hier? Du sagst deinem Sohn guten Tag, machst mit der Heimleiterin aus, wann du ihn abholst und dann geht es ab nach Paris.«

»Nein! So geht das nicht. Du vergißt, daß ich vor allem wegen Tobias nach Deutschland geflogen bin.«

»Was!« Miriam fuhr auf. »Du hast mich doch zu einer Europareise eingeladen!«

»Ich habe dir gesagt, daß ich wegen Tobias fahre«, beharrte Gerald. »Einige Tage werden wir schon hierbleiben müssen.«

»Tobias, Tobias«, höhnte Miriam. »Was willst du bloß von ihm?«

»Ich weiß es nicht.« Geralds Schultern sanken nach vorne. Er sah aus dem Fenster. Sie befanden sich auf dem Marktplatz. Es war ein idyllischer kleiner Ort in Deutschland, und Deutschland war seine Heimat. Am liebsten wäre er ausgestiegen und durch den Ort gegangen. War das sentimental? Miriam würde es jedenfalls nicht verstehen. Fast bereute er schon, Miriam mitgenommen zu haben. Er hätte gerne das Wiedersehen mit Deutschland auf seine Art gefeiert. Dieser Gasthof hier, der hätte ihm zum Beispiel gefallen. Sicher gab es hier noch richtig gemütliche Bauernmöbel.

»Los, nun fahre doch endlich. Bring’ deinen Besuch hinter dich«, Miriam stieß ihn leicht an.

»Und dann?«

»Nein, Darling, hier übernachte ich auf keinen Fall. Das ist doch kein Hotel. Darling, versprichst du mir etwas?« Miriam hob die Hand und streichelte sachte über seine Wange.

Gerald wurde wieder schwach. Er nahm ihre Hand und zog sie an die Lippen.

»Darling«, flötete Miriam. »Vor uns liegen drei herrliche Wochen. Versprich mir, daß wir uns nicht länger als nötig in dieser ländlichen Gegend aufhalten.«

»Gut, wenn du willst, übernachten wir in der Kreisstadt. Maibach ist ja nicht weit von hier entfernt.«

Miriam rümpfte die Nase. »Viel kann diese Stadt sicher auch nicht bieten. Eigentlich habe ich mir Deutschland anders vorgestellt.«

»Ich werde es dir zeigen, mein Deutschland. Du wirst sehen, es wird dir schon noch gefallen«, meinte Gerald zuversichtlich.

Miriam zog es vor, darauf nichts zu erwidern. Sie hatte schon längst gemerkt, daß sie und Gerald nicht immer den gleichen Geschmack hatten. So lange sie jedoch ihren Willen durchsetzen konnte, störte sie das wenig.

Auch die geschnitzten Wegweiser, denen Gerald jetzt folgte, konnte in Miriam kein Interesse wecken. Gerald hingegen fand die lustigen Wegweiser mit den geschnitzten Figuren von Kindern und Tieren sehr nett. Er wurde immer neugieriger auf dieses Kinderheim.

Und dann waren sie da. Einladend stand das große schmiedeeiserne Tor offen. Gerald hielt an, um sich alles anzusehen, doch Miriam drängte: »Fahr doch weiter, wir haben schon genug Zeit verloren. Ich will heute abend noch etwas unternehmen.«

So fuhr Gerald durch das Tor und dann die Auffahrt hinauf. Vor der großen Freitreppe sah er einige Kinder stehen. Auch ein kleiner Junge war dabei. Als er anhielt, sah er, daß der Junge in den Park hineinlief.

*

»Tobi, ich bin doch bei dir«, sagte Sonja Kaiser.

Der Kleine schmiegte sich enger an sie. Sonja spürte, wie er zitterte. »Du gehst auch bestimmt nicht weg?« flüsterte er ihr zu.

»Ich bleibe bei dir, so lange du willst.« Sonja ging mit ihm die Freitreppe hinauf. Sie hatte Tobias aus dem Park holen müssen.

»Bitte, Tante Sonja«, versuchte Tobias es nochmals. »Laß uns fortgehen. Wir wollen woanders hingehen. Ich werde immer brav sein.«

»Tobias, dein Papa ist sehr nett. Wenn du nicht weggelaufen wärst, wüßtest du das jetzt auch schon. Du kannst mir wirklich glauben, daß er nicht hierhergekommen ist, um dich zu strafen.«

»Warum dann?«

»Weil er dich sehen will. Weil du sein kleiner Sohn bist.« Sonja musterte ihn prüfend. »Laß dich mal ansehen.«

Tobias senkte den Kopf. »Und wenn ich ihm nun nicht gefalle?« fragte er leise.

»Ich finde, du bist ein lieber, netter Junge.« Sonja holte einen Kamm hervor und kämmte ihm das Haar glatt.

»Bin ich nicht mehr schlimm?« Ängstlich sah er sie an.

»Das liegt doch bei dir, Tobi.« Sonja lächelte.

»Nein!« Der Kleine schüttelte mit Überzeugung den Kopf. »Ich kann nicht brav sein. Ich bin doch ein böser, schlimmer Junge.«

»Bist du nicht. So und jetzt ab mit dir.«

»Nein!« Tobias’ Augen weiteten sich entsetzt. »Du mußt mitkommen!«

»Ich komme ja mit.« Sonja nahm seine Hand, und dann ging sie mit ihm zum Biedermeierzimmer, das Denise von Schoenecker gehörte. Dort empfing sie nur besondere Besucher.

»Ich will nicht da hinein.« Kurz vor der Tür blieb Tobias wie angewurzelt stehen.

»Tobi, es ist doch schön, wenn man Besuch bekommt«, probierte Sonja es nochmals. »Und besonders schön ist es, wenn der eigene Papa da ist.«

»Ich brauche aber keinen Papa. Jetzt habe ich ja dich.«

Sonja seufzte. In den nächsten drei Wochen konnte sie sich zwar um Tobias kümmern, aber dann mußte sie wieder arbeiten. Dann lächelte sie aufmunternd und meinte: »Ich habe mir deinen Papa schon ganz genau angesehen. Mir gefällt er.«

»Na gut. Dann sehe ich ihn mir auch einmal an.« Er umklammerte fest Sonjas Hand, als er sich von ihr in das Biedermeierzimmer führen ließ.

Zuerst hielt er den Kopf gesenkt. Er hörte Sonja sagen: »Ich habe Tobias im Park gefunden.«

Gerald May sah auf das gesenkte Köpfchen. Sein Sohn! Sein Herz machte einen Riesensprung.

»Du bist also der Tobias«, sagte er, und seine Stimme klang rauh.

»Ja.« Tobias hob den Kopf. Er sah seinen Vater an. Ein heißer Schreck durchfuhr Gerald May. Diese Augen! Der Kleine hatte Marions Augen. Und nicht nur die Augen hatte er von ihr, er hatte auch ihr blondes Haar.

Auch Tobias schluckte. Die Abwehr schwand aus seinem Gesicht. Der Mann hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit Onkel Fritz.

»Ich bin dein Papa«, sagte Gerald etwas hilflos.

»Ich weiß. Ich soll dir Grüß Gott sagen.«

»Warum bist du weggelaufen?« fragte Gerald. »Du brauchst vor mir keine Angst zu haben.« Er ging auf Tobias zu.

Tobias sagte nichts, er wich aber auch nicht zurück.

»Hallo«, sagte Gerald. »Wollen wir Freunde werden?« Er streckte Tobias seine Hand hin.

Miriam erhob sich ebenfalls. »Hallo, Tobias«, warf sie ein. »Ich bin Miriam.« Sie sprach mit einem leichten amerikanischen Akzent.

Tobias sah sie kurz an, dann entschied er: »Sie will ich nicht begrüßen. Dir sage ich aber Grüß Gott.« Er streckte seinem Vater die Hand hin.

