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Viehfuß-Uphoff

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Ich bin hier aufgewachsen. Und irgendwie bin ich hier nie richtig weggekommen, genau wie die Anderen. Es ist nicht weit bis nach Münster. Unser Bahnhof ist schon lange geschlossen, aber es gibt einen Haltepunkt. Das heißt, es gibt einen Bahnsteig mit einem Schild, auf dem der Ortsname steht. Der Bahnsteig wird nicht beleuchtet. Es gibt zwar noch die alten Bogenlampen, die ein grünliches Licht auf die Gleise und den Bahnsteig werfen könnten, aber die Gemeinde hat kein Geld. Deshalb bleiben die Lampen aus, und im Dunklen sieht man die Begrenzung des Bahnsteigs nicht, und auch das Ortschild kann man nicht lesen. Das ist ein Problem, egal aus welcher Richtung man es betrachtet. Als Ankommender oder Abreisender. Einmal kam ich nachts aus Münster zurück. Zugegeben, es war sehr spät, und es war der letzte Zug, und ich hatte ein bisschen zu viel getrunken. Aber ich hatte einen triftigen Grund. Das muss ich zu meiner Entschuldigung sagen. Ich trinke nie zu viel ohne Grund. Damals hatte mich Agatha verlassen. Eigentlich hatte sie mich nicht wirklich verlassen, so kann man das nicht nennen. Eigentlich waren wir gar nicht richtig zusammen. Aber ich hatte mir gewünscht, dass wir zusammen wären. Oder eigentlich hatte ich es mir nicht gewünscht, sondern Hilde. Weil Agatha und ich die Letzten aus unserer Clique waren, die sich noch nicht in festen Händen befanden. Agatha und ich waren sozusagen übrig. Unsere Clique hatte sich von individuellen Singles zu fortpflanzungswilligen Paaren entwickelt. Ich glaube das kommt oft vor, in einem bestimmten Alter. Und vor allem in der Kleinstadt. Die Auswahl ist beschränkt. Also heiratet man in der Clique. Und später, wenn die Kinder da sind, geht man in der Clique fremd. Aber das ist eine andere Geschichte. Also ich war damals noch übrig, und Agatha auch. Das hätte ausgezeichnet gepasst. Nur, das Agatha überhaupt nicht mein Typ war, sexuell meine ich. Ich hatte sie schon mal ausprobiert, einige Zeit vorher, nur so für eine Nacht. Agatha war langweilig. Sie ist Sozialarbeiterin und ich fühlte mich bei ihr im Bett, wie beim therapeutischen Dienst. Alles musste erst mal durchdiskutiert werden.

„Warum willst du mich jetzt da küssen, ist es dir auch recht, wenn ich meinen Arm so lege, können wir bitte versuchen, zusammen zu atmen, fühlt sich das gut an, was ich jetzt gerade mache, kannst du mir sagen, was du denkst, jetzt, bitte nicht mehr bewegen.“

Am Ende habe ich keinen mehr hoch gekriegt. Und dann war ich übrig und Agatha auch. Also fuhr ich zu ihr und nahm Schokolade mit, weil ich wusste, dass sie Blumen nicht mochte. Sie studierte und lebte damals in Münster. Ich versuchte auch irgendwie in Münster zu studieren. Also, wenn ich Zeit hatte, studierte ich wirklich. Aber ich musste auch Geld verdienen, ich habe keine reichen Eltern. Und ich wohnte im Dorf, weil eine Wohnung in Münster sehr teuer ist. Also besuchte ich Agatha in der Stadt, um sie zu fragen, ob wir es miteinander versuchen sollten. Nur so, wegen der Clique, damit alles seine Ordnung hat, und wir nicht irgendwann fremde Partner von außerhalb in die Clique bringen mussten. Es klappte natürlich nicht. Hätte ich mir auch denken können. Am Ende haben wir fürchterlich gestritten, und ich weiß gar nicht warum. Eigentlich wollte ich gar nichts von ihr, und sie wollte irgendetwas Emotionales, was ich ihr nicht bieten konnte. Aber irgendwie hat mich das ganze fürchterlich aufgewühlt, verständlicherweise. Also musste ich erst mal in die Kneipe, und mich beruhigen. Das war gar nicht so einfach, und hat schon einige Biere gebraucht. Aber den letzten Zug zurück ins Dorf habe ich noch gekriegt, nur war ich leider nicht mehr so konzentriert auf der Rückfahrt, wegen des hohen Alkoholkonsums. Also habe ich den Haltepunkt in unserem Dorf verpasst. Ist ja auch kein Wunder. Es ist ja nichts beleuchtet. Ich war schon zwei Haltepunkte weiter, irgendwo in der Nähe der holländischen Grenze, als ich es bemerkte. Natürlich habe ich furchtbar geflucht. Aber was sollte ich machen. Ich musste zu Fuß zurücklaufen. Es fuhr kein Zug mehr. Und Taxis, die nachts fahren, gibt es in der Provinz nicht. Die Taxifahrer liegen schnarchend neben ihren Frauen im Bett und haben das Handy stumm geschaltet. Nachtfahrten macht hier keiner. Also bin ich immer an den Geleisen langgelaufen, weil ich mich da nicht auskannte und mich verlaufen hätte. Es war ja ungefährlich, es kam ja kein Zug mehr, das wusste ich. Es dauerte ziemlich lange, ich weiß nicht, wie viele Kilometer ich in dieser Nacht abgerissen habe. Vielleicht war es die Strafe dafür, dass ich Agatha nicht wollte, wer weiß. Als ich völlig fertig zu Hause ankam, wurde es schon hell. Zum Glück hat mich niemand gesehen, als ich zurück kam, das wäre Dorfgespräch für eine ganze Woche gewesen, und ich die große Lachnummer. Ist ja noch mal gut gegangen. Also, nur um das klarzustellen. Agatha hat geheiratet und ist Mutter von Zwillingen. Und ich bin immer noch alleine. Ich bin der letzte Mohikaner, der letzte Einsame aus unserer Clique. Aber immerhin, unser Dorf hat einen Haltepunkt der Deutschen Bahn, wenn auch unbeleuchtet.

Ja, ich bin ein Landei, aber ich möchte nirgendwo anders sein. Hier gehöre ich hin. Ich liebe dieses flache Land, das sich leicht schwingt, wie ein fröhliches Musikstück. Ich liebe den Frühling, wenn die Luft noch diesig über den Feldern liegt, und sich das erste frische Grün zeigt. Wenn die Wiesen morgens noch nass sind vom Tau, und die Strümpfe feucht werden und die Schuhe verklebt sind mit matschiger, brauner Erde, wenn man durchs Gras geht.

