Читать книгу Kurzgeschichten-Sammlung - Marius Hornisch - Страница 6
Im Krankenhaus
ОглавлениеEin Lymphozyt der Z-Brigade streifte den Vorhang zur Seite und trat zu Offizier Leon, der sich die Sektorenkarte anschaute und mit anderen Offizieren die nächsten Züge plante.
„Offizier Leon.“ Das Lymphozyt wischte sich den Schweiß von der Stirn und sprach mit panischer Stimme: „Wir haben gerade die strategisch wichtige Stellung im Sektor 3000 verloren. Die hohe Temperatur ist ihnen vollkommen egal. Wir sind nun seit über 10 Stunden auf 42 Grad Celsius. Die Giftzellen haben die Bakterien mutieren lassen. Diese können fast ständig eine Mitose durchführen und keine unserer Truppen kann irgendetwas gegen sie ausrichten. Unsere Eisenvorräte gehen zur Neige und der Brennstoff unserer Zellen ist fast aufgebraucht.
„Danke, Lymphozyt, und beruhigen Sie sich“, sagte Leon mit ruhiger Stimme. „Wir bekommen externe Vorräte von der Nase und aus dem Arm. Der Transport in die betroffenen Regionen läuft rund um die Uhr, aber die Arbeiter werden müde. Der Master lässt mehrere heuristische Suchverfahren durch die Datenbank laufen, um mögliche Gemeinsamkeiten zu diesen Bakterien zu finden. Aber ohne Erfolg.“
Die Signalleuchte des Kommunikationsgeräts neben Leon leuchtete auf. Ein verrauschtes Bild flackerte über das Display und eine verzerrte Stimme knackste aus dem Lautsprecher.
„Hier Lymphozyt-B aus Medizin Offizier Vanessa.“
Leon stockte der Atem, als er Vanessa auf dem Display erkannte.
„Wir sind in Sektor 2000 eingeschlossen. Der Feind überrennt unsere Stellungen. Ich habe mich mit einer kleinen Gruppe von Lymphozyten eingeschlossen und einen möglichen Weg gefunden, die Bakterien zu bekämpfen.“ Erschrocken drehte sich Vanessa vom Display weg, schaute sich um und blickte Leon verzweifelt an.
„Leon, wenn du mich hören kannst, wir brauchen noch etwas mehr Zeit. Du musst uns helfen. Leon, ich …“ Die Verbindung wurde unterbrochen.
„Verdammt! Vanessa, kannst du mich hören. Vanessa?“ Wütend warf Leon das Gerät gegen die Wand und schaute in die Gesichter der Offiziere.
Mit vorsichtiger Stimme entgegnete einer der Lymphozyten: „Aber Sir, unsere Späher haben doch berichtet, dass dieser Mensch mit der Bezeichnung Arzt gesagt hat, dass er den Fuß operieren wird und die Wunde ausspülen lassen will, dadurch werden alle bis mindestens Sektor 3000 terminiert.“
„Ich weiß“, entgegnete Leon gereizt. „Wir haben aber keine andere Wahl. Wir müssen Offizier Vanessa da rausholen, bevor der Eingriff des Arztes vorgenommen wird.“
„Bei allem Respekt Sir, aber das ist Wahnsinn. Ihr Urteilsvermögen zu diesem gezüchteten Externen Lymphozyt ist getrübt. Ich veranlasse daher ...“
„Sie werden gar nichts veranlassen!“, brüllte Leon, packte den Assistenten und rammte ihn gegen die Wand.
„Auch wenn Offizier Vanessa nicht von diesem Körper stammt, hat Sie ein Recht genauso behandelt zu werden, wie jedes andere Lymphozyt.“ Leon holte tief Luft und wählte seine nächsten Worte sorgsam: „Sie hat möglicherweise eine Heilung für diesen Körper gefunden und ihr wisst genauso gut wie ich, dass die Datenbank dieses Körpers keine Lösung für diese Bakterien finden wird. Wenn Sie stirbt, dann wird dieser Körper und damit auch wir alle sterben. Sie ist unsere letzte Hoffnung.“
Er schaute in jedes einzelne Gesicht und sprach weiter: „Wir, als Lymphozyten, haben einen Eid geschworen, diesen Körper mit all unseren Mitteln bis in den Tod zu beschützen. Erinnert euch daran. Ich werde nicht zusehen, wie dieser Körper stirbt und ihr solltet das auch nicht tun. Also helft mir, Offizier Vanessa und diesen Körper zu retten – wer von euch ist dabei?“
Nach der geschlossenen Zustimmung zu seiner Ansprache gab Leon den Befehl für den Rückzug aus den betroffenen Regionen. Ziel dieser Aktion war, mit gemeinsamer Angriffsstärke ein Ablenkungsmanöver durchzuführen. Währenddessen konnten er und ein paar Lymphozyten sich zu Offizier Vanessa durchschlagen, um sie, ihre Einheiten und die Informationen zu bergen, bevor die Hoffnung weggespült wurde.