»Das freut mich.« Gerald ergriff die kleine Kinderhand. Er ging in die Hocke, und erneut musterten sich Vater und Sohn. Beide begannen zu lächeln. Sie lächelten sich zu.

»Ich freue mich«, sagte Gerald.

»Ich glaube, ich laufe vor dir nicht mehr weg«, stellte Tobias fest.

»Was ist los?« Miriam trat neben ihren Freund. »Willst du nicht dafür sorgen, daß der Kleine mich begrüßt?« Kalt blickte sie zu Tobias herab.

Ihr Blick machte Tobias wieder Angst. Er entzog seinem Vater seine Hand und flüchtete zu Sonja zurück. »Wer ist die Frau?« flüsterte er ihr zu.

»Ich werde deine neue Mutter sein. Also, was ist, willst du mich nicht begrüßen?« Sie streckte Tobias ihre Hand hin.

»Nein! Ich will keine Mutter, ich brauche keine Mutter. Jedenfalls nicht so eine.« Er drückte sich enger an Sonja.

»Das ist doch die Höhe!« Empört drehte Miriam sich nach Denise um. »Benehmen haben Sie dem Jungen wohl nicht beigebracht!«

»Miriam!« sagte Gerald scharf. Er sah sie an, und ihn fröstelte plötzlich. Zum ersten Mal fiel ihm auf, daß es ihr an Wärme fehlte. Wie anders war da diese junge Frau, die sich so liebevoll um seinen Sohn kümmerte. Irgendwie erinnerte sie ihn an Marion.

»Es ist doch wahr.« Miriam warf ihre Lippen auf. »Offenbar kannst du die Wahrheit nicht vertragen. Es ist an der Zeit, daß du dich fragst, was du hier eigentlich willst.« Miriam drehte sich um und stolzierte zum Tisch zurück. Ihr Deutsch war wirklich ausgezeichnet.

Gerald wandte sich an Denise. »Entschuldigen Sie bitte, Frau von Schoenecker. Fräulein Sutter ist zum erstenmal in Deutschland. Ihr ist hier alles fremd.« Dann sah er Miriam an, und sein Blick sagte ihr, daß sie zu weit gegangen war.

»Entschuldigen Sie«, bat nun auch sie. »Gerald hat recht. Wir sind noch kaum zum Ausruhen gekommen. Wir haben uns am Flugplatz ein Auto gemietet und sind direkt hierhergefahren.«

»Wir werden heute auch nicht lange bleiben«, erklärte Gerald. »Ich möchte aber wiederkommen.« Sein Lächeln bekam wieder Wärme. »Wir werden einige Tage in Maibach bleiben.«

»Aber nicht zu lange«, warf Miriam ein.

Gerald überhörte diesen Einwand. Er wandte sich wieder seinem Sohn zu. »Tobias, darf ich dich wieder besuchen kommen?«

Tobias sah seinen Vater lange an, dann nickte er.

»Fein, ich freue mich darauf.«

»Aber die Frau, mußt du die auch mitbringen?« Tobias zeigte auf Miriam.

Miriam lächelte zuckersüß. »Gerald, Darling, jetzt hätten wir beinahe etwas vergessen! Wir haben ihm doch etwas mitgebracht.«

»Ich brauche nichts«, sagte Tobias trotzig.

»Da hast du es, Gerald!« trumpfte Miriam auf. »Und du wolltest einen Haufen Zeug für ihn kaufen.«

»Miriam, bitte, halte dich da heraus.« Gerald schämte sich für seine Freundin.

»Gut, aber ich finde, du benimmst dich ziemlich sentimental, mein Darling.« Lächelnd, als wäre nichts gewesen, wandte sie sich dann an Denise. »Ihr Kaffee schmeckt ausgezeichnet. Könnte ich noch eine Tasse haben?«

Denise kam ihrem Wunsch nach und füllte eigenhändig Miriams Tasse. Sie war enttäuscht. Sie hatte nicht gewußt, daß Herr May seine Braut mitbringen würde. Gern hätte sie Herrn May eingeladen, in Sophienlust zu wohnen, aber unter diesen Umständen kam das nicht in Frage.

*

»Du willst schon wieder zu diesem Kinderheim?« Heftig schob Miriam das Frühstücksei von sich. Wenn sie unter sich waren, sprach sie wieder Englisch. »Hat es dir gestern denn nicht genügt? Du hast deinen Sohn doch nun kennengelernt.«

»Um uns kennenzulernen, hatten wir gestern wohl kaum genügend Zeit«, entgegnete Gerald ruhig. Er blickte nicht auf. Gelassen köpfte er sein Ei und begann zu essen.

»Was willst du eigentlich?« Miriam schob auch das Brötchen von sich. Ihr war der Appetit vergangen. »Du hast ihn gesehen, ich finde, das genügt. In drei Wochen nehmen wir ihn dann mit nach Amerika, und dort kommt er in ein Heim, das hast du mir versprochen.«

Gerald aß weiter. Er wollte Tobias nicht in ein Heim geben, das stand für ihn jetzt schon fest.

Miriam ließ ihn nicht aus den Augen. Es machte sie rasend, daß er so einfach weiter aß. »Schöne Europareise«, höhnte sie. »Das einzige, was du mir zeigst, ist dieses Nest.«

»Wir sind erst gestern hier angekommen. Selbstverständlich werde ich dir noch mehr von Deutschland zeigen. Wenn uns Zeit dazu bleibt, können wir auch einen Abstecher nach Paris machen.«

»Wenn uns Zeit bleibt«, wiederholte Miriam wütend. »Wir haben Zeit. Wir könnten gleich losfahren. Aber du willst ja noch hier herumsitzen.« Miriams Stimme war immer lauter geworden.

Jetzt blickte Gerald auf. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sie an.

»Es ist doch wahr! Ich habe mich so auf diese Reise gefreut«, sagte sie leiser.

»Ich will nicht hier herumsitzen; ich will meinen Sohn besuchen!«

»Und ich?« fuhr Miriam erneut auf. »Was soll ich tun? Glaubst du, mir macht es Spaß, zu diesem Kinderheim zu fahren? Soll ich mir weiterhin Beleidigungen von deinem Sohn gefallen lassen?«

»Du kannst ja hierbleiben«, schlug Gerald vor.

»Hier? Du bist ja nicht ganz bei Trost! Dieses Hotel hat nicht einmal einen Swimmingpool. Ich würde mich zu Tode langweilen. Da begleite ich dich schon lieber. Diese Frau von Schoenecker hat zumindest Stil, das muß man ihr lassen. Ich verstehe nur nicht, weshalb sie sich mit solchen Rotznasen herumärgert.«

»Ich habe das Gefühl, daß sie ihre Aufgabe sehr ernst nimmt und daß sie ihr vor allem Freude macht.« Gerald dachte an den Brief, den er von ihr erhalten hatte.

Miriam hatte ihn scharf beobachtet. »Typisch Mann«, stellte sie nun fest. »Aber ich muß zugeben, sie ist sehr charmant. Aber gut erzogen hat sie deinen Jungen nicht.«

Auch da war Gerald anderer Ansicht, aber er zog es vor zu schweigen. »Willst du nicht doch noch etwas essen?« fragte er nach einiger Zeit. »Ich kann dir auch etwas anderes bestellen.«

»Danke, die Aussicht, daß ich wieder nach Sophienlust soll, hat mir den Appetit verdorben.«

»Du mußt nicht mitkommen«, erinnerte Gerald sie sofort.

»Wenn du mich los sein willst, bitte.« Miriam machte Anstalten, sich zu erheben.