Unser Dorf besteht nur aus wenigen Straßen. Es leben nur noch wenige Familien hier, aber die wohnen schon immer hier, seit mehreren Generationen. Eigentlich besteht unser Dorf nur aus zwei Familien, den Viehfuß und den Uphoff. Es ist ein bisschen schwierig, neue Familien zu gründen und gesunde Kinder zu kriegen, wenn die Gemeinde nur aus zwei Familien besteht. Aber irgendwie haben wir das ganz gut hingekriegt. Alle, die sich vermehren wollten, haben immer sehr darauf geachtet, dass sie nicht, oder nicht zu nah miteinander verwandt sind. Manchmal ging es daneben. Bei Sabine zum Beispiel. Sie gehörte ursprünglich zu den Viehfuß, heute ist sie eine Uphoff. Sie hat ihren Cousin dritten Grades geheiratet. Das erste Kind war vollkommen normal, das zweite litt an Mukoviszidose. Die Kleine war sehr süß. Sie bekam schlecht Luft und musste sich mit so einem Apparat den Schleim aus den Lungen pumpen. Das war eine Tortur. Die Kleine war geduldig wie ein Engel, aber es wurde immer schlimmer, bis sie dann starb, kurz vor ihrer Einschulung. Im Dorf haben die Leute gemunkelt, dass Sabine zu viel säuft seit dem Tod ihrer Tochter. Damals hatte sie Krach mit ihrem Mann, die beiden haben ständig gestritten. Das wusste das ganze Dorf, weil die beiden abends im Gasthaus saßen. Nach dem dritten oder vierten Bier ging es los, sie wurden langsam laut, bis sie sich anschrien und mit den Fäusten auf den Tisch schlugen. Es ging immer um dasselbe. Sabine beschimpfte ihren Mann. Er sei ein Schlappschwanz, weil er sich weigerte, noch ein Kind zu machen. Er wollte nicht, er hatte Angst und wollte ein Kind adoptieren. Das sei nicht dasselbe, schrie Sabine dann, und die Kneipenbesucher lehnten sich zurück und fühlten sich wie in einem zweitklassigen Theaterstück. Und wenn die beiden hackevoll waren, schwankten sie aufeinander gestützt nach Hause, und am nächsten Tag wusste das ganze Dorf, dass es wieder geknallt hatte zwischen den beiden. Wahrscheinlich haben sie in so einer Nacht, mit völlig besoffenem Kopf, ihren Sohn Hubert gezeugt, sagen die Frauen im Dorf. Hubert leidet am Down-Syndrom. Früher durfte man noch Mongolismus sagen, das ist heute verboten, weil es abwertend klinge für die Völker aus Zentralasien und der Arktis. Uns hier auf dem Dorf ist das ziemlich egal. Hubert war immer unser kleiner Mongole. Als Hubert klein war, fanden wir ihn niedlich, mit seinem teigigen Mondgesicht und den Schlitzaugen, der kleinen Nase und dem sabbernden Mund. Er mochte es gerne, wenn ich ihn umarmte, oder wenn er auf meinen Schultern sitzen durfte. Er liebte Körperkontakt. Irgendeine fremde Hand musste immer auf seiner Haut liegen, auf dem Kopf, am Hals, auf dem Bauch, oder im Rücken. Dann war er ein frohes, freundliches Kind. Aber jetzt ist Hubert zweiundzwanzig, und er ist nicht mehr niedlich. Natürlich kennt jeder im Dorf den Hubert und ihm kann hier gar nichts passieren. Wir passen alle auf ihn auf. Und er darf bei allen Sachen mitmachen, ob er das gut kann oder nicht. Er gehört einfach dazu. Wenn ich an so etwas denke, bin ich froh, dass ich keine Kinder gekriegt habe.

Das war nicht immer so. Eigentlich wollte ich einen Sack voll Kinder, damals, als ich jung war. Ich wollte das, was alle wollen. Eine Familie, ein Haus bauen, mit einem gepflegten Garten drum herum, ein schönes Auto, zweimal im Jahr in Urlaub fahren, abends von der Arbeit nach Hause kommen und eine glückliche Familie vorfinden. Und da fing es für mich schon an, kompliziert zu werden. Vor der Familienplanung brauchte ich erst einmal einen gut bezahlten Job. Und davor natürlich eine fundierte Ausbildung. Aber ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich machen sollte. Ich hatte keine besonderen Interessen. Eigentlich wollte ich nur glücklich und zufrieden sein. So in etwa wie mein Freund Fred. Fred ist ein Uphoff, und ihm wurde das Glück in Form von viel Geld in die Wiege gelegt. Seinem Vater gehörte das größte Bauunternehmen in der ganzen Gegend. Als der alte Uphoff sich aus dem Tagesgeschäft zurückzog, setzte sich Fred auf den Chefsessel und modernisierte die Firma. Fred ist schlau. Er schuf einen neuen Firmenzweig, und montierte den Bauern in der Umgebung Solaranlagen, die der Staat subventionierte, auf die Dächer ihrer Ställe und Scheunen. Wenn ich heute mit Fred durch die Landschaft fahre, sagt er:“ Das ist mein Dach, und das ist mein Dach, und das ist auch mein Dach.“ Überall in dieser schönen Landschaft blinken diese hässlichen Solarzellen von meinem guten Freund Fred von den Dächern. „Uphoff und Söhne“ ist eine erfolgreiche Firma, Freds Werk. Wenn ich wollte, könnte ich sofort bei ihm einsteigen. Aber ich will nicht. Und das hat einen wichtigen Grund. Aber das ist eine andere Geschichte.

Unsere Clique ist natürlich eine große Viehfuß-Uphoff Gruppe, und wir halten fest zusammen. Wahrscheinlich sind wir auch noch zusammen, wenn wir alt und grau sind. Dann gehen wir zusammen ins Maximilian-Friedrich- Seniorenheim. Oder wir gründen eine Seniorenwohngemeinschaft. Am besten im Haus meiner Eltern. Vielleicht sollte ich früh genug mit dem Umbau beginnen. Und dann beschäftigen wir nette Altenpflegerinnen aus Vietnam oder Thailand, die sollen besonders gut sein. Bei dem Pflegenotstand heute. Man will sich ja als alter Mensch auch noch was Gutes tun, und was Nettes zum Anschauen haben. Aber so weit ist es noch lange nicht. Die meisten von uns haben jetzt ihre Kinder so weit, dass sie aus dem Nest gestoßen werden, wenn sie nicht selbst gehen. Die Eltern können sich wieder mit sich selbst beschäftigen, oder mit ihren Hobbys und Freunden. Als die Kinder noch klein waren, ging das nicht. Das war eine schlechte Zeit für mich, als einziger kinderloser Mann in der Clique. Natürlich traf ich mich weiter mit meinen Freunden, aber die hatten immer ihre Bälger dabei. Wir trafen uns auf dem Spielplatz, oder auf der Wiese am Schloss, oder am See zum Picknick. Da machten wir dann Kinderfernsehen. Und das geht so: Die jungen Eltern und ich saßen da auf der Wiese rum. Wir unterhielten uns nicht. Anscheinend hatten wir uns in dieser Zeit nichts zu sagen. Oder das, was ich zu sagen hatte, interessierte die anderen nicht. Wir schauten den Kindern beim Spielen, oder Essen, oder Unfug machen zu. Beim Hinfallen und wieder Aufstehen, beim Sand in die Augen werfen oder aufs Klettergerüst steigen, beim in die Hose scheißen oder Weinen. Unsere Gespräche bestanden aus öden und unsinnigen Bemerkungen wie:

“Schau doch mal, was sie da macht.“ „Ach wie süß.“ „ Nicht so weit weglaufen.“ „Kann deiner das auch schon?“ „Nicht in den Mund stecken.“ „Willst du nicht auch noch ein Kind?“ „ Gib die Schaufel zurück.“

Irgendwann hatte ich die Nase voll und konnte dieses Kindergequatsche nicht mehr ertragen. Also bin ich weg.