Schleim tropfte von den eiternden, toten Zellwänden. Die Luft war stickig und vom Geruch des Todes erfüllt. Der Boden war von tausenden leblosen Freunden übersät, während sich Leon mit ein paar Lymphozyten vorsichtig durch die Gänge tastete. Der Gestank verschlimmerte sich und obszöne Laute, ein Schaben, Kratzen und Knacken hallte durch die toten Gänge. Der Sektor, in dem Vanessa ausharrte, war von Millionen mutierten Bakterien umstellt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie die befestigte Zellwand durchbrochen hatten und ungehindert vordringen konnten.
In diesem Augenblick dröhnte das Signal eines Horns durch die Gänge und ließ die Wände vibrieren. Die Bakterien hielten inne und ein großer Teil trennte sich von der Hauptgruppe und folgte dem Ruf des Anführers. Das Ablenkungsmanöver hatte funktioniert. Leon gab seinen Gefolgsleuten das Zeichen, zog seine Waffe und kämpfte sich zu Vanessa durch.
„Leon!“ Erleichtert schlug Vanessa die Arme um ihn und spürte seine fiebrige, feuchte Haut auf ihrer und küsste ihn lange und verlangend.
„Wir haben es fast geschafft, ich muss nur noch einige wenige Parameter abgleichen“, sagte Vanessa hoffnungsvoll.
Besorgt schaute Leon auf sein Display. „So viel Zeit haben wir nicht mehr. In weniger als einer Zeiteinheit wird der ganze Bereich gespült, wir müssen sofort verschwinden. Pack alles, was du brauchst, zusammen. Dann verschwinden wir von hier.“
Vanessa wies ihre Assistenten an, alles zusammenzupacken, als plötzlich einer von Leons Lymphozyten mit schwarz-grünem Schleim beschmiert, humpelnd durch die Zellmembran kroch, keuchte und tot vor ihnen zusammenbrach. Die Wände vibrierten und die Zellwand brach unter einer Flut von Bakterien zusammen, die wie ein Tsunami unaufhaltsam ins Innere vorpreschten.
„Los, verschwinde!“ brüllte Leon zu Vanessa und stürzte sich in die Massen der Feinde. Geschickt wich er den Schlägen aus, drehte sich ab, rutschte unter dem Feind hindurch und zwang ein Bakterium zu Boden. Damit verschaffte er Vanessa und ihren Leuten die erforderliche Zeit, um unbemerkt verschwinden zu können.
Egal was er tat, die Bakterien waren gegen seine Attacken immun, regenerierten und verdoppelten sich. Die Situation war aussichtslos. Unter dem tosenden Lärm des Kampfes mischte sich eine krächzende Stimme aus dem Lautsprecher des Funkgeräts: „Leon, wir sind draußen. Verschwinde da sofort.“
Unsanft landete eine Pranke auf Leons Hinterkopf, ließ ihn taumeln und zwang ihn zu Boden. Schemenhaft erkannte er ein hünenhaftes Bakterium mit lachender Fratze vor sich und bereitete sich auf seinen Tod vor. Da vibrierte der Boden und Gewebeklumpen brachen von der Decke. Im letzten Augenblick rettete sich Leon vor den herabfallenden Teilen. Schwer atmend registrierte er, dass der Arzt angefangen hatte, die Wunde aufzuschneiden. Die Zeit würde nicht reichen, dass Vanessa aus dem Sektor entkommen konnte. Sie würden sterben und mit ihr das einzige Mittel auf Heilung.
In seiner Verzweiflung kontaktierte Leon den Master und hauchte seine letzten Worte in das Mikrofon: „Master, hier Offizier Leon. Ich habe Offizier Vanessa mit der Formel gefunden. Aber die Zeit reicht nicht aus, um rechtzeitig zu entkommen. Sie braucht ihre Hilfe.“ Verdutzt schaute Leon auf das Display und stellte fest, dass der Empfang unterbrochen wurde.