»So war es nicht gemeint«, lenkte Gerald ein. »Kannst du mich denn nicht verstehen? Plötzlich habe ich einen Sohn. Ich muß doch wissen, wie er fühlt. Ich habe von Kindern keine Ahnung.«

Miriams hübsches Gesicht blieb ausdruckslos. Sie wollte ihn nicht verstehen. Dieses Kind interessierte sie nicht. Sie wollte Gerald heiraten, und da war ihr dieses Kind nur im Weg.

»Miriam!« Er streckte seine Hand nach ihr aus. »Wir machen jetzt einen Bummel durch dieses reizende Städtchen, und anschließend fahren wir nach Wildmoos. Wir werden diesen Tag mit Tobias verbringen. Ich möchte ihm eine Freude machen. Mir ist der Gedanke, daß er vor mir Angst hat, einfach unerträglich.«

»Und was dann?« Miriam entzog ihm ihre Hand.

»Dann...« Erstaunt sah Gerald sie an.

»Ich meine, was soll das Ganze?« Sie sah, wie sich seine Miene verfinsterte. Diesmal lenkte sie ein. »Gut, besuche den Kleinen noch mal. Ich finde nur, es ist nicht recht, wenn du ihm falsche Hoffnungen machst. Ihr seid euch fremd. Es wäre besser, wenn es so bliebe. Er ist doch daran gewöhnt, bei fremden Leuten aufzuwachsen. Er wird sich auch in einem amerikanischen Heim wohl fühlen.«

Hatte Miriam recht, oder hatte sie unrecht? Gerald wußte es nicht. Ihm kam alles unwirklich vor. Plötzlich hatte er einen Sohn, der ihn sehr an Marion erinnerte. Marion war tot, aber ihr gemeinsamer Sohn lebte. In der Nacht hatte er lange wachgelegen und an die Zeit gedacht, die er mit Marion verbracht hatte. Es war eine schöne Zeit gewesen, und es hatte nicht nur die Arbeit gezählt. Aber die Vergangenheit war tot. Es hatte keinen Sinn, sie heraufzubeschwören. Sein Sohn jedoch lebte, und er freute sich auf das Wiedersehen mit ihm. An mehr wollte er jetzt noch gar nicht denken.

»Wenn du fertig bist, dann laß uns aufbrechen«, meinte er daher.

Miriam seufzte. »Wenn diese Stadt wenigstens etwas zu bieten hätte!«

»Es gibt sehr schöne Fachwerkhäuser und eine Altstadt mit vielen winkligen Gäßchen. Wir werden zusammen die schönsten Fleckchen entdecken.« In seinem Eifer vergaß er ganz, daß Miriam für Romantik nichts übrig hatte und auch nicht gern zu Fuß ging. Sie stöckelte daher auch nur pflichtbewußt neben ihm her. Sie nickte zustimmend, wenn er sie auf etwas besonders Reizvolles aufmerksam machte, um ihn bei Laune zu halten. noch hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, ihn in den nächsten Tagen nach Paris zu entführen. Paris war das Ziel ihrer Träume. Schließlich hatte sie jedoch von dem Spaziergang genug. Sie blieb vor der Auslage eines Spielwarengeschäftes stehen.

»Sieh mal, dieses Feuerwehrauto. Das würde Tobias sicher Freude machen. Soviel ich weiß, lieben Kinder solche Sachen.«

»Wenn du meinst.« Gerald war erfreut. »Ich erinnere mich, als Kind wollte ich immer Feuerwehrmann werden.«

»Darf ich ihm das Auto schenken?« bat Miriam. »Ich möchte ihm auch eine Freude machen.«

»Lieb von dir.« Gerald war gerührt. »Ich bin sicher, du wirst dich mit ihm noch anfreunden.«

»Warum nicht?« meinte Miriam leichthin. Sie hoffte, daß sie dazu nicht viel Gelegenheit haben würde. »Es liegt aber bei dir, dafür zu sorgen, daß er nicht frech zu mir ist. Weißt du, alles kann ich mir einfach nicht gefallen lassen.«

»Du hast recht. Wenn du ihm dieses Auto schenkst, wird er sich aber sicher freuen und brav sein.« Gerald war zuversichtlich und vor allem dankbar, daß Miriam nun doch guten Willen zeigte.

*

»Ein Auto!« rief Fabian. Er hatte es als erster gehört. Wie auf Kommando rannten nun alle Kinder zur Auffahrt hin.

»Du, das ist das gleiche Auto wie gestern«, sagte Vicky zu Tobias.

»Und der gleiche Mann sitzt am Steuer. Tobias, dein Vater kommt wieder«, ergänzte Fabian.

»Prima!« Tobias lief zur Freitreppe hin, wo das Auto gerade anhielt.

Gerald sah ihn kommen. Lachend stieg er aus. »Hallo, Tobias!«

»Hallo«, antwortete Tobias. Nach kurzem Zögern setzte er »Papa« hinzu.

»Ich habe mir gedacht, wir können etwas zusammen unternehmen.« Gerald lächelte unsicher. »Was würdest du denn gern machen?«

»Da frage ich am besten Tante Sonja.« Tobias drehte sich um und wollte ins Haus laufen. Miriam hatte aber rasch das Fenster heruntergekurbelt und rief hinter ihm her: »Willst du mich nicht auch begrüßen?«

Tobias blieb wie angewurzelt stehen. Er wandte sich wieder um. »Warum hast du die wieder mitgebracht?« fragte er seinen Vater.

»Du bist wirklich ein ungezogener Junge.« Miriams Gesicht verfinsterte sich. »Du wirst hoffentlich gleich freundlicher zu mir sein. Ich habe dir nämlich etwas sehr Schönes mitgebracht.«

»Das stimmt«, kam Gerald seiner Freundin zur Hilfe. »Tante Miriam hat es selbst für dich ausgesucht. Sie wollte dir eine Freude machen. Ist dies nicht lieb von ihr?«

»Und du, hast du mir gar nichts mitgebracht?« fragte Tobias.

»Natürlich. Hier ist erst einmal eine Tafel Schokolade. Im Auto habe ich dann auch noch ein Spielzeug für dich. Willst du es sehen?« Gerald hatte Miriam ganz vergessen.

»Halt!« rief diese erbost. »Zuerst darf ich doch wohl Tobias mein Geschenk geben. Wie sagt man, Tobias?«

»Ich will nichts von dir«, sagte Tobias.

»Tobi, sieh es dir doch erst einmal an«, versuchte Gerald zu vermitteln. »Tante Miriam hat wirklich etwas sehr Schönes für dich gekauft.«

»Ich will lieber dein Geschenk sehen«, sagte der Kleine.

»Tante Miriams Geschenk ist aber viel schöner.«

Tobias preßte seine Lippen aufeinander. Er wollte keine neue Tante haben.

»Ich zeige es ihm«, meinte Miriam. Sie stieg aus und holte das Feuerwehrauto vom Hintersitz. »Du wirst dich bestimmt gleich freuen«, sagte sie selbstbewußt. »Du mußt aber danke sagen, sonst bekommst du es nicht.«

Tobias versteckte seine Hände hinter seinem Rücken. »Ich will nichts«, sagte er laut. »Du kannst es wieder mitnehmen.«

»An deiner Stelle würde ich mir das noch mal überlegen. Weißt du, meiner Geduld sind Grenzen gesetzt.« Miriam sah zu Gerald hin. Jetzt sah er selbst, was für ein ungezogenes Kind sein Sohn war. Das war auch der Grund, weshalb sie sich von Tobias nicht herausfordern ließ. Sie lächelte noch immer zuckersüß.

