Читать книгу Die Grünen - Marius Ivaskevicius - Страница 5
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ОглавлениеStellt euch einen Wald vor, scheinbar menschenleer. Oder eine Kuckucksuhr. Wie der Kuckuck plötzlich seinen Kopf herausstreckt. Und jetzt eine Uhr – ohne Kuckuck. Und euer friedliches Leben, begleitet vom Ticken dieser Uhr. Und euer Staunen, wenn in diesem durch und durch bekannten Mechanismus plötzlich ein Kuckuck auftaucht.
Auch wir dachten manchmal im Scherz, das müsse einem Unbeteiligten wie die Hölle vorkommen. Er hatte natürlich von einer seiner Großmütter davon gehört, wie sich die Hölle auftut, und hatte jetzt, im August 1950, selbst die Gelegenheit, sich davon überzeugen. Juozas Kasperavičius kroch absichtlich immer als erster aus dem Bunker, stieß den Deckel auf und steckte seinen Kopf so rasch durch die Öffnung, als ob das alles wirklich von dem Unbeteiligten beobachtet würde, dem seine Großmutter erzählt hatte, wie sich die Hölle auftut.
Was suchen wir da?
»Still wie nach der Sintflut«. Das ist Bartkus. »Juozas hat allen einen Schreck eingejagt.«
Wir leben.
»Und heiß, man könnte direkt die Pickel trocknen.«
Nach oben kriechen wir jeweils, um zu überprüfen, ob dem auch wirklich so ist.
»Ich werde dem gehören, der mich herauszieht«, sagt Molkerei. »Ich werde auch die Pickligen nicht verachten.«
Die Hand gibt ihr Bartkus, denn Kasperavičius sucht noch immer nach demjenigen, dem die Großmutter erzählt hat, wie sich die Hölle auftut. Doch Molkerei wird nie Bartkus oder Kasperavičius gehören, sie gefällt sich darin, allen zu gehören. »Molkerei« heißt sie wegen ihrer Brüste. Die sind riesengroß. Und werden nur selten nicht zweckentsprechend gebraucht. Wie viele Kinder sie hat? – ich weiß es nicht. Von wem und wann sie schwanger wird – ebenfalls für alle ein Rätsel. Niemand weiß, was sie vor dem Krieg so machte, wahrscheinlich gebar sie Kinder. Dasselbe im Krieg. In der übrigen Zeit ist sie als Verbindungsfrau tätig. Soll mich Gottes Zorn dafür treffen, dass ich eine missratene Mutter lobe, aber als Verbindungsfrau ist sie gar nicht von Pappe.
Mozūra ist ein stiller Berg. Er kriecht schnell heraus. Und hartnäckig, geduldig. Allein sein riesiger Wuchs könnte ihn daran hindern, in den Schulbüchern der Zukunft als Beispiel für einen Landwirt aus der Zwischenkriegszeit herzuhalten. Im vorigen Krieg brachte er mit bloßen Händen drei Deutsche zur Strecke. Als sie seine Kuh holen kamen. Er begrub sie in zwei Meter Tiefe und pflanzte das Tier darauf. Seit jenem denkwürdigen Ereignis gräbt er besser als alle anderen Bunker.
»Und wer gibt mir die Hand« … Das ist Palubeckaitė.
Sie streckt die Hand durch die Öffnung, in der vergeblichen Hoffnung, unter diesen Soldaten einen Mann mit höfischen Manieren zu finden.
»Steig hoch«, treibt sie ihr waschechter Bruder an. »Vorwärts, es warten Leute.«
»Leute«, das sind er, Palubeckas, dann noch ich – Jonas Žemaitis. Teilweise auch Zigmas, ein Schuster, der keine Beine mehr hat. Nur dass Zigmas nicht wartet, er bleibt.
»Wenn du Schritte hörst«, warne ich. »Bschsch«, imitiere ich Schweigen mit dem Finger an den Lippen.
»Bschsch«, wiederholt Zigmas.
Fraglich, ob er etwas begriffen hat.
»Wenn du nicht bschsch sagst, dann macht’s bumm.«
»Bumm«, lacht er zufrieden.
»Für sie auf dich – ein einziges puh. Bschsch, damit es nicht bumm macht. Wiederhole.«
»Bschsch, damit es nicht bumm macht. Puh puh puh«, wiederholt er. »Rums«, sagt er noch zu sich selbst, während ich den Deckel scheppernd zuschlage und ihn von den anderen trenne.
Ach so, ich habe euch nicht gewarnt, ich bin der Anführer.
Doch Zigmas bleibt kaum genug Zeit, sich das Gesagte zu merken, denn die Schritte nähern sich, noch bevor sie sich entfernt haben. Da sind wir wieder. Wir kriechen zurück wie die Mäuse.
»Wir warten ein Weilchen«, antworte ich auf den erstaunten Mäuseblick des Schusters. »Wir setzen uns noch ein wenig, bevor wir uns auf den Weg machen«.
Ich fühle mich, als ob ich eine halbe Stunde mit meiner Liebsten herausgeschunden hätte. Denn draußen vor dem Fenster regnet es in Strömen. Doch vor dem Fenster sticht die Sonne, und ich rechtfertige mich vor dem Schuster:
»Genau genommen, Zigmas, haben wir dich im Gestank zurückgelassen.«
Fraglich, ob er etwas begreift.
»Genau genommen stimmt das«, antworte ich an seiner Stelle.
Und zeige auf den Eimer in der Ecke. Seit zwei Tagen steht er da ohne geleert zu werden. Und darin unser aller Gestank, Frauen- und Männerjauche, deren wir uns schon lang nicht mehr schämen.
Wir sind draußen gewesen, deshalb beißt uns der Gestank in den Augen, genau genommen wird uns sogar übel davon, nur Zigmas beißt er nicht in den Augen und ihm wird davon nicht übel, denn er ist eins geworden mit ihm, wie ein Hund, der die Pantoffeln seines Herrchens unter sich vergräbt wenn niemand zu Hause ist.