„Verdammte Technik“, dachte er sich, bevor er Schabgeräusche hörte, die die ganze Umgebung erschütterten, und er mit seinem Kopf auf dem schleimigen Boden aufschlug. Dann verlor er das Bewusstsein.
„Leon, kannst du mich hören?“ Verzweifelt packte Vanessa ihn und bettete seinen Kopf in ihre Armbeuge.
„Vanessa, wieso bist du hier?“, murmelte Leon und erkannte schemenhaft ihr Gesicht.
„Ich lasse dich nicht zurück“, beharrte Vanessa und stemmte sich mit ihm nach oben. „Wir werden hier gemeinsam verschwinden.“
„Aber die Formel.“
„Habe ich meinem Assistenten gegeben“, antwortete Vanessa.
Langsam kam Leon wieder zu sich und stützte sich bei Vanessa ab. Durch die heftigen Erschütterungen krochen die Bakterien auf dem Boden, aber die ersten erholten sich bereits wieder und standen auf.
„Der Master hat den Körper in einen Schockzustand versetzt. Der Arzt ist dabei, ihn zu stabilisieren, bevor er mit dem Eingriff fortfährt. Das ist unsere letzte Chance, hier zu verschwinden. Also komm, wir haben nicht mehr viel Zeit.“
Leon riss sich zusammen, humpelte durch das Schlachtfeld und wich den kriechenden Bakterien aus. Erneut ließ sie eine Erschütterung taumeln und das Schaben wurde so laut, dass sie sich die Ohren zuhielten.
„Schneller!“, schrie Vanessa, aber ihre Stimme wurde von dem tosenden Lärm verschluckt. Der Arzt begann mit der Spülung und eine gigantische desinfizierende Welle peitschte durch die Gänge und riss alles und jeden mit sich. Der Boden vibrierte unter der tosenden Urgewalt.
„Nur noch ein kleines Stück“, keuchte Vanessa.
Plötzlich hielt jemand sie am Fuß fest und sie stürzte zu Boden. Leon drehte sich um und erkannte ein Bakterium auf dem schleimigen Untergrund, das sich schraubstockartig um Vanessas Fuß klammerte. Am Ende des Ganges sah man bereits die Welle auf sie zurasen. Leon trat auf das Bakterium ein, doch es zog den Griff um Vanessa nur noch fester.
„Leon, verschwinde von hier so lange es noch geht. Los!“, schrie Vanessa verzweifelt.
„Nein, ich werde nicht ohne dich gehen.“
Als Leon die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, eilten als letzte Rettung Lymphozyten zu ihnen und gemeinsam schafften sie es, den Griff des Bakteriums zu lösen. Im letzten Augenblick retteten sich Leon und Vanessa hinter die schützende Zellwand im sicheren Sektor. Gemeinsam mit den Assistenten und der Formel eilten sie in die Kommunikationsbasis.
Sie hatten schwere Verluste einstecken müssen, aber nun gab es wieder Hoffnung, denn sie hatten die Formel gerettet, mit der sie die mutierten Bakterien bekämpfen konnten. Es dauerte nicht lange, bis Vanessa die Formel fertigstellen konnte, aber es war bereits fast zu spät.
Wie Späher berichteten, hatte die Spülung nichts gebracht. Die Bakterien wurden nur kräftig herumgewirbelt, erfreuten sich aber immer noch bester Gesundheit. Die Lymphozyten waren dagegen durch die anhaltenden Kämpfe fast ausgerottet worden. Sämtliche Kameras waren ausgefallen und die Zellen stellten ihre Arbeit ein. Der Treibstoff war erschöpft und die Sicherheit der Autobahnen für die Interferone (Nervenbahnen) konnte nicht mehr gewährleistet werden, weshalb sie vollständig abgeschottet wurden. Dies hatte zur Folge, dass die Muskeln ihre Arbeit einstellen mussten. Der Transport des Blutes und des Sauerstoffs wurde von externen Geräten ausgeführt. Das Leben des jungen Körpers hing nun an einem seidenen Faden. Der Master hatte die Kommandozentrale räumen lassen und blieb mit einer Handvoll ausgewählter Assistenten zurück. Er war alt und hatte das Angebot abgelehnt, einen neuen Körper zu übernehmen. Dies sollte sein letzter Körper sein. Und wenn das sein vorbestimmtes Ende sein sollte, würde er ihm erhobenen Hauptes entgegentreten. Er hatte den Jungen lieb gewonnen und schickte ihm die letzten Nachrichten, die er durch das Ohr empfing, um ihm den Übergang in das Leben nach dem Tod zu erleichtern.