»Tobias«, lockte Gerald. Er war froh, daß Miriam so viel Geduld zeigte. »Ich nehme jetzt die Verpackung weg, dann siehst du, was es ist. Oder noch besser, du versuchst einmal zu raten. Es ist groß und rot.«

»Die Tante soll es behalten«, sagte Tobias trotzig. »Ich will ihr dummes Spielzeug nicht.«

Das war Miriam nun doch zuviel. »Das habe ich wirklich nicht nötig«, sagte sie spitz zu Gerald. »Vielleicht siehst du jetzt ein, daß deine Bemühungen vergeblich sind. Laß uns fahren.«

»Laß sie wegfahren, Papa«, sagte Tobias. »Wir brauchen sie nicht. Wir haben doch Tante Sonja. Da, da ist sie.« Tobias lief die Treppe hinauf. Sonja kam gerade ahnungslos aus dem Haus.

»Tante Sonja, mein Papa hat mir etwas mitgebracht! Komm, wir wollen es uns zusammen ansehen.«

»Fein«, sagte Sonja. Sie nahm Tobias an der Hand und ging mit ihm zum Auto. Sie grüßte freundlich, und da ihr Gerald die Hand entgegenstreckte, reichte sie ihm die ihre.

»Guten Tag«, grüßte Miriam honigsüß. »Mich übersehen Sie wohl auch?«

Sonja schoß das Blut ins Gesicht. »Entschuldigung, ich wollte nicht...«

»Mich wundert nichts mehr, daß Tobias keinen Anstand hat. Woher sollte er auch wissen, was sich gehört.« Miriam musterte Sonja von oben herab.

Gerald öffnete den Mund, schloß ihn jedoch wieder. Er wußte nicht, wie er hätte vermitteln können.

»Finden Sie es richtig, daß ein Kind sich nicht einmal bedankt, wenn man ihm etwas schenkt?«

»Ich will ihr Geschenk nicht haben! Papas Geschenk will ich sehen«, rief Tobias.

»Da hören Sie es selbst. Ich will aber nicht so sein. Schließlich kann der Junge nichts dafür, daß er falsch erzogen wurde. Sieh nur, Tobias, das ist für dich.« Mit einer schnellen Bewegung entfernte Miriam das Verpackungsmaterial. Tobias konnte das schöne Feuerwehrauto nun richtig sehen.

»Toll!« rief Fabian begeistert. »Mensch, Tobias, damit können wir prima spielen.«

»Ja, das könnt ihr. Habe ich Tobias nicht etwas Schönes mitgebracht?«

»Klar.« Fabian kam näher. Er streckte seien Hand aus und berührte die große Leiter. »Kann man sie auf- und abdrehen?« fragte er.

»Natürlich.« Miriam entzog Fabian das Auto. Sie hielt es Tobias hin. »Komm, sag danke, dann kannst du es haben.«

»Von mir aus kannst du es Fabian schenken«, sagte Tobias. Er rührte sich nicht von der Stelle.

»Aber Tante Miriam hat das Auto für dich gekauft. Sie wollte dir damit eine Freude machen«, sagte Gerald. Er nahm Miriam das Auto aus der Hand und stellte es auf den Boden. »Wir können zusammen damit spielen. Wenn du willst, dann kannst du der Feuerwehrhauptmann sein.« Gerald ging in die Knie und begann, die Leiter hochzukurbeln. Sie reichte Tobias bis zum Bauch. Tobias’ Augen begannen zu leuchten. Er konnte sich dem Zauber dieses Spielzeuges nicht mehr länger entziehen. »Es hat ja auch einen richtigen Schlauch«, staunte er und streckte die Hand aus, um diesen dann zu berühren.

Miriam kam ihm zuvor. Sie zog das Auto näher zu sich heran. »Du hast dich noch immer nicht bedankt. Vorher darfst du damit nicht spielen.«

»Dann behalte dein dummes Auto!« Er versetzte dem Auto mit dem Fuß einen so heftigen Stoß, daß die Leiter abbrach. »Da hast du es«, schrie Tobias. Sein alter Trotz brach wieder durch. »Gleich trete ich dich auch. Vielleicht gehst du dann auch kaputt.«

Miriam schrie empört auf. Auch Gerald war empört. Spontan versetzte er seinem Sohn eine Ohrfeige.

Mit offenem Mund stand Tobias da. Er brachte kein Wort hervor, weinte aber auch nicht. Gerald selbst war am meisten erschrocken. Ehe er etwas sagen konnte, streckte Tobias anklagend seine Hand aus. »Du, du hast mich geschlagen«, stammelte er. »Sie haben mich belogen, alle haben mich belogen!« Er drehte sich um. Aufrecht und mit erhobenem Kopf ging er davon.

»Das hätten Sie nicht tun sollen«, sagte Sonja betroffen.

»Ich weiß«, murmelte Gerald und eilte seinem Sohn nach.

»Geh weg«, sagte Tobias. »Du kannst nach Amerika zurückfahren. Du mußt mich nicht mehr bestrafen kommen. Ich werde nicht mehr böse sein.«

Mit Genugtuung hatte Miriam diese Szene beobachtet. »Nun komm schon, Gerald. Ich würde sagen, für heute reicht es.« Sie nickte Sonja zu. »Guten Tag«, sagte sie hoheitsvoll und stieg ins Auto ein. Dann legte sie ihre Hand auf die Hupe.

*

Sonja saß auf der Kante von Tobias’ Bett. Tobias hatte sein Gesicht im Kissen vergraben. Seit einer Viertelstunde sprach Sonja auf ihn ein, aber er hatte sich noch nicht gerührt. Da riß ihr die Geduld. Sie faßte ihn an den Schultern und drehte ihn herum.

»Laß mich!« Tobias schlug mit den Händen nach ihr.

»Nein. Wenn du nicht mit mir redest, muß ich jetzt aufstehen und weggehen. Und dann komme ich nicht zurück.«

»Ist mir egal.« Tobias wollte sich wieder abwenden, doch Sonja hielt ihn fest.

»Aber mir nicht«, sagte sie energisch. »Ich mag dich nämlich.«

»Das ist nicht wahr.« Tobias wollte nicht weinen, aber jetzt füllten sich seine Augen doch mit Tränen. »Du hast mir versprochen, daß du mich beschützt!«

»Du hattest diese Ohrfeige verdient«, sagte Sonja. »Was du gemacht hast, war gar nicht nett.«

»Doch! Ich wollte das Auto nicht. Warum hat die Frau es nicht genommen und ist damit weggegangen?«

»Weil sie die Freundin deines Vaters ist«, sagte Sonja. Sie spürte einen Stich in der Herzgegend. Wie konnte ein so netter Mann wie Herr May ein so arrogantes Mädchen lieben? Sie paßte doch gar nicht zu ihm.

»Ich mag sie nicht; ich mag Papa auch nicht, und dich mag ich auch nicht.« Blitzschnell warf Tobias sich auf die Seite.

»Ich bin aber sicher, daß dein Papa dich mag«, bemerkte Sonja sanft.

»Du hast mich belogen. Tante Isi hat mich auch belogen. Von dieser dummen bösen Tante habt ihr mir nichts erzählt.«

»Wir haben es nicht gewußt«, sagte Sonja.

»Ich will diese Tante nicht! Ich will niemanden!« Tobias drehte sich wieder herum. »Du hast doch gelogen! Du hast mir gesagt, daß mein Papa mir nichts tut. Aber er hat mich geschlagen.« Seine Hand fuhr zur Wange. »Jetzt weiß ich, daß Tante Inge ihn geschickt hat.« Mit seiner Beherrschung war es vorbei. Er schluchzte laut auf.

»Ich habe dir gesagt, daß das nicht stimmt.« Sonja beugte sich über ihn. Sie wollte ihn streicheln, aber er drehte rasch seinen Kopf zur Seite.