»Tut gut, so dazusitzen, nicht wahr?«, versuche ich dies auch den anderen schmackhaft zu machen, doch ich bekomme keine Antwort.
Wenn der Kuckuck aus der Uhr kommt, in der gar nie einer war, dann kommt mit ihm die Beklommenheit. Denn rundherum wimmelt es von Menschen, die wissen, wie sie sich zu verhalten haben, wenn sich die Hölle auftut. Gegen die führen wir Krieg.
Ich schickte alle zurück, als ich diese seltsame Beklommenheit fühlte. Besser tausend Mal wegen der eigenen schamlosen Beklommenheit fehl gehen, als einmal eine solche Vorahnung zu ignorieren und in Gefahr geraten.
Sie denken da anders.
Aber ich habe Sie ja schon gewarnt, ich bin der Anführer.
»Aufgestanden!« Ich springe auf. »Palubeckas, bring diesen Gestank raus!« Ich zeige zum Eimer. »Wenn du siehst, dass sie dich umzingeln, dann leer ihn aus. Den Gestank werden sie nicht ›durchbrechen‹«.
Wir kriechen erneut hinaus, diesmal in anderer Reihenfolge. Zuvorderst Palubeckas, unser »Fahnenträger«.
»Wie verabredet, Zigmas,« ermahne ich ihn. »Wenn Schritte, du bschsch – und kein bumm.«
Palubeckas entfernte sich weit genug von uns und verteilte unsere Exkremente in kleinen Häufchen im Wald. Damit niemand auch nur den leisesten Verdacht hegte, dass dieses Vermögen von acht Höllenbewohnern angehäuft worden war.
»Und kein bumm«, pflichtet mir Zigmas bei und fordert mich auf, mich zu bücken.
Ich muss sowieso da runter. Palubeckas hat mir den Eimer gebracht und ich werde ihn an seinen Platz zurückstellen.
»Nur schnell, Zigmas, sag schon.«
Aber Zigmas drückt statt es zu sagen die Augen zu und hebt eine Backe seines armen Hinterns, mit dem sein Körper endet. Dann ist ein Furz zu hören.
Ich steige schnell die Leiter hinauf.
»Kein bumm«, wiederholt er zufrieden. »Sei nicht böse, Chef, wir haben gescherzt.«
»Idiot«, sage ich zu mir selbst und schlage den Deckel scheppernd zu.
Heute ist Sonntag, der einundzwanzigste August.
Ich gehe mit Bartkus an der Spitze. Er reicht mir bis zur Schulter. Er putzt seine Brille und setzt sie auf. Er erinnert an einen fleißigen Wissenschaftler. Einmal, als wir ihn in anständigen Kleidern nach Klaipėda schickten, da klatschte sogar Molkerei in die Hände und strich ihm sanft über die Kleider. »Bartkus, mein Kind«, sagte sie, »zu einem wie dir würde ich auf Knien angekrochen kommen. Ich pfeif auf den Krieg, hörst du?«
Doch man muss Molkerei kennen.
»Ich und Bartkus sind die Ziellinie«, rufe ich den anderen, den Zurückgebliebenen zu, obwohl ich sie erst vor einer Viertelstunde zurück in den Bunker getrieben habe. »Irgendwas passt mir hier nicht«, sagte ich zu ihnen. »Wir sind die Ziellinie, verlieren will niemand. Ihr wisst ja, was den Betreffenden am Montag erwartet, wenn heute wirklich Sonntag ist. Wäschewaschen und Kaffee – jedem einzeln ans Bett. Und der Eimer.«
»Der Eimer ist leer.«
»Den kriegen wir schon voll.«
Das ist unser Morgentraining.
Die beiden Palubeckas sind in Führung. Palubeckas, etwas über dreißig, schwarzes Haar, dichte Augenbrauen und kreideweißes Gesicht, als ob er an einer unheilbaren Krankheit litte, daneben mit einem ebensolchen Gesicht Palubeckaitė, nur ohne Anzeichen von Krankheit, zehn Jahre jünger als ihr Bruder. Es folgt Mozūra. Ein großer Blonder, mit vorstehenden Backenknochen, läuft so, als ob er einen Ball dribbeln würde. Dreht sich um und verlangsamt den Schritt. Er wird nicht verlieren.
Molkerei rutscht aus und kann gerade noch Kasperavičius zu Fall zu bringen. Sie steht auf und läuft in unsere Richtung los, ihre großen Brüste stampfen wie Zylinderkolben unter der Armeejacke, das Hemd ist schamlos aufgeknöpft. Sie ruft:
»Molkerei hat noch nicht verloren.«
Das ist unser Krieg. Die versammelten großen Kriege würden ihn an den Schandpfahl stellen. Und dann würden ihn noch die versammelten Leben anspucken.
»Ich hätte nicht verlieren sollen«, sagt Kasperavičius.
Er hält an der Ziellinie nicht an, geht an uns vorbei. Gleich wird er uns ein Fuhrwerk organisieren. Wir setzen uns und warten unter den letzten Baumreihen. Vor uns – nur großes weites Feld.
»Hört mal, und wo ist die Seife?«, fasst sich Bartkus. »Haben wir die Seife vergessen?«
»Die Seife ist dort«, sagt Molkerei.
»Wo dort?«
»Im Loch, bei mir, eingenäht. Wo dort? … Unter den Bäumen ist die Seife. Beim Stauwehr.«
»Gut«. Er beruhigt sich wieder. Er zieht eine Zigarette aus der Tasche und raucht. »Gut, dass sie unter den Bäumen ist, nicht wahr?« Er dreht sich zu mir um.
»Hervorragend!«, erwidere ich.
Wir warten und schweigen. Was sollten wir auch sonst tun. Wir sitzen da, als ob sich vor uns eine große Pfütze befände. Oder ein Sumpf. Kein Feld. Ja, etwas wie ein Meer. Und schauen dem sich entfernenden Kasperavičius nach. Wird er nicht einsinken?