„Es war schön, dich kennengelernt zu haben, Leon“, sagte Vanessa und weinte. „Wir hatten es fast geschafft.“
„Wir werden es schaffen“, beharrte Leon. „Wir nehmen die Nervenbahnen und gelangen damit direkt in das Herz der Infektion. Dann schlagen wir uns durch, ändern den Code des Plasmids der Prokaryoten-Bakteriums-Zelle laut deiner Formel. Ich habe nicht meine Leute geopfert, um hier auf den Tod zu warten.“
Mit entschlossenem Blick schaute er Vanessa an und wartete auf ihre Antwort, bevor er sah wie sich ihre Traurigkeit in ein Lächeln verwandelte. Leon wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht, drückte sie fest an sich und küsste sie.
Mithilfe des Masterschlüssels schlichen sie unbemerkt durch die Nervenbahnen tief ins Innere des feindlichen Gebietes, bis sie die Mutterzelle erreichten, aus der alle Bakterien entstanden waren. Wenn sie es schafften, diese Zelle umzuschreiben, würde diese eine Kettenreaktion auslösen und nacheinander die anderen Bakterien infizieren.
Vorsichtig schlichen sie sich durch die fremdartigen Gänge, die mit klebrigem Schleim und Auswüchsen geschmückt waren. Die Mutterzelle wurde überraschend leicht beschützt. Nur ein Wahnsinniger würde sich in diese Gegend wagen. Mit ihrem Spezialwerkzeug brachen sie die Zellwand auf. Gallertartige Flüssigkeit schwappte ihnen entgegen, während sie sich in das Innere vorbewegten. Dutzende Plasmide schwammen durch die nährstoffhaltige Flüssigkeit. Gerade als Leon Vanessa vorsichtig in das Becken hinunterhievte, wurden sie entdeckt. Er zog seine Waffen und verschaffte Vanessa die nötige Zeit.
Der widerwärtige Geruch raubte Vanessa den Atem, als sie durch die eklige Flüssigkeit zum Plasmid ruderte. Im zweiten Versuch schaffte sie es, eines der Plasmide zu packen. Mit einem Restrektionsenzym zerschnitt sie die Codierinformationen des Plasmids und klebte den geänderten DNS-Code an. Schließlich ließ sie das zappelnde Plasmid wieder los. Grün schimmernd schwamm es davon. Sie hatte es geschafft.
Leons Schmerzensschrei riss sie aus ihrem kurzzeitigen Glücksgefühl. Hastig kletterte sie aus dem Becken und sah das Geschwür aus Feinden, das sich über Leon ergoss. Furchtlos eilte sie zu Leon, befreite ihn und zog ihn blutend aus dem Getümmel.
„Wir müssen sofort hier raus!“, brüllte Vanessa, während die Zellwände sich verformten. „Die Mutterzelle wird den neuen DNS-Code aufnehmen und mutieren.“
Mit letzter Kraft schafften es Leon und Vanessa aus der Mutterzelle, bevor sie sich veränderte und den Eingang versiegelte. Wie vermutet teilte die Zelle ihren neuen DNS-Code den Bakterien mit, worauf diese anfingen, erneut zu mutieren.
„Es funktioniert“, jubelte Vanessa und gab die Information über einen der letzten Sender an den Master weiter. Doch es war zu spät. Der Körper hatte abgeschaltet. Die Seele fing an, ihre Hülle hinter sich zu lassen.
„Master, es tut mir leid, aber es ist zu spät“, sagte der junge Assistent mit trauriger Stimme.
„Nein!“, schrie der Master. „Schalten Sie alle Lautsprecher ein und fahren Sie auf maximales Volumen.“
„Aber Sir, das ganze System könnte zusammenbrechen.“
„Wir haben nichts mehr zu verlieren. Also tun Sie, was ich Ihnen sage.“
Der Master schluckte, holte tief Luft und sprach, als letzte Hoffnung für diesen Körper: „Deine Zeit ist noch nicht gekommen, also kämpfe!“