»Ich glaube dir nicht mehr.«

»Ich habe dich nicht belogen. Dein Papa ist lieb.«

»Aber die Frau, die ist nicht lieb. Sie ist böse. Sie ist eine blöde Kuh, sie ist eine Ziege.« Tobias redete sich immer mehr in Wut. Mit den Fäusten schlug er dabei auf die Bettdecke. »Wenn Papa sie noch einmal mitbringt, dann sage ich es ihr.«

»Was ist, wenn dein Papa nicht mehr kommt?« fragte Sonja.

Tobias hielt mitten in der Bewegung inne. Sekundenlang war er wie versteinert. »Er braucht nicht mehr zu kommen«, sagte er dann. Um seine Mundwinkel zuckte es aber. »Ich bin schon groß, ich brauche niemand.« Das war wieder der alte trotzige Tobias.

»Na, schön.« Sonja erhob sich. »Dann brauchst du ja auch niemanden zum Urlaub machen. Ich werde dann wieder nach Hause fahren.«

»Nein, du darfst nicht weggehen!« Zögernd streckte Tobias seine Hand nach ihr aus.

»Aber du brauchst doch niemanden.« Es fiel Sonja schwer, hart zu bleiben. »Du glaubst doch, daß dich alle belügen, daß dich keiner mag. Also ist es besser, du machst allein Urlaub.«

Da war Tobias aber auch schon aus seinem Bett und umklammerte Sonja. »Nein, bitte geh’ nicht weg.«

Sonja nahm ihn in die Arme. In diesem Moment kam Denise von Schoenecker zur Tür herein. Als sie Tobias in Sonjas Armen sah, war sie erleichtert. Nachdem sein Vater weggefahren war, hatte Tobias wieder einmal mit niemandem reden wollen.

»Ich lasse Tante Sonja nicht weg. Ich... laß mich los.« Er lief zu Denise hin. »Ich war nicht lieb. Ich will zwar das dumme Feuerwehrauto nicht, und ich will auch nicht die blöde Tante. Ich will aber nicht, daß du auf mich böse bist. Ich sage daher Entschuldigung.« Tobias senkte das Köpfchen. Gleich darauf schielte er aber etwas verlegen zu Denise auf. »Ich habe mich noch nie entschuldigt«, verriet er.

»Ist gut, Tobias. Versprich mir aber bitte, daß du nicht immer einfach davonläufst, wenn dir etwas nicht gefällt.«

»Versprochen!« Tobias schob seine Unterlippe nach vorn. »Was man verspricht, muß man auch halten, nicht wahr?«

»Ja!« Denise blieb ernst. Nur ihre Augen lachten.

»Ja, dann...« Tobias seufzte tief. »Gut, ich verspreche es. Darf ich dir jetzt einen Kuß geben?«

»Natürlich!« Denise beugte sich zu ihm herunter, doch da hatte es Tobias sich schon wieder anders überlegt. »Zuerst bekommt Tante Sonja einen Kuß. Weißt du, sie muß dableiben.«

Nachdem Tobias den beiden Frauen einen dicken Schmatz gegeben hatte, hielt es Sonja nicht mehr aus. »Haben Sie Herrn May angerufen?« fragte sie.

»Ich habe es versucht, ihn aber nicht erreicht. Hoffentlich erreicht Miß Sutter nun nicht, daß er abreist.«

»Das wäre schade«, sagte Sonja. Sie spürte Denises Blick und wurde rot. »Ich meine nur, Tobias und er sollten sich doch noch näher kennenlernen.«

*

»Beeilt euch«, rief Schwester Regine ins Frühstückszimmer. »Gleich fahren die Busse.«

Heidi rutschte als erste vom Stuhl. »Ich möchte auch mit zur Schule fahren.«

»Und ich möchte hierbleiben.« Fabian schnitt eine Grimasse.

»Nächsten Sonnabend haben wir schon Ferien«, verkündete Pünktchen munter.

»Und nächstes Jahr darfst du auch mit zur Schule fahren«, tröstete Schwester Regine die kleine Heidi.

»Aber dann mußt du mitfahren«, bemerkte Fabian. »Wetten, daß du dann nicht mehr willst?«

»Doch. Ich will auch zu den Großen gehören.« Heidi blickte in die Runde. »Ihr seid aber langsam! Ich bin schon lange fertig.«

»Ich glaube, es wird für uns alle Zeit«, mahnte Pünktchen. Liebevoll wandte sie sich an Heidi und Tobias. »Was macht ihr heute?«

»Ich mache Ferien. Ferien mit meiner Tante Sonja«, verkündete Tobias strahlend.

»Zuerst gehen wir aber mit zum Bus und winken den Kindern nach«, bestimmte Heidi.

»Tante Sonja soll auch mitkommen.« Seit er sich mit Sonja ausgesprochen hatte, ließ er sie keine Sekunde aus den Augen.

»Habt ihr alle euren Kakao ausgetrunken?« fragte Schwester Regine.

»Mhm«, machte Fabian. Rasch stopfte er sich den Rest seines Brotes in den Mund. Dann nahmen alle ihre Schultaschen, die schon bereit lagen und stürmten durch die Halle hinaus ins Freie.

»Einmal fahre ich doch mit«, sagte Heidi, die mit Tobias und Sonja etwas langsamer folgte. »Wenn ich nur schneller größer werden würde!« Sie seufzte.

»Das nützt nichts«, meinte Tobias altklug. »Ich habe schon Schulkinder gesehen, die nicht größer waren als ich. Auf die Größe kommt es nicht an. Da drinnen muß man es haben.« Er klopfte sich gegen die Stirn.

»Du hast es gut. Du darfst im Herbst auch schon zur Schule gehen.«

»Will ich gar nicht. Ich will mit meiner Tante Sonja immer Urlaub machen.« Besitzergreifend faßte Tobias Sonjas Hand. Diese lächelte zwar, aber ihr Herz war schwer.

Inzwischen hatten die Kinder die zwei Busse bestiegen. Diejenigen, die am Fenster saßen, winkten. Heidi und Tobias winkten heftig zurück. Auch Sonja und Schwester Regine hoben die Hand. Langsam rollten die Busse die Auffahrt hinunter.

»So und jetzt machen wir Urlaub«, sagte Tobias.

»Und ich?« Heidi machte ein Schmollmündchen.

»Wenn du brav bist, dann darfst du heute mit uns Urlaub machen«, sagte Tobias hoheitsvoll. Jetzt, wo er Sonja ganz für sich hatte, war er weit umgänglicher.

Gerade als die drei beratschlagten, was sie beginnen sollten, hörten sie Motorengeräusch. »Der Bus kommt zurück!« rief Tobias.

»Nein, das wird Tante Isi sein«, meinte Heidi. Aber es war weder der Bus noch das Auto von Denise von Schoenecker. Sonjas Herz begann schneller zu schlagen.

»Das... das ist mein Papa.« In Tobias’ Gesicht spiegelten sich seine widerstrebenden Gefühle. Schrecken, Freude und dann wieder Entsetzen. Er rührte sich nicht vom Fleck.

Gerald hielt vor der Freitreppe. Er war sehr unsicher. Er hatte es im Hotel nicht mehr ausgehalten. Obgleich sie gestern bis spät in der Nacht in der Hotelbar gesessen hatten, war er früh aufgestanden. Miriam schlief noch. Er hatte ihr einfach einen Zettel auf den Nachttisch gelegt. Er war froh, daß sie nicht aufgewacht war. Auf keinen Fall hatte er sie nochmals zu seinem Jungen mitnehmen wollen.

»Hallo!« sagte er und lächelte verlegen.

»Du... du.« Tobias’ Hand fuhr zur Wange. Dann drehte er sich abrupt um und lief weg. Die ersten Bäume des Parks hatte er bereits erreicht, als er plötzlich stehenblieb. Langsam drehte er sich dann wieder um und kam zurück.

»Ich habe versprochen, nicht mehr wegzulaufen. Was man verspricht, muß man halten.« Mit gesenktem Kopf stand er vor seinem Vater.