So pflegte der Graf dazusitzen. Im Frühling zwölf bis fünfzehn, im Sommer und manchmal im Herbst, wenn der Wind nicht zu stark blies. Vor 1912 war er durch die Welt gezogen, ab 1915 war er krank. Und im Frühling zwölf bis fünfzehn, im Sommer, im Herbst und manchmal auch im Winter liebte er es so dazusitzen. Manchmal kam er allein her, manchmal mit seiner Frau, doch stets brachte er einen Schaukelstuhl mit. Und rauchte gute Zigarren. Niemand anderer in unserer Umgebung rauchte solche Zigarren. Der Stuhl schaukelte im Sand bis er stecken blieb. Dann blickte der Graf starr vor sich hin. Doch vor ihm befand sich das Meer, vor uns – im besten Fall ein Feld.
Kasperavičius hat es offenbar mehr als einmal erfolgreich ohne Einsinken durchquert.
Möchte ich ein Graf sein, so komme ich hierher und setze mich hin. Nur ging er zwölf bis fünfzehn ganz allein zu allen Jahreszeiten hin, um sich als »Randmensch« zu fühlen. »Randmensch« im Staat – den er vor dem Meer schützte. Mein Wunsch ist es, ein ganz Gewöhnlicher zu sein. Ich komme hierher, zu diesem Feld, um mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass das Land mich schützt.
Dann brüstete sich Graf noch gern mit seinem neuen Landungssteg. Ein langer Landungssteg, der sich ins Meer gebohrt hatte. Wie ein adliger Finger, der der nichtadligen Natur zeigte, wer hier wem untertan ist. Ich habe keinen Landungssteg. Und nichts könnte bezeugen, dass manchmal Leute aus dem Wald zu diesem Feld kommen. Darauf achte ich genau.
Dann organisierte der Graf, um das Meer zu übertönen, auch noch gerne Konzerte. Eine gewaltige Symphonie plärrte dann so laut, dass das Wasser verstummen musste. Manchmal konzertieren auch wir. Wir plärren scheußlich verstimmt irgendein Lied daher. Dies passiert aber nur, wenn es stürmt, donnert, Bäume ausreißt, mit einem Wort, die Natur darf ihr Herumtollen nicht unterbrechen. Dann kann man in seiner Höhle nach Lust und Laune blöken und brüllen.
Der Graf ist der, der am Anfang von alledem stand. Der Mensch, der seine Bürger nicht vor dem Meer schützte. Die Natur hat sich über uns erhoben.
Es geschah an einem Sommernachmittag 1915, einem ganz normalen Geburtstag des Grafen. Als das Orchester ankündigte, zu wessen Ehren Mozart gespielt werde. Einen Fuß weit vom Meer sitzend blätterte er in seinen Partituren und verkündete: »Mozart – für den Grafen«. Und vom Meer – kein Wort.
Damals hockte ich in den Dünen, überflog mit den Augen das Meer, wog die Kräfte des Grafen ab und kam mit meinem kindlichen Verstand zu dem Schluss: das Meer wird die Ouvertüre über sich ergehen lassen, dem Grafen aber droht das Finale.
Ich war sechs. Ich beobachtete das Meer, das Orchester, die Familie des Grafen, den Baumstamm und Kasperavičius. Und Elena – ein Mädchen im Badekleid, unter dem es noch nichts zu verbergen gab. Darunter war genauso nichts wie in der Ankündigung, das Orchester spiele jetzt Mozart für den Grafen. Außer etwas vielleicht, was das Meer verärgern sollte.
Sie zog hier Kreise im Sand. Nur das konnte sie wirklich. Mit dem großen Zeh einmal um sich selbst – das war ihre Erfindung. Ein Bein bewegt sich nicht, das andere – wie ein Zirkel. Sie – Elena.
Und all das hat der Graf nicht für die Zukunft bewahrt, indem er einen einzigen Fehler beging, zu sehr an sich glaubte.
Deshalb komme ich jetzt hierher und sitze am Rand dieses Feldes – um jenen Fehler zu vermeiden.
Juozas Kasperavičius, der jetzt mit dem Fuhrwerk zurückkehrt, war damals nur ein namenloser Rotzbengel mit unbedecktem Vorder- und Hinterteil. Er stieg gern auf vom Meer angeschwemmte Baumstämme. Breitete die Arme aus wie ein Meerhuhn und bohrte sich kopfüber in eine Pfütze, die ein Sturm hier zurückgelassen hatte. Stand wieder auf, stieg auf den Baumstamm, die Arme wieder weit von sich gestreckt und noch einmal kopfüber auf Grund. Ein Meerhuhn – das war Kasperavičius. Als ob er die Pfütze durchstoßen und dann umgehend hier auftauchen könnte – am einundzwanzigsten August 1950 am Rand eines Feldes, durch das zu waten um nichts einfacher war als übers Wasser.
Ein nackter Rotzbengel mit unbedecktem Vorderteil … Doch schon ist er hier und wir stehen auf und wollen einsteigen.
»Was gibt’s Neues?«
»Schüsse«, antwortet Kasperavičius mit dem ernsthaftesten Gesichtsausdruck der Welt. »Und koreanische Flüche. Stellt euch vor, was für eine Stille. Man kann dem Krieg in Korea zuhören.«
»Worüber fluchen sie?«, fragt Molkerei, während sie auf den Wagen klettert.
»Kein Wort über dich.«
»Über Molkerei nur Gutes oder überhaupt nichts.« Sie macht es sich in der Mitte des Wagens bequem, ihr Gesicht wendet sie Kasperavičius zu.
»Deshalb erzählen sie ja auch nichts … Hast du denn auch nur einem einzigen Schlitzauge zu spüren gegeben, wie gut Molkerei ist?«
»Den Koreanern werde ich das niemals erlauben.« Sie knöpft ihr Hemd zu, als ob die, die in Korea Krieg führen, sie von dort aus sehen könnten. »Man sagt, die seien für nichts zu gebrauchen.«
»Wer sagt das?« Kasperavičius lässt die Peitsche knallen. »Nach Korea?«, dreht er sich zu mir um.