Das war die Zeit, in der ich Abstand brauchte von meiner Clique. Ich bin abgehauen, in die Großstadt. Nur für ein paar Jahre. Nicht nach Münster. Münster war für uns alle die Einkaufs- und Ausgehmeile am Wochenende. Wir trafen uns um 12 Uhr mittags auf dem Markt, tranken einen Kaffee oder einen Prosecco, und aßen eine Kleinigkeit. Oder wir bildeten Fahrgemeinschaften und besuchten abends die Disco oder einen angesagten Club. Mir waren die Studentenkneipen am liebsten. Ich lernte neue Leute kennen, am liebsten natürlich Frauen, die nichts mit der Clique zu tun hatten. Frischfleisch, sagte ich damals immer, aber ich dachte dabei an frisches Blut, das nichts mit Familie Viehfuß oder Uphoff zu tun hatte.

Also nicht nach Münster. Ich war einige Jahre in der Hauptstadt. Seitdem bin ich etwas Besonderes in der Clique. Für manche auf jeden Fall. Für die bin ich der Großstädter, der weiß wo‘s lang geht. Für den Rest bin ich der Gescheiterte. Die Großstadt war nicht schlecht für mich. Ich konnte vergessen, dass ich keine Familie gegründet hatte. Ich wohnte in einer WG. Das war wie eine große Familie. Ich hatte immer jemanden zum Reden, und ich war nie wirklich alleine. Es macht mehr Spaß für sieben Leute zu kochen, als für sich alleine. Wir hatten zwei riesige Kühlschränke in der Küche, einen vegetarischen und einen für die tierischen Produkte. Die Kühlschränke sauber zu halten war meine Aufgabe. Es gab eine Küchenkasse, die wir jeden Monat füllten. Jeden Samstag gingen wir für die kommende Woche einkaufen und wir kochten im Wechsel, jeder an einem Tag. Wer kochte brauchte nicht abwaschen, das taten die anderen. Für den Rest hatten wir eine Putzfrau, so gab es nie Streit. Einen Job zu kriegen war damals nicht schwer. Ich gehöre ja nicht wirklich zum Fachpersonal, ich habe mein Studium geschmissen. Als Einziger aus der Clique. Ich bin der Loser, aber es fühlt sich nicht so an. Ich arbeitete viel, in der Großstadt. Ich hatte einen guten Job bei einer Autowaschanlage. Da arbeiteten wir Schicht. Ich nahm meist die Abendschicht, weil ich morgens nicht konnte. Ich stand um vier Uhr morgens bereits auf dem Großmarkt, und packte die LKW mit dem Gemüse aus Holland aus. Manchmal half ich auch an den Ständen, wenn Not am Mann war. Irgendwann bekam ich einen Vertretungsjob in einer angesagten Bar. Als Barkeeper. Da begann meine Schicht erst um zwei Uhr in der Nacht. Leider habe ich mich in diesem Job nicht bewährt. Ich hätte gerne länger da gearbeitet, es war der Job mit den höchsten Trinkgeldern, die ich je gekriegt habe. Das lag nicht an meinem Aussehen. Ich war wirklich cool, schmierte mir tonnenweise Gel ins Haar und trug farblosen Nagellack. Es lag an meinen Cocktails. Ich nahm immer zu viel Alkohol. Die Alkoholmengen für die Getränke waren genau vorgeschrieben. Ich fand die Drinks viel zu lasch, und peppte sie ein bisschen auf. Das gefiel meinem Chef gar nicht. Als er es spitz kriegte, flog ich. Schade.

Irgendwann begann mich die Großstadt zu nerven. Ich fühlte mich krank und gestresst und nie richtig zu Hause. Ich bekam eine Erkältung nach der anderen, hatte geschwollene Nasennebenhöhlen, die Augen tränten und die Ohren schmerzten. Ich war mir sicher, dass die Luftverschmutzung, der Feinstaub und die vielen Autos in der Großstadt daran schuld waren. Ich glaube, ich hatte einfach Heimweh. Ich war krank vor Heimweh. Ich sehnte mich nach meinem Heimatdorf ohne richtigen Bahnhof, den schwingenden Feldern, den matschigen Schuhen im nassen Gras und nach meinen Freunden. Eines Morgens stand ich auf und wusste, hier muss ich weg. Also packte ich meine Sachen, ohne lange nachzudenken, zahlte die Miete bis zum Ende des Monats, kündigte meine Jobs und kaufte eine Bahnfahrkarte. Schon im Zug fiel der Stress von mir ab wie eine trockene Erdkruste. Nase und Ohren öffneten sich wieder, ich konnte frei atmen und gut hören. Am liebsten hätte ich laut gesungen. Ich fasste mir mit den Händen ins Gesicht und meine Haut fühlte sich nicht mehr vertrocknet und faltig an, sondern glatt und frisch wie ein grüner Apfel. Endlich durfte ich wieder nach Hause. Ich kroch aus meiner Großstadtschale und kehrte zurück in meine grüne langweilige Heimat.

Es ist natürlich etwas ganz anderes, ob du zu Besuch in die Heimat fährst, und die alten Freunde siehst, Spaß hast und entspannt bist, oder ob du wirklich zurückkommst und sagst: „So hier bin ich wieder. Ich gehöre wieder zu euch, möchte nicht nur Spaß, sondern meinen grauen Alltag mit euch teilen. Ich möchte an euren Sorgen teilhaben und euch auf den Geist gehen, wenn es mir einmal schlecht geht, und dann möchte ich von euch aufgefangen werden. Ich möchte in den Arm genommen werden, wenn ich es brauche, ich möchte mit euch ein Bier trinken, oder zwei, oder mir Geld von euch leihen, wenn ich es brauche.“

Es war nicht einfach für mich, zurückzukommen, ohne eine Erfolgsstory erzählen zu können, ohne einen Sack Geld mitzubringen, ohne Frau und süße Kinder im Schlepptau. Ich brachte nur mich mit, und meine Jahre in der Großstadt. Und meine Entscheidung, dass ich hier her gehöre, in den Ort meiner Eltern, in das Haus, in dem ich geboren wurde. Sonst nichts.

