Читать книгу Kurzgeschichten-Sammlung - Marius Hornisch - Страница 5
Kurz vor dem Unfall
ОглавлениеEine kleine LED leuchtete in der Kommandozentrale auf, während der Master in seinem Stuhl gedankenverloren mit geschlossenen Augen seinen langen weißen Bart mit den Fingern kämmte. Der Assistent schaute abwechselnd zur LED und zum Master und überlegte, ob er ihn wecken sollte. Plötzlich verfärbte sich das Licht in der Zentrale und eine weibliche Computerstimme gab der LED die nötige Aufmerksamkeit: „WARNUNG, KÖRPER ERREICHT KRITISCHEN BEREICH. HERZSCHLAG BEI 200 SCHLÄGEN PRO MINUTE.“
„Was? Wie?“, erschrocken sprang der Master auf, schaute sich um, erkannte die wöchentliche Situation für diesen Körper und lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück.
„Erhöht die Energiezufuhr der Muskeln, um den Herzschlag zu senken, und weist die Muskeln zwischen den Rippen an, ihren Intervall zu intensivieren, um die Sauerstoffzufuhr hochzufahren. Außerdem sollen die Zellen bei der Leber nach Zucker anfragen und erst, wenn unsere Vorräte dort aufgebraucht sind, sollen sie die Fettreserven angreifen.“
Der Master ignorierte den verdutzten Blick des neuen Assistenten und fuhr fort: „Dieser junge Körper schafft diese Belastung ohne Probleme.“
„Geben Sie mir bitte die Außenkamera auf das Display und gleichen Sie die Informationen mit seinen Erinnerungen ab“, befahl der Master seinen Assistenten.
„Wusste ich es doch, er fährt wieder Downhill. Wenn ich daran denke, wie oft wir diesen Körper deswegen wieder zusammengeflickt haben“, entgegnete der Master mürrisch.
Erinnerungen, wie Leon schwere Baumstämme stapelte, Angst, als er vom Nachbarn Holz klaute und Schmerz, als er sich an der Sprungschanze verletzte, flogen über das Display.
Die abgerufenen Erinnerungen belegten, dass sich Leon bei jedem vierten Sprung eine Verletzung zuzog.
Der Master wandte sich zu seinem Assistenten und sprach: „Verstärken Sie die Sicherheitskräfte an den relevanten Orten für seine Verletzungen und verdoppeln Sie die ermittelten Einheiten für den rechten Fuß.“
Unbeirrt vom Gesichtsausdruck des Assistenten fuhr der Master fort: „Irgendwie hat dieser Junge den Drang, bei Gefahr auf seinem favorisierten Fortbewegungsmittel mit seinem Fuß zu bremsen. Dabei habe ich diese Erinnerung aus seiner Kindheit schon mehrmals gelöscht, aber er lädt sie immer wieder von seinen Gedächtniszellen aus dem Bauch herunter.“
Der Master wandte sich vom Assistenten ab und murmelte in seinen Bart: „Dieser Junge ist wesentlich anstrengender als mein letzter Körper.“
Angewidert von der Computerstimme rief der Master in den Raum: „Kann endlich mal jemand diese dämliche Warnung abschalten, wir haben hier alles unter Kontrolle.“
Mehr zu sich selbst brummte er: „Diese Evolution kann nervig sein. Früher hatten wir nur einen Monitor und der Körper hat trotzdem überlebt.“
Zufrieden über das Befolgen seiner Befehle gönnte der Master seinen Augen eine Pause, schnallte sich wegen des nahenden Sprungs an und genoss die Ruhe, bis ihn ein schriller Alarmton aufschrecken ließ.
„Ich sagte doch ihr sollt die Warnung abstellen. Was ist an meinen Worten so schwer zu verstehen?!“
Bevor ein Assistent seine schleimige aufgesetzte Entschuldigung herunterbeten konnte, erkannte der Master die ernste Lage, schnallte sich vom Stuhl ab und ruderte wegen der Schwerelosigkeit des Sprungs mit dem Mountainbike in den Raum hinein.
Auf allen Monitoren wurden die Bilder der Außenkameras „gestreamt“. Gefährliche Objekte aus dem Sichtfeld der Optik wurden rot umrandet hervorgehoben.
Heuristische Messverfahren aus den Luftproben zeigten einen extrem erhöhten Anteil an Giftpartikeln und das automatische Verfahren für das Gefühl „Angst“ wurde eingeleitet.
„Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut“, murmelte der Master. „Alle Einheiten in Bereitschaft. Erhöht die Muskelspannung, leitet Ausweichmaßnahmen ein. Ich will alles über diese Giftpartikel wissen. Forscht in seinen Erinnerungen. Gebt mir alles, was irgendeine Relevanz hat, und bereitet die Zellen auf die Herstellung von Entgiftungsenzymen vor.“
Die Schwerelosigkeit ebbte ab und der Master schwebte Richtung Boden.
„Und bereitet euch auf den Aufprall vor.“
Der Aufprall war verheerend. Tatenlos musste der Master mit ansehen, wie der Junge erfolglos versuchte sein Fahrrad zum Stehen zu bringen. Die Angst breitete sich wie ein Virus in seinem Körper aus, wuchs und brachte ihn dazu, sein rechtes Bein auszustrecken. In mehreren Sektoren des Beins wurde ein Bruch der Außenhülle gemeldet. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sich die ersten Interferone im Zentralen Nervensystem beim Master einfanden.
„Viren in Sektor Drei, erbitten Hilfe.“
„Giftstoffe, Bakterien, Viren, Alarmstufe Fünf. Sektor Vier erbittet dringend Hilfe.“
„Giftstoffe in Sektor Sechs, erbitten sofortige Hilfe.“
Immer mehr Interferone drängten sich in die Zentrale und berichteten.
„Ruhe!“, befahl der Master. „Wendet euch bitte an die Assistenten und gebt euren Sektor und eure Bitte weiter.“
Das blutrote Licht des Alarms färbte die weißen Haare des Masters dunkel und ließ seinen entschlossenen Blick furchtlos erscheinen. Unter dem tosenden Alarm trat er einen Schritt nach vorne und übertönte jegliches Geräusch mit seiner unerwartet kräftigen Stimme: „Gebt allen Zellen den Befehl, Entgiftungsenzyme zu produzieren. Holt aus der Milz alle Eisenreserven, die wir haben. Beginnt mit der Produktion von Lymphozyten. Erhöht die Temperatur auf 39 Grad Celsius und fahrt alle unwichtigen Funktionen herunter.“
Der Master hielt kurz inne und schaute in die blassen Gesichter seiner Assistenten, während im Hintergrund auf den Monitoren Lymphozyten lautlos um Hilfe baten.
„Informiert die Arm- und Fingermuskeln, holt dieses „Smartphone“ aus seiner Hosentasche und setzt einen Notruf ab. Falls das nicht funktioniert, startet das Notfallprogramm und lasst Leon nach Hause laufen.“
Der Master holte noch einmal tief Luft, schaute in jedes einzelne Gesicht und beendete seine Ansprache: „Bereitet euch auf einen harten Kampf vor. Wir sind jetzt im Krieg.“
Flink wuselten die Arbeiter und erfüllten ihre Befehle. Der junge Assistent schaute verdutzt den anderen hinterher, wie sie ihre Aufgaben erledigten. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Da legte sich sanft die Hand des Masters auf seine Schulter und der alte Mann sprach in ruhigem Ton zu ihm: „Geben Sie mir Offizier Leon, ich muss sofort mit ihm sprechen.“