Bartkus und Mozūra nehmen auf der linken, die beiden Palubeckas auf der rechten Seite Platz. Ich setze mich hinten in den Wagen.
»Nach Korea«, gebe ich Kasperavičius zur Antwort, »falls es dort ein Stauwehr und ein Stück unter den Bäumen versteckte Seife gibt.«
»Dort ist wirklich Krieg«. Er lässt die Peitsche noch ein paarmal knallen und das Pferd trabt los. »Nach Korea«, wiederholt Juozas.
»Ja«, sage ich, »nach Korea.«
Wir sind unterwegs zum Baden im Fluss.
An eines der Wagenräder hat aus irgendeinem Grund jemand einen Motorradreifen angenagelt.
»Schönling«, sagt Molkerei voller Bewunderung, den Blick auf irgendetwas weiter vorne gerichtet.
»Das Pferd?«, frage ich nach.
»Ja, das.«
»Ungezähmt«, erwidere ich ihr.
»Ungezähmt«, wiederholt sie geheimnisvoll.
Sie sagt noch etwas, doch ich höre ihr nicht zu.
»Ich habe nicht zugehört«, sage ich.
»Den Pimmel, oder den Feind«, wiederholt sie.
»Schrei doch nicht so«, bittet sie Bartkus, denn Molkerei brüllt und wir fahren über das Feld, das Kasperavičius überquert hat, während wir ihm beobachteten, ob er nicht einsinken würde.
Doch das treibt Molkerei nur noch mehr an.
»Pim-mel«, skandiert sie im Stehen.
»Sie ist ein hartes Weibsstück«, sagt Kasperavičius.
Als ob er sagte: »Sie wird für uns alle kämpfen, wenn wir wegen ihr in die Klemme geraten.«
»Sollen die harten Weiber sich doch nach dem Krieg versammeln und aus vollem Halse grölen«, entgegnet Bartkus.
Und das ermutigt Molkerei zum Mottowechsel.
»Fe-eind«, skandiert sie jetzt und was könnten wir gegen sie unternehmen? »Einen Feind mit so einem Pimmel«, sagt sie und zeigt mit dem Finger auf das Pferd.
Wir sind machtlos.
Dann fällt sie auf den mit Heu bedeckten Wagenboden.
»Und Sie?«, fragt sie mich und schaut mir dabei direkt in die Augen.
»Ich?«, erwarte ich ihre Frage.
»Werden Sie sich am Fluss vor mir ausziehen?«
Ihr Kopf liegt im Schatten meines Ellbogens. Da sind immer welche, die sich von ihrem unreinen Mund beleidigt fühlen. Doch dann gibt es auch immer welche, die ihren perfekten Körper verteidigen. Sie ist ein Kuckucksweibchen, das seine Kinder aus dem Nest geworfen hat, bellt wie das allerletzte Schandmaul von Hund und »trägt« Kuhzitzen mit sich herum. Doch mancher Mann begehrt sie mehr als die anderen Frauen, ihre Brüste – groß und stramm – entfachen die Leidenschaft, so wie die Freiheit, über die man spricht, die man aber nicht berühren darf. Ihre Worte sind roh und unrein – und ansteckend.
Und jetzt fragte sie mich, ob ich mich heute ausziehen würde. Als ob wir nicht jeden Tag vor den Augen der anderen auf demselben Eimer hocken würden.
»Du wärst enttäuscht«, antworte ich ihr, während ich bald sie, bald das Ding da vorne anblicke, das sie »Schönling« nennt.
»Nein«, antwortet sie schelmisch. »Und wissen Sie warum?«
»Nein.«
»Weil ich schon so viele gesehen habe und nicht ein einziges Mal war ich enttäuscht.«
In Fontainebleau 1938 kannte ich eine andere Molkerei, Natalia, meine Friseurin.
»Sie kommen schon seit einem Jahr zu mir zum Haareschneiden, Žemaitis«, pflegte sie zu sagen. »Hat das etwas zu bedeuten?«
»Noch immer nicht.«
Dasselbe sagte sie zu unserem Dozenten für Artilleriegeschichte. Der Zufall wollte es, dass ich oft gleich nach ihm an der Reihe war.
»Monsieur Juvaly, seit drei Jahren bringe ich Ihr Haupt in Ordnung, ich und keine andere. Für Sie sind drei Jahre ein Pappenstiel, doch ich bin erst 21. Ein Siebtel meines Lebens, Monsieur Juvaly.«
Sie war Molkerei, nur naiv und jünger. Und subtiler, denn sie lebte in Frankreich und erinnerte sich nicht an den Krieg.
»Jahr um Jahr wühle ich in ihren Scheiteln herum, klappe die Ohren um, um sie nicht mit der Schere zu treffen, bade in ihren Haaren, und das alles bedeutet noch immer nichts.«
»Ich komme erst seit einem halben Jahr zu Ihnen«, berichtige ich sie.
»Ich meinte Monsieur Juvaly.« Sie wendet sich um und sieht nach, ob Monsieur Juvaly schon gegangen ist. Monsieur Juvaly steht in der Tür und winkt ihr zu. »Auf Wiedersehen, Monsieur Juvaly. Nicht zu viel Brillantine. Sonst bekommen sie vorzeitig eine Glatze.«
»Warum bist du hier, Natalie, in Fontainebleau?«
»Ich bin Natalia«, berichtigt sie. »Das sind zwei verschiedene Namen.«
»Also, Natalia, warum hier und nicht anderswo?«
»Žemaitis, Sie sprechen so, als würden Sie aus Paris anrufen. Warum sind Sie nicht in Afrika sondern hier?«
»Dort wird keine Artillerie unterrichtet.«
»Weshalb nicht in Afrika sondern hier, in Fontainebleau, bei der armen Natalia, die Ihnen immer noch nichts bedeutet?«
Wir blicken einander im Spiegel an. Passend zu ihren Vorwürfen macht sie ein ernstes Gesicht, verzieht den Mund.