Zum Glück stand ich nicht auf der Straße, das war ein großer Vorteil. Mein Elternhaus ist groß, es hat zwei Stockwerke und liegt an der Hauptstraße. Es ist hellgelb gestrichen und sieht noch sehr gut aus. Auch das Dach ist dicht. Ich brauchte also nichts investieren. Das ist ein Glück, ich hätte gar kein Geld für so eine Aktion. Ich wohne jetzt alleine in dem Haus. Meine Eltern sind tot. Viel zu früh gestorben, wenn man mich fragt. Erst starb meine Mutter. Das war wirklich ein Schlag für mich, und natürlich auch für meinen Vater. Wir haben immer gedacht, Mutter stirbt an Lungenkrebs, weil sie rauchte wie ein Ruhrpottschlot. Und dann starb sie an einer banalen Blutvergiftung. Sie hatte im Garten gegraben, wie immer ohne Handschuhe. Mutter liebte es, mit den Händen in der Erde zu wühlen und sich die Finger dreckig zu machen. Sie hat sich an einer Tonscherbe geschnitten und Dreck in die Wunde bekommen. Man denkt ja, das ist nicht so schlimm. Ist es aber doch. Erst wurde die Hand dick und rot, dann der ganze Arm, dann bekam sie Fieber und Schweißausbrüche, und ruckzuck war ihr ganzer Körper vergiftet. Es dauerte nur vier Tage. Dann war sie tot. Ich glaube, mein Vater ist gleich mit ihr gestorben. Obwohl er körperlich noch anwesend war, nahm er nicht mehr am Leben teil. Er war schon weg, bei ihr. Er wurde immer weniger, immer dünner. Und er aß nichts mehr. Er rauchte die Zigaretten, die Mutter übrig gelassen hatte, so als wolle er jetzt den Lungenkrebs kriegen, den eigentlich seine Frau hätte kriegen sollen. Ein Jahr nach ihrem Tod legte er sich ins Bett und stand nicht mehr auf. Er legte sich hin zum Sterben, aß nicht, verweigerte das Trinken und war nach sieben Tagen tot. Ich bin Vollwaise. Ich bin so ziemlich alleine. Ich habe nur das Haus. Es ist eigentlich viel zu groß für mich. Unten im Erdgeschoß habe ich meinen Laden eingerichtet, dort wo meine Eltern früher ihren Laden hatten. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Also unten habe ich meinen Laden. Im ersten Stock wohne ich. Ich habe die Schlafzimmermöbel verkauft und den Raum neu gestrichen, dunkelblau. Ich finde, dass ist eine schöne Farbe für ein Schlafzimmer. Das neue Bett habe ich mir im Internet gekauft, es ist groß und bequem. Meine Klamotten bewahre ich im alten Küchenschrank auf, den ich mit meinen Freunden aus der Küche hier hoch geschleppt habe. Dann stehen da noch ein Kühlschrank und eine Kaffeemaschine. Ich finde, das ist eine super Einrichtung für ein Schlafzimmer. Als Nele das erste Mal hier war, meinte sie, es würde etwas fehlen, und zwar Musik. Also habe ich die alte Musikanlage aus dem Arbeitszimmer meines Vaters hier reingeschleppt, und alle seine Schallplatten, echte Langspielplatten, richtige Raritäten. Vater liebte Elvis, Rock’n Roll, und Country. Ich liebe diese Musik, weil es seine war, und weil sie mich an ihn erinnert. Und an die alten Zeiten. Wenn wir sonntags nachmittags im Wohnzimmer saßen, rauchten und Kaffee tranken, hörten wir diese Musik. Also liege ich jetzt mit Nele im Bett, wenn es ganz schön mit uns war, trinke mit ihr Kaffee aus der Kaffeemaschine, die auf dem Hocker steht und höre mit ihr alte Platten, von Jonny Cash, Led Zeppelin oder Eric Clapton. Mein Schlafzimmer ist ein sicheres Versteck. Hier kann uns niemand finden. Schon gar nicht Fred. Der ist sowieso mit Geldverdienen beschäftigt und montiert seine Solaranlagen irgendwo in der Welt auf Dächer oder Felder, in die Wüste oder ins ewige Eis. Schade nur, dass Nele am späten Nachmittag immer weg muss, nach Hause, um ihre beiden pubertierenden Töchter zu bekochen und zu beaufsichtigen, wenn sie aus der Schule kommen.

Ich bin der Meinung, die Mädels werden viel zu sehr verwöhnt. Die können sich ihre Nudeln doch mal selber kochen. Oder die Tiefkühlpommes in den Backofen schmeißen. Aber nein, Nele will wenigstens eine gute Mutter sein, wenn sie schon keine gute Ehefrau mehr ist.

Also gut, das ist das Schlafzimmer. Das Wohnzimmer habe ich fast so gelassen, wie es war, mit der karierten Eckcouch, dem flachen dreieckigen Tisch davor, mit den vielen kleinen Klemmlampen an den Bücherregalen, die sich durch den Raum ziehen, und mit den Eiern auf den Fensterbänken. Ja, Eier, das klingt komisch. Ich bin immer sehr vorsichtig, wenn ich die zarten Eier abstaube. Sie sind das Vermächtnis meiner Mutter. Es war zuerst eine Spinnerei, dann war es eine Sucht. Meine Mutter bemalte ausgeblasene Hühnereier mit Miniaturen großer Meisterwerke. Sie malte van Gogh in klein, genauso wie Klimt, Chagall, Matisse und Tintoretto. Es dauerte ewig, bis so ein Ei fertig war. Sie malte mit Lupe und rauchte dabei etliche Zigaretten. Am Ende wurden die Eier versiegelt und bekamen einen kleinen hölzernen Eierbecher, der aussah wie ein Dreifuß, der auf dem Kopf steht. So landeten diese Kunstwerke auf unseren Fensterbänken. Aber nicht nur. Der ganze Viehfuß-Uphoff- Clan litt unter einer Eierplage. Meine Mutter versorgte alle mit ihren bemalten Eiern. Nicht mit den großen Kunstwerken, aber mit kleinen, einfachen Bildchen, oder mit vielfältigen Mustern und Ornamenten. Sie malte Weihnachtsmänner, Osterhasen, Schmetterlinge, Blumen und Gartenzwerge. Mutter verschenkte ihre Eier zu jeder Gelegenheit und zu jedem Fest, sie verkaufte sie auf dem Weihnachtsmarkt und auf dem Trödel. Aber noch mehr als der Viehfuß-Uphoff -Clan litten ich und mein Vater. Jeden Sonntagmorgen mussten wir zehn glatte, schneeweiße, wohlgeformte Eier für meine Mutter ausblasen, und wehe es ging eines davon kaputt. Zum Frühstück gab es dann Kaffee, Toastbrot und Ei. Es gab Rührei mit Schnittlauch oder mit Pilzen, es gab italienische Frittata mit Kräutern oder Zucchini, oder es gab Eierkuchen mit Nutella und Marmelade. Als ich fünfzehn war, gewöhnte ich mir an, sonntags erst im Morgengrauen von meinen Kneipentouren oder von meinen Freundinnen nach Hause zu kommen. Ich polterte laut die Treppen hinauf, und schlug meine Zimmertür zu, so dass ich sicher sein konnte, dass meine Mutter erwachte und mich hörte. So konnte ich bis zum Mittagessen schlafen und entging dem Eierausblasen und den Frühstückseiern. Meine Mutter hat mir durch ihre Verrücktheit den Genuss eines Frühstückseies gründlich vermasselt. Ich esse keine Eier. Schon lange nicht mehr. Nele versteht das nicht. Sie versucht, mir das Eieressen wieder beizubringen. Sie ist hartnäckig und schafft es bestimmt. Sie meint, Eier sind gesund und steigern die Potenz. Aber ich denke, sie kann sich nicht beschweren, auch wenn ich keine Eier esse. Wenn ich Fred und Nele besuche, begegne ich natürlich auch den Eiern meiner Mutter. Sie stehen im Vitrinenschrank und hängen in den Zimmern der Kinder von der Decke herab. Ich bin Patenonkel von den beiden. Ich habe ja keine eigenen Kinder. Und Fred ist mein bester Freund. Noch.