»Du brauchst vor mir auch nicht wegzulaufen«, sagte Gerald. Er legte die Hand unter Tobias’ Kinn und hob den Kopf des Kleinen. »Ich bin doch dein Papa, und ich möchte dir ein guter Papa sein.« Es klang etwas hilflos. Es schnitt Sonja ins Herz und ganz plötzlich wurde ihr bewußt, daß ihr diese beiden Menschen wirklich sehr viel bedeuteten.

»Ich will auch kein böser Tobias mehr sein«, sagte Tobias treuherzig.

»Dann ist ja alles in Ordnung. Wollen wir heute etwas zusammen unternehmen?«

»Ja.« Tobias strahlte seinen Vater an, aber dann wich er plötzlich zurück. »Nein, die Frau, die mit dir gekommen ist, mag ich nicht.« Er blickte mißtrauisch zum Wagen hin.

Gerald biß sich auf die Lippen, doch er hatte sich gleich wieder gefaßt. Er nahm Tobias auf den Arm und deutete auf den Wagen. »Schau doch, ich habe die Frau heute nicht mitgebracht.«

»Oh, Papa. Da bin ich aber froh!« Tobias schlang die Arme um den Hals seines Vaters, und ehe dieser sich’s versah, hatte Tobias ihn mitten auf den Mund geküßt. Es war der erste Kuß, den Gerald von seinem Sohn bekommen hatte. Zutiefst berührt schwor er sich, sich in Zukunft wirklich um Tobias zu kümmern. Gleich darauf schalt er sich einen sentimentalen Narren, denn seine Augen waren feucht geworden.

Er schwenkte seinen Sohn durch die Luft. »Und was machen wir nun, Junior? Ich stehe ganz zu deiner Verfügung.«

»Ich zeige dir den Park und unseren Spielplatz, und dann können wir zum Tierheim fahren. Wir können zum Waldsee und zum Forsthaus...«

Tobias zählte alles auf, was er seinem Vater gern zeigen wollte. Plötzlich unterbrach er sich. »Wo ist Tante Sonja? Tante Sonja muß auch mitkommen. Mit ihr mache ich nämlich Ferien.«

»Nein, Tobias«, sagte Sonja rasch. »Ich bleibe hier.«

»Aber wir machen doch zusammen Urlaub. Wir haben gesagt, daß wir die ganzen Tage immer zusammen sind.«

»Man kann sich auch im Urlaub mal trennen. Ich sollte sowieso nach Maibach fahren und nach meinen Blumen sehen.«

»Ist das nicht nur eine Ausrede, Fräulein Kaiser?« fragte Gerald. »Es wäre sehr schön, wenn Sie den Tag mit uns zusammen verbringen könnten.«

»Ja! Oh, Papa, ich mag dich.« Erneut bekam Gerald einen Schmatz. Dann löste Tobias sich aber von ihm und lief zu Sonja hin, um ihr zu versichern: »Dich mag ich auch.«

*

»Es hat prima geschmeckt.« Tobias schob den leeren Teller von sich. »Du, Papi, ich habe alles aufgegessen.«

»So gehört es sich auch«, sagte Gerald und schmunzelte.

»Ich habe überhaupt nichts übriggelassen«, versuchte es Tobias jetzt nochmals.

»Das hat Tante Sonja auch nicht.« Gerald zwinkerte Sonja zu. Er wußte, worauf sein Sohn hinauswollte.

Tobias überlegte, dann meinte er: »Tante Sonja mag sicher auch ein Eis. Du kaufst ihr eben ein großes und mir ein kleineres.«

»Mal sehen, was Tante Sonja dazu meint.« Gerald lächelte die junge Frau an. Er fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr.

Anschließend spazierten sie um den Waldsee. Zusammen mit seinem Sohn suchte er flache Kieselsteine und ließ diese dann auf der Wasseroberfläche tanzen. Tobias war begeistert, und Sonja schaute lächelnd zu.

Im Weitergehen schob Gerald seinen Arm unter Sonjas Arm. Es war eine ganz selbstverständliche Geste. »Wie schön es hier ist. Diese Weide dort, deren Äste fast das Wasser berühren...« Gerald blieb stehen. »Ich wußte gar nicht, daß es so etwas noch gibt.«

»Die Gegend um Maibach ist sehr wald- und hügelreich. Es ist eine ländliche Gegend und somit noch Erholungsgebiet«, erklärte Sonja leichthin. Sie hoffte, daß Herr May nicht das unregelmäßige Klopfen ihres Herzens bemerkte. Seine Nähe machte sie unsicher.

»Es ist ein wunderschöner Tag. Seit ich nach Amerika gegangen bin, habe ich keinen so herrlichen Tag mehr erlebt. Ich habe das Gefühl, die ganzen Jahre nicht wirklich gelebt zu haben.« Gerald sah sie an.

»Hier ist eben Ihre Heimat«, sagte Sonja und senkte ihren Blick.

»Nein. Es liegt mehr an Ihrer Gegenwart«, antwortete Gerald. Sein Herz war übervoll. Er wollte so vieles sagen, aber da kam Tobias zu ihnen gelaufen.

»Ich habe einen Fisch gesehen! Kommt schnell, ich will ihn euch zeigen!« Mit der einen Hand faßte er Sonja, mit der anderen seinen Vater. Er zog die beiden zum Ufer hin.

»Er ist nicht mehr da.« Tobias machte ein enttäuschtes Gesicht. Da entdeckte Sonja etwas entfernt einen ganzen Fischschwarm.

»Dort, guck mal! Wahrscheinlich ist er zu den anderen Fischen geschwommen«, meinte sie.

Sofort erhellte sich Tobias’ Gesicht wieder. »Klar«, stimmte er zu. »Der Fisch wollte sicher nicht allein sein. Alleinsein macht keinen Spaß.«

»Das finde ich auch.« Gerald suchte Sonjas Blick. Aber Sonja blickte rasch auf den See hinaus.

»Hier gibt es sehr viele Fische«, sagte sie und tat so, als ob ihr Interesse einzig und allein den Fischen galt.«

»Wir sind auch nicht mehr allein.« Tobias schmiegte sich an Sonja. »Wir haben jetzt meinen Papa. Von jetzt an machen wir jeden Tag zusammen Urlaub.«

Sonja wurde die Kehle eng. Was sollte sie darauf sagen? Schließlich war da ja noch diese Miriam. Sie hatte behauptet, sie würde Tobias’ Mutter werden.

»Das ist eine gute Idee«, sagte Gerald. »Was unternehmen wir morgen?« Wieder sah er Sonja an.

»Da spielen wir wieder zusammen, gehen Mittagessen und anschließend essen wir ein Eis.« Tobias hüpfte vor Begeisterung auf und ab. »Die dumme Tante aus Amerika läßt du aber wieder im Hotel.«

»Miriam!« Gerald wurde blaß. »Ich habe Miriam völlig vergessen!« Unwillkürlich sah er auf seine Uhr.

»Wir sollten gehen«, sagte Sonja.

»Schon?« Tobias schnitt eine Grimasse.

»Tobias, ich muß wirklich zurück. Tante Miriam wird wütend sein.«

»Das ist prima!« Tobias freute sich.

»Nein, Tobias. Ich habe Tante Miriam schließlich zu dieser Reise eingeladen.« Gerald wandte sich an Sonjal »Sie müssen entschuldigen. Es tut mir schrecklich leid...« Er wußte nicht weiter.

»Das ist in Ordnung.« Sonja zwang sich zu einem Lächeln. »Sie sind mit Fräulein Sutter verlobt...«

»Nein, das bin ich nicht«, unterbrach er sie heftig. Doch dann färbten sich seine Wangen. »Wir haben zwar schon von Heirat gesprochen. Ich... aber hier in Deutschland ist einfach alles anders.«

»Hier bei uns ist es schön«, meinte Tobias.