»In Afrika gibt es nichts zu tun.«
»Genau das Richtige für Sie. Dort fehlt es an guten Heerführern.«
»Wem?«, frage ich.
»Woher soll ich das denn wissen? Ich, eine arme Friseurin aus Fontainebleau. Vielleicht den Affen. Haben die gute Heerführer?«
»Wohl eher nicht.«
»Irgendeine Äffin namens Natalia würde Ihnen Jahr um Jahr die Haare schneiden und Sie nicht fragen, ob das etwas bedeutet.«
Sie bläst mir die Haare vom Hals.
»Ich schneide Ihnen das Haar so, dass in Paris niemand auf die Idee kommt, dass sie ein Jahr in Fontainebleau verbracht haben.«
Sie blinzelt mir verschwörerisch zu und schneidet weiter.
»Fontainebleau ist nicht weit von Paris« – ihr kommt eine ihr einst gestellte Frage wieder in den Sinn – »Doch nicht so nah, dass hier Mietpreise wie in Paris herrschten. Das ist es, wofür ich es liebe und hasse. Leute wie Sie oder Monsieur Juvaly bezahlen mir ein Drittel dessen, was Sie in Paris bezahlen würden. Sie wundern sich noch immer, warum ich hier bin?« Sie hält kurz inne und seufzt. »Mädel wie ich, die andauernd wissen wollen, ob es etwas bedeutet, finden in Paris keine Arbeit, nicht einmal im heruntergekommensten Bordell.«
Sie lächelt mir mit ihren schneeweißen Zähnen zu. Nicht einmal der Krieg vermag solche Zähne zu verderben, man braucht nur zwölf Jahre später Molkerei in den Mund schauen, um sich davon zu überzeugen, dann wirft man das Artilleriestudium hin und lässt sich die Zähne flicken.
»In Paris bedeutet nichts etwas. Ich fahre jeden Tag hin und kehre am selben Abend zurück. Ich liebe Paris.«
»Und wohnst in Fontainebleau«, sage ich.
»Und dafür sollten Sie mir die Füße küssen. Würde etwa die, die Sie nach Paris mitnehmen, Ihnen das Haar so schneiden, dass niemand auch nur ahnte, dass Ihr Gepäck noch immer im miefigen Fontainebleau steht.«
Ich gebe Natalia keine Antwort, denn die, die ich nach Paris mitnehmen wollte, musste erst noch von dort ankommen und ihre Sachen bei mir abstellen.
»Übernachten Sie im Hotel«, belehrt mich Natalia, »Kehren Sie um Himmels willen nicht nach Fontainebleau zurück.«
»Was macht das für einen Unterschied, wo wir übernachten?«
»Übernachten Sie in Paris und fragen Sie dann, was das ausmacht. Paris muss man ganz und gar einatmen. Atmen Sie es zusammen mit Fontainebleau ein, dann wird Fontainebleau Paris ausstechen.«
»Ist doch gar nicht so schrecklich, euer Fontainebleau«, widerspreche ich ihr.
»Danke«, sagt sie, wirft die Schere hin, kämmt mich. »Ist auch Ihres. Damit können Sie sich vielleicht bei Monsieur Juvaly einschmeicheln, bei mir nicht. Für mich ist das genau wie für Sie, Žemaitis, nur eine Zwischenstation.«
Natalia nimmt eine Rasierklinge zur Hand und rasiert mir mit gerunzelter Stirn den Hals. Das macht sie älter.
»Ist sie Französin?«, fragt sie plötzlich.
»Sie ist meine Schwester.«
»Dann sollten sie sich vor Gott und Blutschande fürchten. Und Inzest«, betont sie, »Sie sind früher als sonst hier.«
»Sie ist keine Französin«, gebe ich zur Antwort. »Und sie ist für mich wie eine Schwester.«
»Das ist etwas anderes«, meint sie lächelnd. »Sie weiß noch nicht, dass Sie hinter dem linken Ohr einen Leberfleck haben?«
Sie klappt mein linkes Ohr um und mustert es so, als hätte sie dort Indizien für die gefunden, die mit mir nach Paris fahren wird.
»Ich glaube, sie weiß es bereits.«
»Ich aber nicht, denn vor drei Wochen war es gar noch nicht da. Ja, Žemaitis, die Nichtfranzösin fährt mit Ihnen nach Paris, ohne etwas von Ihnen zu wissen.«
In Wirklichkeit war Natalia eine echte Erfrischung nach der Männergesellschaft der Artilleriestudenten. Sie ist die Urmutter der Artillerie, die vergleichsweise weit schießt und meist trifft. Wahrscheinlich mag auch Monsieur Juvaly sie deswegen so gern.
»Leberflecke bilden sich nicht in so kurzer Zeit«, sage ich zu ihr.
»Hinter dem linken Ohr haben sie einen Leberfleck«, widerspricht mir Natalia, »und werden es das ganze Leben lang haben.«
»Keine so große Last.« Ich berühre mein linkes Ohr, mit dem sehnlichen Wunsch, dass das Gespräch über den Leberfleck ein Ende haben möge.
»Sie ist keine Französin und sicher wahnsinnig schön«, versucht Natalia sich im Raten. »Sie ist jung, kaum aus der Schule, und hat Paris noch nicht gesehen. In Paris werden Sie Gott für sie sein.«
»Die halbe Wahrheit.«
»Sie ist nur einigermaßen hübsch und wohnt jetzt in Paris …«
»Sie ist zehn Jahre älter als du«, muss ich Natalia enttäuschen, »hat schon fertig studiert und ist noch nie in Paris gewesen.«
»Sie haben das Wichtigste vergessen, Žemaitis.« Ihre Schere erstarrt an meinem Scheitel.