Das obere Stockwerk meines Elternhauses steht leer. Früher wohnten dort meine Tante Annemie und meine Oma Gerti. Meine Mutter und Tante Annemie sind die Töchter von Oma Gerti. Mein Vater sagte immer: “Oma Gerti ist ein Besen.“ Er meinte damit, dass die Alte das Sagen hatte. Was sie befahl, war Gesetz. Sie befahl meinem Vater, dass er im Erdgeschoss einen Laden aufmachen sollte, was er natürlich tat. Er litt sein Leben lang darunter, weil er lieber mit meiner Mutter durch die Weltgeschichte gefahren wäre. Oma Gerti befahl ihrer Tochter, also meiner Mutter, kein zweites Kind zu bekommen, weil ihr Ehemann ein Hallodri sei, womit sie natürlich Recht hatte. Trotzdem nahm ich ihr übel, dass ich kein Geschwisterchen bekam. Und Oma befahl, dass Tante Annemie nicht heiraten sollte, sondern dazu da sei, ihre Mutter, also meine Oma Gerti, zu versorgen. Das war zwar gemein, aber für Annemie die eleganteste Lösung, nachdem ihr der Verlobte weggelaufen war. Sie hätte wahrscheinlich niemanden mehr gefunden, der sie geheiratet hätte. Annemie war nicht die Schönste, und wirklich klug war sie auch nicht. Wahrscheinlich hätte nur ein Batzen Geld einen Mann bewegen können, sie zu heiraten. Aber Oma Gerti war der Meinung, dass Annemie kein Geld bräuchte, und vermachte bereits zu Lebzeiten das Haus meiner Mutter. Trotzdem musste Annemie nicht ganz ohne Liebe leben, mein Vater hatte ein gutes Herz und auch die entsprechende Potenz, die für zwei Frauen reichte, dank der vielen Eier, die er essen musste. Alle im Dorf wussten, dass mein Vater zwei Frauen beglückte, aber alle schwiegen. Natürlich wusste auch meine Mutter Bescheid. Aber sie fühlte sich nicht vernachlässigt, mein Vater hatte Liebe genug für zwei Frauen. Und während er seine Schäferstündchen mit Annemie verbrachte, konnte Mutter sich ungestört der Bemalung ihrer Eier widmen. Oma Gertis Begräbnis war ein großes Fest, das ganze Dorf war anwesend. Tante Annemie starb lange nach meiner Mutter. Sie hatte sich totgesoffen und wurde still begraben.

Jetzt steht der obere Stock leer, und ich würde ihn gerne an Studenten aus Münster vermieten. Am liebsten an Frauen, die sind ordentlicher als Männer. Aber die jungen Leute sind heute so anspruchsvoll. Die wollen eine Wohnung in Sichtweite der Uni. Die wollen weder fahren noch laufen. Und Familienanschluss wollen sie auch nicht. Sie nennen das autark sein, ich aber finde es fast autistisch. Die wollen doch alle so kommunikativ sein, die jungen Leute. Naja, geht mich nichts an. Bei uns früher war das ganz anders. Wir machten alles zusammen, immer in der Clique. Wir haben uns geholfen, wenn Not am Mann war.

Meine Freunde waren schon alle immatrikuliert, damals, und ich wusste immer noch nicht, was mir gefiel, oder was ich werden sollte. Wie gesagt, eigentlich wollte ich nur meine Ruhe. Aber, um mit den anderen mitzuhalten, begann ich, Elektrotechnik zu studieren, obwohl ich keine Ahnung hatte, was da auf mich zukam. Als mir klar wurde, was ich mir da ausgesucht hatte, und dass es absolut nichts mit mir zu tun hatte, war es schon zu spät. Ich tat nur noch das Notwendigste für mein Studium. Ich führte meinen Freunden aus der Clique lieber den WG-Haushalt, während sie fleißig studierten. Die Wohnung bezahlte Freds Vater, damit wir uns voll auf das Studium konzentrieren konnten, ohne nebenbei arbeiten zum müssen. Das Haus, in dem wir ein ganzes Stockwerk bewohnten, lag direkt an der B219 Richtung Norden, einer viel befahrenen Straße. Wenn die LKW am Haus vorbeidonnerten, wackelten die Tassen auf dem Tisch, und ich hatte das Gefühl, ich müsste flüchten, weil der Lastwagen direkt durch die Küche fuhr. Vor dem Haus befand sich ein schmaler grüner Streifen, den wir Garten nannten. Dort standen alte verrottete Gartenstühle und ein paar Kisten, die wir als Tische benutzten. Im Sommer verbrachten wir unsere Nächte draußen, in unserem Garten. Wir rauchten und tranken Bier, aßen den Nudelsalat und die Frikadellen, die ich tagsüber vorbereitet und gebraten hatte. Das war auch die Zeit, in der sich die Männer der Clique in die Frauen der Clique verliebten, völlig egal, ob es Viehfuß oder Uphoff waren. Es sollte ja nicht für immer sein, sondern nur ein großer Spaß und ein Ausprobieren und Studieren des anderen Geschlechts. Ich glaube ich war schon im Buddelkasten in Nele verliebt, also verliebte ich mich jetzt wieder in Nele, obwohl wir beide Viehfuß sind und eigentlich sogar Cousin und Cousine. Für Nele war es das erste Mal mit mir. Ich war sehr vorsichtig und fragte immer wieder nach: “Darf ich das jetzt machen? Tut dir das gut? Wie fühlt sich das an? Bin ich zu schnell? Möchtest du noch warten? Du musst mir sagen, was du willst. Oder soll ich dir was zeigen? Soll ich dir zeigen, wie es geht?“ Am Ende wollte sie, dass ich ihr alles zeigte, was ich wusste, und was ich konnte, und zwar schnell, und wenn möglich, alles auf einmal. Und dann wurde sie selbst kreativ und probierte alles aus, was ihr Gefühl ihr sagte, und wohin ihre Lust sie trieb. Ich wünschte mir, dass meine Mutter dagewesen wäre, um mir Rührei mit Schnittlauch oder mit Pilzen zu machen, wegen der Potenz. Für mich hätte es immer so weiter gehen können. Aber es kam anders. Das Karussell begann sich zu drehen, und Männer wie Frauen wechselten ihre Partner in regelmäßigen Abständen, aber immer innerhalb unserer Clique. So hatte bald jede mit jedem geschlafen. Und der Kreislauf begann von neuem, und änderte sich erst unmerklich, dann offensichtlich. Diesmal wurde es ernst. Es ging um die Familienplanung. Ich wollte Nele, und wusste, dass es nicht ging. Sonst wusste ich nichts. Ich schmiss mein Studium, was mich einen Dreck interessierte. Und dann entschied sich Nele für meinen besten Freund Fred. Fred Uphoff. Eine gute Wahl. Sicherheit, Reichtum, Beständigkeit, die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche, langweilige Ehe. Und ich konnte mich nicht entscheiden. Und deshalb sollte ich mit Agatha verkuppelt werden. Zum Glück hat das damals nicht geklappt. Und jetzt ist es soweit. Das Karussell beginnt sich wieder zu drehen, jetzt, wo die Kinder groß sind, und langsam flügge werden. Jetzt kommt es nicht mehr darauf an, Kinder zu zeugen, jetzt kommt es nur noch darauf an, glücklich zu sein.