»Ja. Aber Tante Miriam gefällt es nicht«, sagte Gerald. Er sagte es zu seinem Sohn, aber eigentlich waren die Worte für Sonja bestimmt.

»Dann schick sie doch einfach nach Hause«, meinte Tobias unbefangen. »Wir können sie hier sowieso nicht brauchen.«

»Das geht nicht.« Gerald fuhr seinem Sohn über das Haar.

Tobias sah zu seinem Vater auf. »Wenn du dich nicht traust, dann schick ich sie weg. Ich nenne sie einfach eine blöde Kuh, oder eine dumme Gans. Das gefällt ihr sicher nicht.«

»Tobias«, mischte sich nun Sonja mahnend ein. »So etwas wirst du auf keinen Fall tun!«

»Aber ich mag doch die Frau nicht. Schau, Papa!« Treuherzig drängte Tobias sich an seinen Vater. »Ich habe doch Tante Sonja. Sie ist viel, viel lieber als Miriam.«

»Tobias!« mahnte Sonja wieder. Sie wußte nicht, wohin sie blicken sollte.

»Du hast recht, mein Sohn«, sagte Gerald. »Aber jetzt laß uns gehen.«

*

Miriam Sutter saß in der Hotelhalle. Sie saß dort bereits seit zwei Stunden. Auf ihrem Schoß lag ein Modejournal. Sie blätterte jedoch nicht darin. Sie saß da und beobachtete die Uhr. Ihre Miene wurde von Minute zu Minute eisiger.

Auf der Rückfahrt nach Maibach war Geralds Gesicht auch nicht mehr so fröhlich wie zuvor. Er ahnte, was ihm bevorstand. Seit gestern sah er Miriam so, wie sie wirklich war. Es war ihm auch klargeworden, daß er mit ihr nicht glücklich werden würde. Es mußte noch etwas anderes im Leben geben als Geld und Erfolg.

Er fuhr den Mietwagen in die Hotelgarage. Während er auf den Lift wartete, der ihn in die Hotelhalle bringen sollte, dachte er zurück. Damals hatte er um sein Glück nicht gekämpft. Er hatte nicht versucht, Marion zu überreden. Er war einfach gegangen. Enttäuscht und verbittert. Nein, ein zweites Mal würde er das nicht tun. Dieser Gedanke belebte ihn. Als er aus dem Lift trat, lag sogar ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen.

Miriam fuhr auf. Die Wut hatte ihr hübsches puppenhaftes Gesicht entstellt. Während er auf sie zuging, fragte er sich, was ihn nur so an sie gefesselt hatte.

»Was fällt dir ein!« zischte sie.

»Entschuldige. Ich habe völlig die Zeit übersehen.«

»Wo warst du?«

»Das weißt du doch. Laß uns nach oben fahren.« Gerald wandte sich wieder dem Lift zu.

»Mehr fällt dir nicht ein? Ich habe den ganzen Tag in diesem Zimmer gesessen. Ich will raus hier! Am besten gleich. Bezahl’ die Rechnung und laß uns abfahren.«

»Das geht nicht.«

»Das geht nicht!« höhnte Miriam. »Aber es geht, daß du mich den ganzen Tag warten läßt.«

»Verzeih. Aber ich hatte das Gefühl, daß du sowieso nicht noch einmal zu dem Kinderheim fahren wolltest.«

»Ich will weg von hier«, zischte Miriam.

»Wir sprechen oben im Zimmer darüber.« Da sich die Lifttür gerade wieder öffnete, hakte Gerald sie einfach unter und zog sie in den Lift.

»Was fällt dir ein!« Miriam schnappte empört nach Luft. Doch da glitt der Lift schon nach oben. Gerald war froh, daß sich kein weiterer Gast darin befand.

»Darling«, sagte er rasch. »Du hast ja recht. Aber du hättest dich wirklich bloß gelangweilt.«

Der Lift hielt. Hoheitsvoll stolzierte Miriam hinaus. Mit eisigem Blick wartete sie, bis Gerald das Zimmer aufgeschlossen hatte. Dann ging sie an ihm vorbei und ließ sich auf das Bett fallen. »Ich habe genug, endgültig genug! Ich verbringe keine weitere Nacht in diesem Hotel.«

»Es ist das beste Hotel von Maibach«, sagte Gerald ruhig.

»Maibach kann mir gestohlen bleiben. Ruf den Frankfurter Flugplatz an. Wir buchen den nächsten Flug nach Paris, Rom oder London.«

Gerald schüttelte den Kopf. »Ich fahre nicht weg.«

Miriam starrte ihn an. Jetzt fiel ihr auch auf, daß er sich irgendwie verändert hatte. Deutlich spürte sie, daß er nicht mehr der Mann war, den sie so einfach um den kleinen Finger wickeln konnte. Trotzdem versuchte sie es mit Schmeicheln.

»Darling, ich habe mich so auf diese Reise gefreut. Es ist unsere erste längere, gemeinsame Reise. Wir wollten sie doch genießen. Sicher gibt es auch in Deutschland schönere Orte als dieses Maibach. Zeige mir doch wenigstens deine Heimat; du hast es mir versprochen!«

Gerald bekam Schuldgefühle. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Es tut mir leid, wenn du dir falsche Vorstellungen gemacht hast«, begann er. »Mir ging es in erster Linie um meinen Sohn. Das habe ich dir auch gesagt.«

Schlagartig veränderte sich Miriams Miene wieder. »Dein Sohn! Damit du klar siehst, er interessiert mich nicht!« Sie sprang auf. »Ich habe nicht die Absicht, Kindermädchen zu spielen!«

Gerald erhob sich ebenfalls. Er atmete tief durch, dann sagte er:» Damit wäre eigentlich alles geklärt.«

»Was willst du damit sagen?« Ihre Augen sprühten Funken, und auf ihren Wangen brannten häßliche rote Flecke. Gerald wurde klar, daß sie ihn nie geliebt hatte, und doch tat sie ihm in diesem Moment fast leid. In ein paar Jahren würde ihre Schönheit vergangen sein. Dann würden die Männer ihr nicht mehr zu Füßen liegen.

»Du hast es doch selbst gesagt«, meinte er müde. »Wir haben uns beide geirrt. Ich bin nicht der Mann, der von Party zu Party geht und nur sein Vergnügen im Kopf hat. Wenn ich heirate, dann möchte ich eine richtige Familie gründen und ein richtiges Heim haben. Und in diesem Heim ist dann auch Platz für meinen Sohn.«

»Darling, so habe ich das nicht gemeint.« Miriam wurde langsam ruhiger. »Du bist mein Typ. Wir können noch viel Spaß miteinander haben. Ich möchte nur nicht in irgendeiner Küche versauern. Ich erwarte noch etwas mehr vom Leben.«

»Und eine Mutter möchtest du nicht sein.«

»Aber Darling! Du erwartest doch nicht im Ernst, daß ich auf meine Karriere verzichte, nur um mich um deinen ungezogenen Sohn zu kümmern.«

»Ich hatte es gehofft, aber ich habe mich getäuscht. Es ist schön, Miriam, daß wir endlich ehrlich zueinander sind. Ich hoffe für dich, daß du es schaffst, Karriere zu machen.«

»Das werde ich, und du wirst noch stolz auf mich sein. Warum sollen wir unsere Pläne ändern? Du hast mir versprochen, deinen Sohn in ein Heim zu geben. Dann steht unserer Heirat doch nichts mehr im Weg.«

»Ich kann dieses Versprechen nicht halten. Tobias bedeutet mir schon jetzt mehr als ich für möglich gehalten hätte.«

»Zum Teufel mit deiner Sentimentalität! Laß uns abreisen! Ich werde dafür sorgen, daß du ihn wieder vergißt.« Miriam lockte ihn jetzt wieder mit jenem verheißungsvollen Lächeln, das ihn schon oft fast um den Verstand gebracht hatte. Jetzt hatte es jedoch auf ihn keine Wirkung mehr.