»Sie ist schön.«
»Schöner als ich?« Natalias Hand mit der Schere rührt sich nicht.
»Sie ist Nichtfranzösin.«
»Auch ich bin Nichtfranzösin.«
»Sie ist hübscher als Monsieur Juvaly«, will ich mich herausreden, »fünfmal hübscher. Sechsmal …«
»Sie weichen aus, Žemaitis.«
Die Schere hängt noch immer über meinem Haupt.
»Sie hat grüne Augen und braunes Haar. Sie hat nichts Romanisches. Und nichts Slawisches.«
»Ich pfeif drauf, was sie hat«, lässt Natalia nicht locker, »ich frage, wer hübscher ist?«
»Verflixt nochmal, Natalie, ich bin zum Haareschneiden hier …«
»Ich bin nicht Natalie und mir ist egal, wozu Sie hier sind.«
»In Ordnung, Natalia, sie ist siebenmal hübscher als du.«
»Sehen Sie, geht doch.« Sie lässt die Hand mit der Schere sinken und fährt mit dem Haareschneiden fort. »Eine, die zumindest um einen Leberfleck hübscher ist als ich, darf Sie nach Paris mitnehmen.«
Für eine Weile schweigt sie und beeilt sich, eine Eile, die meinem Haarschnitt nicht gerade gut tut.
»Sind Sie selten in Paris?«, bricht sie endlich das Schweigen.
»Fast nie.«
»Dort bedeutet nichts etwas«, wiederholt sie, »Slawinnen, Romaninnen, Äffinnen. Wenn die Äffin Natalia hübscher ist als ich, dann findet sie in Paris eine Arbeit.«
»Ist sie jedoch in Fontainebleau Friseurin, dann hat sie keinen einzigen Kunden.«
»Das stimmt.« Sie zerreibt die Brillantine zwischen den Handflächen und fährt mir durchs Haar. »Wie heißt denn die Nichtfranzösin?«
»Elena«, antworte ich Natalie.
»Elena ist also keine Französin.«
»Nein.«
»Hübsch.«
»Göttlich.«
»Alt.«
»Einunddreißig.«
»Nationalität?«
»Litauerin. Wie ich.«
»Seltene Nationalität.«
»Nicht gar so selten.«
»Neben den Polen?«
»Oberhalb.«
»Noch nie in Paris gewesen?«
»Noch nie.«
»Wo ist sie jetzt?«
»In Paris.«
»Sie lügen, Žemaitis.«
»In Paris. Genau jetzt – ihr Zug. Fünfzehn Uhr dreißig. Aus Berlin.«
»Jetzt ist fünfzehn Uhr dreißig.« Sie schaut auf die Uhr.
»Fünfzehn Uhr dreißig – ihr Zug.«
»Um fünfzehn Uhr dreißig sitzen Sie in Fontainebleau und lassen sich von der armen Natalia die Haare schneiden.«
»Um fünfzehn Uhr dreißig soll sie in Paris aussteigen.«
»Es ist fünfzehn Uhr einunddreißig.«
»Das heißt, sie ist ausgestiegen.«
»Der Zug hat Verspätung, wenn Sie immer noch hier sitzen.«
»Sie ist in Paris ausgestiegen«, bestätige ich.
»Dann ab wie der Wind nach Paris, der Bahnsteig ist voller Clochards.«
»Sie kommt nach Fontainebleau.«
»Sie ist zum ersten Mal in Paris ausgestiegen.«
»Ja«, sage ich, »und wird gleich den Zug nach Fontainebleau besteigen.«
Natalia verleiht meiner Frisur den letzten Schliff und wischt mir die Haare aus dem Gesicht.
»Oberhalb von Polen befindet sich wahrscheinlich das größte Fontainebleau der Welt.«
»Das einzige Fontainebleau ist hier«, erwidere ich. »Was bin ich schuldig?«
»Fünf Francs, in Paris wären es fünfzehn.«
»In Paris würde ich zwanzig geben. Hier gebe ich sieben.«
»Fünf Francs«, wiederholt Natalia. »Behalten Sie das Geld, Žemaitis. Sie wird nicht in den Zug nach Fontainebleau steigen. Sie werden in Paris nach ihr suchen müssen.«
»Sieben«, bleibe ich standhaft und strecke ihr sieben Francs hin. »Oberhalb von Polen weiß niemand, dass Fontainebleau weniger wert ist als Paris.«
»Oberhalb von Polen heulen wahrscheinlich die Winde und spazieren schneeweiße Eisbären herum.«
In meiner Hand noch stets die sieben Francs.
»Sie ist nicht so hübsch, wie ich dachte, wenn sie mit dem Zug nach Fontainebleau fährt«, meint Natalia überzeugt.
»Fahren denn keine hübschen Frauen von Paris nach Fontainebleau?«
»Aber doch nicht so!«, entgegnet Natalia störrisch, nimmt nicht einmal die fünf Francs von mir und macht Feierabend, denn sie hat keine Kunden mehr – und kommt mit mir.
»Sie wird nicht kommen«, sagt sie am Bahnhof.
Doch Elena steigt schon aus dem Zug.
»Ist sie das?«, fragt Natalia.
»Elena«, gebe ich ihr zur Antwort.
»Nicht übel«, gesteht sie ein. »Also, was stehen Sie dann noch hier, sie Tölpel von einem Artillerist. Sie ist aus Paris angekommen.«
»Über Berlin«, füge ich an.
»Tragen Sie ihr Wunder ganz weit weg vom Bahnhof und kommen Sie mir nie mehr in den Weg. Schluss mit dem Haareschneiden bei mir, Žemaitis. Sie sind eine Haubitze. Ein seelenloses Geschütz.«
»Schön?«, fragt mich Molkerei und zeigt mir die Zähne, zwischen denen ein Strohhalm steckt.
Wir passieren Amerika, ein einfaches Holzhaus, dessen Deckname so lautet, und unser Pferd schielt hinüber, denn das ist sein Heimatstall.