Und jetzt liege ich mit meiner Nele in meinem dunkelblauen Schlafzimmer, in meinem großen Bett, und sie sagt mir, wie sie es gerne hätte, und wo ich sie berühren soll. Und wenn mich die Kraft verlässt, gehen wir rüber in die Küche und braten Spiegeleier mit Speck oder machen Omelett, das wir mit heißen Kirschen bedecken und darauf eine Kugel Eis schmelzen lassen. Ja, ich kann wieder Eier essen. Und das mit Genuss.

Unser Dorf hat sich verändert. Viele Menschen sind in die Stadt gezogen, nach Münster. Oder in noch größere Städte, oder sogar in andere Länder. Unserem Dorf hat das nicht gut getan. Die Einzelhandelsgeschäfte mussten nach und nach schließen, weil sich das Geschäft nicht mehr lohnte.

Früher bekam man alles in unserem Dorf zu kaufen, niemand musste in die Stadt fahren, um sich zu versorgen. Meine Eltern waren angesehene Einzelhändler in unserem Ort. Sie führten ein großes Haushaltswarengeschäft. Es gab alles. Niemand musste in die Stadt fahren, um sich durch die vielen Stockwerke eines Kaufhauses zu quälen. Und was meine Eltern nicht auf Lager hatten, besorgten sie. Meine Eltern liebten die Vielfalt und sie verkauften Dinge, die ihnen selbst gefielen. Mein Vater hatte eine kleine Abteilung mit Elektrobohrern, Schleifgeräten und Sägen aufgemacht. Natürlich gab es jede Schraube und jeden Dübel in jeder Größe. Eine Zeitlang stand sogar ein Rasenmäher in unserem Laden zum Verkauf. Er landete in unserem Garten, und Mutter mähte damit unseren Rasen. Es gab Toaster und Kaffeemaschinen, Kofferradios, Batterien und Taschenlampen. Meine Mutter war für die Putzmittel zuständig, für die Knöpfe und Gummibänder, Stricknadeln, Gardinen und Tapeten. Und für die kleinen nutzlosen Dekorationsgegenstände, die sie so gerne einkaufte, um sie wieder zu verkaufen. Gläserne Aschenbecher, Wanduhren mit seltsamen Messingeinfassungen, beleuchtete Schiffe, die auf dem Fernseher ihren Platz fanden, und Enten und Hühner aus jedem Material und in jeder Größe. Eine Waschmaschine und ein Kühlschrank standen jahrelang im Schaufenster zum Verkauf. Sie wurden Ladenhüter, und meine Mutter benutzte sie zur Dekoration. Sie ließ bunte Stoffe aus der runden Öffnung der Waschmaschine quellen, öffnete die Kühlschranktür und dekorierte die Fächer mit Enten und Hühnerfamilien die sie liebevoll in grüne Holzwolle setzte.

Meine Eltern schlossen den Laden zwischen eins und drei. Dann war Mittagspause. Meine Mutter kochte ein schnelles Mittagessen, damit ich etwas Warmes zu Essen hatte, wenn ich aus der Schule kam. Sie machte Tütensuppe in Wasser heiß und schnitt Würstchen hinein, oder sie machte eine Dose Ravioli warm. Manchmal gab es Tiefkühlpizza, die ich besonders mochte, oder Kartoffelpüree, das sie aus der Packung nahm und mit heißem Wasser anrührte. Dazu gab es Fischstäbchen. Meinem Vater schmeckte es, und mir auch, wir waren nicht anspruchsvoll. Danach wurde eine halbe Stunde geruht. Jeder verkroch sich in seinem Zimmer, und das ganze Haus versank in eine wohltuende Trägheit. Ich lag auf dem Bett und blätterte in meinen Comics, die ich wie Schätze hütete, Micky Maus, Fix und Foxi, Asterix und wie sie alle hießen. Wenn mein Vater in der Küche stand und den Bohnenkaffee brühte, und der bittere Duft durchs Haus zog, war es Zeit für mich, zu meiner Mutter ins Schlafzimmer zu gehen. Sie saß in ihrem lässig geschlossenen Morgenmantel vor ihrer Frisierkommode, und betrachtete sich kritisch im Spiegel. Die Füße mit den roten Zehennägeln waren nackt, und die qualmende Zigarette hing ihr lässig im Mundwinkel, während sie sich mit einer Hand in ihr schönes langes Haar griff. Wenn ich leise die Tür öffnete, streckte sie den Arm nach hinten, in meine Richtung, und hielt mir ihre Haarbürste hin. Ich nahm sie wie ein wertvolles Geschenk entgegen, stellte mich hinter meine Mutter, und begann ihre Haare zu bürsten. Leise flüsternd zählte ich die Striche, die ich durch ihr Haar zeichnete. Hundert mussten es sein. Das Haar knisterte leise, und manchmal strebten einzelne Haare wie elektrisiert von ihrer Kopfhaut weg und mir entgegen, als wollten sie mich berühren. Während ich so durch ihr Haar strich, kam mein Vater ins Zimmer und stellte eine Tasse duftenden Kaffee vor sie hin. Er selbst behielt seine Tasse in der Hand. Er setzte sich schräg vor sie auf einen niederen Hocker und betrachtete versunken ihr schönes Gesicht, während sie rauchte, und ich die Bürste mit leisem Geräusch durch ihr Haare gleiten ließ.

„So, hundert“, sagte sie irgendwann, auch wenn ich noch gar nicht beim hundertsten Bürstenstrich angekommen war. „Es ist gleich drei.“ Dann wussten mein Vater und ich, dass wir den Raum zu verlassen hatten, weil meine Mutter sich in Ruhe ankleiden wollte.