»Ich bleibe hier, Miriam. Das kannst du sicher nicht verstehen, aber ich möchte mit meinem Sohn spielen und mit ihm zusammensein. Du weißt gar nicht, wie schön es heute an diesem Waldsee war.«

»Danke, das ist nichts für mich. Hier bleibe ich nicht länger.« Miriam warf ihren Kopf in den Nacken. »Ich reise ab!« drohte sie.

Gerald verspürte nur Erleichterung. »Wahrscheinlich ist es so am besten. Du kannst ja nach Paris fliegen. Ich komme selbstverständlich für den Flug und für deinen dortigen Aufenthalt auf.«

Miriam sah ihn an. Sie wollte erneut aufbrausen, ließ es dann aber sein. Sie hatte begriffen, daß sie nicht mehr von ihm erwarten konnte.

*

Tobias saß auf der untersten Stufe der Freitreppe. Trübselig starrte er vor sich hin.

»Tobi, komm doch mit auf den Spielplatz«, redete Pünktchen ihm zu.

»Ich warte hier auf meinen Papa«, antwortete der Kleine und seufzte. Seit Sonja Kaiser weggefahren war, saß er dort. Nur zum Essen war er kurz ins Haus gegangen und auch das erst nach langem Bitten.

»Du kannst doch auch auf dem Spielplatz auf deinen Papa warten«, schlug Pünktchen vor. Sie hatte Mitleid mit Tobias, der wieder völlig verzweifelt war.

»Ich verstehe das nicht«, jammerte Tobias. »Wir wollten doch alle Urlaub machen. Und dann ist Tante Sonja weggefahren. Sie hat gesagt, daß mein Papa kommt. Aber Papa kommt nicht. Pünktchen, was soll ich nur machen?«

»Spiel mit uns, dann vergeht die Zeit schneller«, schlug Pünktchen vor.

»Hab keine Lust. Ich muß nachdenken.« Er stützte seinen Kopf mit den Händen ab. »Gestern war es so lustig. Tante Sonja hat gesagt, daß ich einen lieben Papa habe, und Papa hat gesagt, daß Tante Sonja viel lieber ist als diese dumme Tante aus Amerika. Alle zusammen wollten wir wieder Urlaub machen. Und nun bin ich ganz allein.« Tobias schniefte.

»Nicht weinen. Tante Sonja hat doch gesagt, daß sie am Abend wiederkommt.«

»Papa hat auch gesagt, daß er kommt.« Tobias schlug die Hände vor das Gesicht. Ihm waren die Tränen gekommen, aber Pünktchen sollte es nicht sehen.

Denise von Schoenecker kam aus dem Haus. Sie wollte nach Tobias sehen. »Nanu, wer wird denn gleich so traurig sein?«

»Ich bin gar nicht traurig.« Schnell fuhr Tobias sich über die Augen. »Ich warte nur auf meinen Papa. Tante Isi, warum hat Tante Sonja nicht auch auf meinen Papa warten wollen?«

Darauf zu antworten war nicht einfach.

»Ihr habt mir immer gesagt, daß ich nicht weglaufen soll. Warum läuft dann Tante Sonja weg? Sie mag doch meinen Papa.« Anklagend sah Tobias zu Denise auf.

»Dein Papa ist nicht allein aus Amerika nach Deutschland gekommen. Er kann sich daher jetzt nicht nur um dich und Tante Sonja kümmern. Sonst ist es Tante Miriam langweilig.«

»Dann soll er sie wegschicken.«

»So einfach ist das nicht«, versuchte Denise zu erklären. »Dein Papa hat Tante Miriam in Amerika schon gut gekannt. Er hat sie eingeladen, ihn nach Deutschland zu begleiten. Damals hat er dich und Tante Sonja noch nicht gekannt.«

Tobias hörte ihr gar nicht zu. Ein schrecklicher Gedanke war ihm gekommen. »Was ist, wenn sie Papa nicht mehr zu mir kommen läßt?« stieß er hervor. »Sie mag mich nicht. Bestimmt hat sie mit Papa sehr geschimpft, weil er gestern die ganze Zeit bei uns war.«

»Komm mit ins Haus; wir werden versuchen, deinen Papa anzurufen.«

»Kannst du das?«

»Ja, ich weiß, in welchem Hotel er wohnt.« Denise lächelte ihm aufmunternd zu.

»Und ich darf ihm dann durch das Telefon Grüß Gott sagen?« fragte Tobias.

Denise wurde einer Antwort enthoben. Geralds Auto kam die Auffahrt heraufgefahren. Tobias sprang auf. »Meine Papa kommt! Und die böse Tante ist nicht dabei«, rief er erleichtert. Er eilte auf seinen Vater zu, als dieser ausstieg. Gerald fing ihn auf.

»Papi, ich habe so auf dich gewartet«, klagte Tobias.

»Ich konnte nicht früher kommen. Ich habe Tante Miriam zum Flugplatz gebracht.«

»Du hast sie weggeschickt?«

»Nein.« Gerald lächelte. »Sie ist von selbst gegangen. Es war ihr hier zu langweilig.«

»Puh!« Tobias stieß die Luft aus. »Bin ich froh, daß wir die los sind.« Er schmiegte sich an seinen Vater. »Ich glaube, Tante Sonja wird sich auch darüber freuen.«

»Ich hoffe es.«

»Sicher ist sie nur weggefahren, weil du diese Tante aus Amerika hast.«

»Sie ist weggefahren? Wohin ist Fräulein Kaiser denn gefahren?« Diese Frage galt Denise.

Denise lächelte. Sie reichte Gerald die Hand zum Gruß. »Keine Sorge. Sie ist nur nach Maibach gefahren. Am Abend wollte sie wieder hier sein.«

»So lange wollen wir aber nicht warten, was meinst du?« Gerald sah seinen Sohn an.

»Nein, Papa. Du hast doch ein Auto. Wir fahren zu ihr und machen bei ihr Ferien. Tschüs, Tante Isi, du mußt dir keine Sorgen machen. Tante Sonja und mein Papa passen schon auf mich auf.«

*

»Schade, daß wir nicht mitfliegen können.« Tobias klammerte sich an die Hand seines Vaters.

»Alle Ferien gehen einmal zu Ende«, sagte Gerald. Er nahm seinen Sohn in die Arme und küßte ihn.

»Ich weiß. Tante Sonja muß auch wieder arbeiten. Nur in Sophienlust haben jetzt alle Ferien.«

Gerald legte seinen Arm um Sonjas Schultern. »Tobi hat recht. Am liebsten würde ich euch mitnehmen.«

»Wir warten hier auf dich. Komm bald zurück.«

»Ich hoffe, daß ich alles in drei Monaten erledigen kann.« Gerald hatte beschlossen, nach Deutschland zurückzukehren, um hier mit Sonja und Tobias eine Familie zu gründen.

Sonja nickte. In langen Gesprächen hatten sie alles besprochen. Aber drei Monate waren doch eine lange Zeit. »Zum Glück habe ich Tobias«, sagte sie. »Wir werden viel von dir sprechen.«

»Das will ich hoffen.« Gerald zog sie an sich. Zufrieden stand Tobias daneben.

Dann wurde die Maschine nach New York aufgerufen, und Gerald mußte gehen. Sonja hob die Hand zum Abschied. An ihrem Ringfinger glänzte der Verlobungsring.

Sophienlust Bestseller Staffel 2 – Familienroman

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