Drinnen ein Radioapparat der Marke Philips, dem Hausherrn vor undenklichen Zeiten vom Präsidenten persönlich ausgehändigt, doch das ist eine zu lange Geschichte. Den Apparat hat Sir Washington – so lautet der Deckname des Hausherrn – unter seinem Bett versteckt. Und immer, wenn wir zu ihm kommen, zieht er ihn hervor. Und rapportiert: »Präsident Grinius’ Radio, das für zwei Kühe an Sir Washington übergeben wurde, der seine Landreformpolitik unterstützte, hat in den letzten Wochen dies und das mitgeteilt, für dann und dann den Angriff des Westens versprochen, zwischen den Zeilen wurde dies und das gesagt, verschwiegen: dies und das«.
»Schön?«, höre ich Molkerei erneut aufdringlich fragen.
Sie zieht mich unter Sir Washingtons Bett hervor und lädt mich wieder auf den Wagen.
»Und wie«, sage ich.
Doch dann fragt sie:
»Und wie?«
Die Welt wiederholt sich voller Langeweile.
»Sehr. So schöne habe ich noch nie gesehen.«
Statt der lärmigen Pariser Straßen hat sie Stoppelfelder und einen Wagen mit einem angenagelten Motorradreifen im Angebot, statt eines Hotels, das uns gestattet, Paris ohne Fontainebleau einzuatmen, einen Bunker, in dem du errötest, wenn der Gestank deiner Fäkalien den der anderen »übertüncht«, doch für die arme Natalia hat sie keinen Ersatz, obwohl sie ihr eine neue Nationalität und einen neuen Decknamen anbietet.
»Wer ist sie?« In einer Pariser Straße stehend und von 1938er-Passanten bedrängt, sieht Elena mich fragend an.
»Eine arme Friseurin«, antworte ich.
»So ist das also«, kommt sie in Fahrt.
»Sie sagt das selbst jedes Mal«, versuche ich mich zu rechtfertigen.
»Und du tröstest sie.«
»Ich lasse mir die Haare schneiden. Auch sie ist Nichtfranzösin«, füge ich an.
»Du redest, seit wir unterwegs sind, nur von ihr.«
»Worüber soll ich denn sonst reden, über die Artillerie?«
»Über die Artillerie.« Das letzte Wort spricht sie Silbe für Silbe aus, ohne Fehler, als ob sie dem Thema Artillerie den Weg bereiten möchte.
»Diese Natalia fährt jeden Abend nach Paris. Sie ist der lebendige Widerspruch. Ein Vorwurf – an sich und die anderen. Sie liebt nur Paris und will nicht, dass jemand in Paris sie liebt. Deshalb kehrt sie jeden Abend zurück.«
»Du kannst es nicht lassen, von ihr zu sprechen.« Elena verwirft ohnmächtig die Hände.
»Eine einfache Friseurin aus Fontainebleau«, sage ich, »keiner Gefühlsausbrüche in Paris wert. Völlig anspruchslos. Obwohl sie auf den ersten Blick Anspruch auf alle erhebt. Sie hat dich übrigens ein Wunder genannt.«
Elena kneift die Augen zu. Sie ist nicht kurzsichtig, sie kneift sie halb zu, um zu sehen, was sich hinter diesen Worten verbirgt.
»Was hat sie damit gemeint?«
»Den Zug Paris – Fontainebleau.«
»Den Zug?«, wiederholt sie, als hätte ich sie in ihren Vorahnungen bekräftigt.
Wir sind aber gar nicht zum Baden im Fluss unterwegs.
Das ist eine etwas verworrene Angelegenheit.
Wir wollen jemanden umbringen. Baden werden wir unterwegs.
Der betreffende Mensch hat meinen Pass. Er hat ihn schon immer besessen. Und ich hatte seinen, wenn man das so sagen darf. In Wirklichkeit aber hatten wir ein jeder den eigenen. Nur waren unsere Pässe identisch.
Diese Pässe sorgten schon vor dem Krieg für Verwirrung. Ich durfte lang und breit darlegen, dass ich keinen halben Hektar Wald besaß und keine Abgaben zahlen musste, und er durfte ständig seine Kriegsuntauglichkeit nachweisen, um nicht plötzlich eine ganze Artillerieeinheit kommandieren zu müssen.
Doch das war die Verwirrung vor dem Krieg, ich zahlte keine Steuern, denn er zahlte sie, und die Militärführung ließ ihn in Ruhe, kaum war ich an Ort erschienen.
Er ist einfach Jonas Žemaitis. Das ist kein so seltener Vorname, kein so seltener Nachname, also muss es kaum erstaunen, dass sie uns beide getroffen hat – diese gemeinsame Namensverbindung.
Er ist drei oder vier Jahre älter als ich. Nicht so groß wie Mozūra, aber groß. Obwohl meine Knochen gröber sind, würde ich ihn wohl aufs Kreuz legen.
Einmal sind wir uns begegnet. Das war einige Zeit vor dem Krieg. Dann noch ein paarmal, im Krieg. Und jetzt schicken wir uns wieder dazu an.
Für keinen im Wagen ist es ein Geheimnis, weshalb wir zu ihm fahren, doch alle meiden das Thema, denn wer wollte schon sagen: Ich werde Jonas Žemaitis umlegen, wenn Jonas Žemaitis, sein Kommandeur, neben ihm im Wagen sitzt und es noch weitere zwanzigtausend von seiner Sorte gab? Es sei denn er sagte: »Ich erledige den anderen Jonas Žemaitis, der niemandes Kommandeur ist und nur seine eigenen Schurkenstreiche leitet«. Wenn man so viel sagen muss, dann fängt man besser gar nicht damit an.
Ich glaubte den Gerüchten nicht, dass Jonas Žemaitis wieder da ist. Ich schickte Molkerei hin und sie bestätigte es, als sie zurück war.
»Sprich«, sagte ich damals zu ihr.
»Worüber«, fragte sie verschmitzt.