Den Haushaltswarenladen meiner Eltern gibt es natürlich nicht mehr. Auch der Bäcker musste schließen, und der Fleischer, die Drogerie und der Schuhmacher. Der Bäckerwagen kommt alle zwei Tage, immer zur gleichen Zeit. Er steht auf dem Dorfplatz und läutet eine Glocke, die keine Glocke ist. Das Gebimmel kommt von einer CD, die vom Autoradio zu einem Lautsprecher übertragen wird, der auf dem Dach des Verkaufsfahrzeuges angebracht ist. Die Längsseite des Fahrzeuges wird hochgeklappt und eine Vitrine wird sichtbar, mit allen Brötchen und süßen Teilchen, die man sich wünscht. Dahinter steht die dicke Verkäuferin und hinter ihr sind die Regale mit den dicken Brotlaiben. Die Bäckerin kennt ihre Kunden genau und wartet, bis auch der Letzte aus dem Dorf bei ihr sein Brot gekauft hat. Dann wird der Wagen wieder zugeklappt und verschwindet bis zum nächsten Mal.

Der Fleischer kommt nur einmal in der Woche. Er fährt mit seinem Wagen durch ein großes Tor, direkt in den Gemeindesaal, weil er dort seine Kühlkammer installiert hat, in der er Würste, Schinken und Koteletts lagert. Der Gemeindesaal steht schon lange leer, hier gibt es keine Veranstaltungen und keine Versammlungen mehr. Nur eine Tischtennisplatte für die Jugendlichen, die aber immer nur dann benutzt werden kann, wenn der Fleischer da ist. Sonst ist das Gebäude abgeschlossen, aus Sicherheitsgründen. Dann gibt es noch einen kleinen Edeka und eine Kneipe, die aber erst abends um sieben öffnet und um zehn wieder schließt. Essen kann man dort nicht. Essen sollen die Dorfbewohner zu Hause, bei Muttern, oder bei der Ehefrau. Natürlich gibt es eine Kirche. Der Pfarrer kommt alle zwei Wochen sonntags vorbei, und hält eine Messe ab, öfter kann er nicht, weil er fünf Gemeinden zu betreuen hat. Die Kranken fahren nach Münster ins Krankenhaus, und auch die Kinder werden jeden Morgen, außer sonntags, mit dem Bus abgeholt und in die Schule nach Münster gefahren. Das Dorf ist sehr stolz auf seine freiwillige Feuerwehr, neben dem kreisrunden Löschteich, der von Schilf umgeben ist und einigen Entenpaaren Schutz gewährt. Die unsportlichen Männer aus dem Dorf sind bei der freiwilligen Feuerwehr, die sportlichen sind im Fußballverein, der seinen Bolzplatz im Nachbardorf hat. Ich mische bei beiden mit. Ich finde, man muss sich mit seiner ganzen Tatkraft in die Dorfgemeinschaft einbringen. Also freue ich mich auf jeden Feuerwehreinsatz. Es kommt ja selten vor, dass wir ausrücken müssen, eine Katze vom Dach retten, eine alte Scheune löschen, die Jugendliche abgefackelt haben, oder ein Wohnzimmer unter Wasser setzen, weil der Weihnachtsbaum wie Zunder brennt. Das ist wie ein kleiner Actionfilm für mich, in dem ich selbst mitwirken kann. Der Fußballverein ersetzt mir das Fitnessstudio. In meinem Alter muss ich schon was für meine gute Figur tun, also renne ich, bis mir die Zunge aus dem Hals hängt, über den Bolzplatz. Ich bin kein guter Fußballspieler, ich habe Angst vor dem harten Ball, aber das fällt nicht weiter auf, es gibt genug Luschen in unsere Mannschaft.

Und dann gibt es noch einen Friseurladen im Dorf. Und der Friseur bin ich. Ich habe das zwar nicht gelernt. Aber ich kann es, und es macht mir Spaß. Die ersten Haare, die ich schnitt, waren die langen braunen meiner Mutter. Ich war dreizehn. Eines Mittags kurz nach halb drei, nachdem ich hundert mal mit der Bürste durch ihr knisterndes Haar gefahren war, schnippte sie die Asche von ihrer Zigarette, steckte sich die Kippe in den Mundwinkel und ließ die Haarsträhnen zwischen zwei Fingern hindurchgleiten bis zu ihren dünnen Enden. Sie runzelte die Stirn, sah mich an und sagte träge: “Hol die Schere. Die Haarspitzen sind kaputt. Du musst sie abschneiden.“ Ich stand wie versteinert. Ich wollte nicht an meiner Mutter herumschneiden, auch wenn es nur die Haare waren, die ich kürzen sollte. Ich wollte, dass sie blieb, wie sie war. Aber ich hatte keine Wahl. Sie setzte sich breitbeinig hin, stützte die Unterarme auf den Oberschenkeln ab, und ließ den Kopf nach vorne zwischen ihre Beine sinken. So floss ihre braune Haarpracht wie ein schlammiger Wasserfall vom Kopf hinunter zum Boden. Sie befahl mir, die Haare zu bündeln, wie einen wilden Wiesenstrauß, und dann die Enden zu kürzen. Ich tat es und biss mir dabei auf die Lippen. Beim zweiten Mal fiel es mir schon leichter, und irgendwann konnte ich den Zeitpunkt nicht mehr erwarten, bis wieder Haarschneidetag war. Ich hatte eine neue Technik entwickelt. Ich machte die Bürste nass und fuhr so lange durch das Haar, bis die Spitzen nass und dunkel auf der Haut ihres Rückens klebten. Dann nahm ich die Schere und mein Lineal, legte das Lineal sehr gerade auf den Rücken meiner Mutter bis zu der Stelle, an der ich das Haar kürzen wollte und schnitt mit der Schere knapp unter dem Lineal entlang eine saubere gerade Linie. Meine Mutter war sehr zufrieden und bald durfte ich auch Oma Gerti die Haare schneiden, und auf große rosafarbene Lockenwickler drehen. Irgendwann probierte ich an Omas Kopf die erste Haarfärbung aus. Danach lief sie eine Zeit mit einem grünen Schimmer in ihren Locken herum. Ich bekam immer ein wenig Geld von Oma, wenn ich ihr die Haare machte. Tante Annemie hingegen war geizig und sie zierte sich lange, bevor ich ihr dünnes Haar schneiden und auf große Wickler drehen durfte. Geld bekam ich von ihr nie. Nachdem ich meine Arbeit auf ihrem Kopf beendet hatte, stand sie stets vor der Frisierkommode meiner Mutter, drehte den Kopf von links nach rechts, sagte gequält „NajaNaja“ und lächelte so, als würde sie sich vor dem Bild ekeln, was sie im Spiegel sehen musste. Dann atmete sie tief ein, wobei sie die Schultern hochzog, und sagte trocken: “Ist schon gut Junge.“ Ein Danke kam nie über ihre Lippen.

Eigentlich hatte ich die ganzen alten Geschichten längst vergessen, aber als ich zurück kam in mein Elternhaus kamen die ganzen Erinnerungen hoch. Und so entstand langsam die Idee mit dem Friseurladen. Es ist zwar gut, ein Dach über dem Kopf zu haben, und nichts dafür bezahlen zu müssen, aber ein bisschen Bares, um das Leben zu gestalten, ist auch nicht schlecht. Der Laden meiner Eltern stand ja leer, also bot es sich an, daraus etwas zu machen. Das Geschäft ist sehr groß, also habe ich einen Teil abgetrennt. So entstand ein schöner Lagerraum, der erst mal leer war, und ein langer, schmaler Laden, der vorne ein Fenster und die Eingangstür hat und dann weit nach hinten reicht. In den vorderen Bereich, an die eine Seite, stellte ich zwei Friseurstühle, mit Spiegel, Trockenhauben und Haarwaschbecken, alles für fast null Euro bei Ebay ersteigert. Die gegenüberliegende Wand habe ich sonnengelb gestrichen, das schmeichelt dem Teint. Darauf habe ich schöne Poster geklebt, mit Schmetterlingen, Enten, Regenbogen und Seerosen. Im Schaufenster stehen Palmen und anderes Grünzeug, und in der Mitte hängt ein großes Schild: „Haare schneiden und Rasieren für alle.“ Darunter steht mein Name. Das ist die beste Werbung. Mich kennt jeder hier im Dorf. Die Alten kennen mich noch als kleinen Steppke, mit dem Fußball unter dem Arm oder an der Hand meiner Mutter. Alle haben Vertrauen zu mir. Darauf kann ich mich verlassen. Und die Leute im Dorf können sich auf mich verlassen. Ich weiß, wie sie ihre Haare haben wollen. Die Alten wissen noch, dass ich Oma Gerti die Haare schnitt, und ihr eine gut haltbare Betondauerwelle verpasste. Also waren meine ersten Kunden die alten Damen aus dem Ort. Bald kamen sie nicht nur, um sich die Haare machen zu lassen, sondern auch um ein Schwätzchen zu halten. Das brachte mich auf eine Idee. Ich stellte eine Eckbank in den hinteren Bereich des langen Ladens, und ein paar alte Sessel aus dem Arbeitszimmer meines Vaters. Ich legte eine schöne bestickte Leinentischdecke von meiner Mutter auf den Küchentisch, der vor der Eckbank stand. Ich kaufte ein paar billige Lampen, die diese schöne Sitzecke in ein freundliches Licht tauchten. An die Wände klebte ich Resten von Tapeten mit dunkelrotem Blumenmuster. Und jetzt bekam auch der benachbarte Lagerraum einen Sinn. Ich legte ein langes Holzbrett auf zwei Malerböcke, und fand zwei Kaffeemaschinen aus dem alten Warenbestand, die mit anderen nicht verkauften Dingen in den Ecken lagen und verstaubten. Jetzt koche ich jeden Morgen Kaffee, den ich meinen Kundinnen ausschenke, während sie auf ihren Haarschnitt warten, oder unter der Trockenhaube sitzen. Irgendwann brachte die erste einen selbstgebackenen Kuchen mit. Die alten Frauen aus dem Ort kommen immer freitags, damit sie am Wochenende hübsch aussehen. Freitag ist Frauentag, von morgens bis abends. Die Kinder kommen nach der Schule zu mir. Sie waren meine ersten Kunden. Sie wurden von ihren Eltern geschickt, sozusagen als Testlauf, um zu sehen, ob ich das ordentlich mache. Bei kleinen Jungs kann man nicht viel falsch machen, und wenn doch, ist es ziemlich egal. Ich schneide ihnen das Deckhaar kurz und rasiere den Nacken aus. Und wenn sie warten müssen, dürfen sie in meinen Comicheften lesen, aber nur, wenn sie die Hefte sorgfältig behandeln und keine Ecken reinmachen. Da bin ich eigen. Meine Comics sind alt und richtige Schätzchen, sozusagen Oldtimer aus Papier. Ich habe noch die kompletten Jahrgänge von Familie Feuerstein, Asterix, Popeye und Superman. Ich freue mich, dass sie den Kindern gefallen.

Ganz zum Schluss kamen auch die Männer. Die jungen Familienväter lassen sich die Haare am Samstagmorgen scheiden. Die Alten und Arbeitslosen sind immer da, die ganze Woche, außer freitags und samstags. Für sie ist mein Laden zum zweiten zu Hause geworden, und zur Ersatzkneipe. Wie gesagt, unsere Dorfkneipe öffnet nur abends für ein paar Stunden. Die Männer sitzen bei mir auf der Eckbank, trinken Bier und sehen fern. Ich habe einen neuen Flachbildfernseher gekauft und mit einer Wandhalterung befestigt. In meinem Lagerraum mit der Holzplatte und den Kaffeemaschinen steht jetzt ein großer Kühlschrank, gefüllt mit Bier und Schnaps. Manchmal brate ich abends Bouletten oder belege morgens zehn Brötchen, damit meine Dauerkunden etwas zu beißen haben, und nicht so schnell betrunken sind. Das ist ein gutes Zusatzgeschäft für mich. Und die Männer sind friedlich. Sie haben endlich einen Treffpunkt, sind nicht mehr alleine, gehen ihren Frauen nicht auf die Nerven, und sie können sich unterhalten, wenn sie wollen. Ich bin also auch noch eine soziale Einrichtung. Ich genieße ein gewisses Ansehen im Dorf, auch ohne abgeschlossenes Studium. Ich bin zufrieden. Zu meinem Glück fehlt mir nur noch Nele. Aber die ist ja vergeben. Nele kommt nicht nur, um mit mir eine schöne Zeit in meinem dunkelblauen Schlafzimmer zu verbringen. Sie kommt auch zum Haareschneiden. Sie hat dünnes blondes Haar. Ich mache ihr den Scheitel rechts und schneide die Haare ganz gerade ab, so dass sie die Schultern nicht berühren. Sie biegen sich ganz leicht nach außen. Nele streicht das Haar mit beiden Händen hinter ihre kleinen Ohren. Sie sieht zerbrechlich aus, wenn sie das macht. Früher hatte Nele dickes maisgelbes Haar, das bis zur Taille reichte. Ich strich ihr gerne über das Haar, von der Stirn bis hinab zu den Spitzen, wenn sie in meinem Bett nackt auf dem Bauch lag. Das ist lange her. Ich habe ihre beiden Töchter heranwachsen sehen. Sie sagen Onkel zu mir und natürlich schneide ich auch ihnen die Haare. Sie sind in der Pubertät und kommen oft bei mir vorbei, wenn sie es zu Hause nicht mehr aushalten, weil sich ihre Eltern streiten. Dann liegen sie in meinem blauen Schlafzimmer auf dem Bett, auf dem ich mit ihrer Mutter manchmal liege, und hören Musik. Ihre Eltern streiten sich oft in letzter Zeit, sagen sie.

Ich glaube mein Freund Fred ahnt, dass seine Frau einen Freund hat. Das kann nicht immer verborgen bleiben. Er arbeitet so viel. Er kann sich nicht genug um Nele kümmern. Ich kümmere mich gut um sie. In meinem Kopf war Nele immer meine Frau. Ich warte auf sie. Wenn sie sich jetzt nicht für mich entscheidet, warte ich auf sie, bis ich alt und grau bin, ein alter Mann, mit einer alten Liebe.

Vom Essen und Lieben

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