»Über Jonas Žemaitis.«
»Er ist unser Anführer«, erwiderte sie, »ein Held, wenn nicht mehr. Eine Legende.«
»Schweig. Und fang neu an.«
Und sie begann von Neuem.
»Ein elender Kerl, wenn nicht mehr. Eine Ausgeburt. Und lebt weiter, als wäre nichts geschehen.«
Und obwohl sie kein neues Faktum, kein vertuschtes Verbrechen hinzufügte, nur darlegte, was wir schon wussten, ballten sich unsere Fäuste, kochte uns das Blut in den Adern. Lebt weiter, als wäre nichts geschehen – das war der Grund für unseren Hass, obwohl wir auch genug andere Gründe hatten, den Ärmsten umzulegen.
»Er hat sie doch damals direkt in die Bruthöhle der Russen gefahren.«
»Und lebt weiter, als wäre nichts geschehen.«
»Als wäre nichts geschehen.«
»Und auch noch mit diesem Nachnamen. Er hat Ihren Namen beschmutzt.«
»Und lebt weiter, als wäre nichts geschehen.«
»Als wäre nichts geschehen.«
»Kein einziger Muskel zuckte. Fuhr hin wie zur Milchsammelstelle.«
»Und lebt weiter, als wäre nichts geschehen.«
»Als wäre nichts geschehen.«
»Wir wollten ihn schon in Vilnius suchen. Wir sagten, wir werden in Vilnius suchen.«
»Und lebt weiter, als wäre nichts geschehen.«
»Als wäre nichts geschehen.«
»Nicht einmal eine Waffe zu halten hatte sie gelernt. Lebte, als ob nichts wäre.«
»Und er sie – wie einen gefällten Baum. Wie zum Fleischer.«
»Und lebt, als wäre nichts geschehen.«
»Als ob nichts, rein gar nichts geschehen wäre.«
Wir brauchten seinen Tod wie die frische Luft. Als ob wir viele Jahre lang im Gestank verbracht hätten. Und jemand im Vorbeigehen uns zuriefe: »Macht das Fenster auf«. – »Es ist doch zugenagelt«, erwiderten wir, »von draußen. Hermetisch.« – »Was sagt ihr da«, ertönte die Antwort von dort, »Dummköpfe. Was für Dummköpfe«.
Und dieser Schluck frische Luft war unser heutiges Tagesziel. Für den einundzwanzigsten August. Wir fuhren zu dem, der gelernt hatte zu leben, als wäre nichts geschehen.
»Wenn ich Ihnen einen Kamm zwischen die Füße klemmen würde«, sagt jetzt Molkerei zu mir, als wir über ein Feld fahren, »könnten Sie dann damit ihr Haar berühren?«
»Ein seltenes Exemplar von Schweinehund«, sagte sie damals noch, als sie zurückkehrte, um mir die Nachricht zu bestätigen. »Dieser Jonas Žemaitis. Aber die Leute verwechseln Sie beide nicht mehr.«
»Ich könnte«, sagt sie jetzt und lächelt. »Doch bei mir würde da innen alles zerplatzen. Würde durch den ganzen Körper hin aufbersten …«
»Sie selbst könnten es wahrscheinlich nicht«, zweifelte sie damals. »Sein Vor- und Nachname …«
»Meinst du denn, niemand irrt mit Schuhen deiner Größe durch die Welt?«, erwiderte ich. »Ich werde ihn ohne zu zögern umlegen.«
»Schuhe sind etwas anderes«, sagte sie.
Sie meinte damit, dass es nicht einfach sei, einen Menschen umzulegen, in dessen Kopf dein Name einen ganz anderen Sinn bekommt. Seinen Sinn.
»Sie könnten doch nicht einmal ein Bein auf das andere heben«, sagt sie jetzt. »Sie sind doch ganz und gar unbeweglich.«
»Stimmt nicht«, erwidere ich, »Ich sitze sogar gern so.«
»Ich habe Sie das Bein heben sehen«, sagt sie. »Nicht selten fällt Frauen das Gebären leichter, als Sie ein Bein auf das andere legen …«
»Interessantes Zusammentreffen«, sagte ich vor zwölf Jahren zu ihm. »Ich habe schon von einigen gehört, vielleicht waren auch Sie darunter, doch bisher bin ich noch keinem begegnet. Jonas Žemaitis.«
Er nuschelte irgendetwas. Erst später begriff ich, dass er »Jonas Žemaitis« gesagt hatte. Er sagte es auf seine Weise. Es war Januar 1938, ich war noch nicht verheiratet, es regnete, in meiner Seele herrschte Leere, doch ich trat nur zu ihm, weil er Jonas Žemaitis war.
»Die Rente meiner Mutter.« Er fuchtelte mit ein paar Litas-Banknoten vor meiner Nase herum. »Ihr geht’s schlecht, die Wirbelsäule.«
Ich fragte, wie sie heißt.
»Anelė. Und Ihre?«
»Nein«, erwiderte ich. Nicht Anelė.«, und fügte an, »Waren Sie im Krieg?«
Ich sah nämlich die schlimme Narbe unter seinem rechten Ohr.
»Haben Sie auch so eine?«, fragte er mich.
»Habe ich«, gab ich zur Antwort, »nur am Bein. Und keine Narbe, sondern einen Leberfleck. Grau, mit Haaren überwachsen. Mein einziges besonderes Merkmal.«
Ehrlich gesagt, zwei Autos desselben Modells hätten sich mehr zu sagen, als wir zwei.
Ich berührte seine Narbe. Er machte einen Satz rückwärts, schüttelte sich auf seltsame Weise.
»So ein Zufall«, sagte er, »die Mutter heißt nicht Anelė. Bleiben wir so stehen?«
Er ging, ohne sich noch einmal umzuwenden.
»Seltsam«, sagte Molkerei. »Er hat sich so lange versteckt und jetzt ist er plötzlich wieder da.«
»Er ist müde«, antwortete ich ihr.
»Glaube ich nicht«, sagte sie ungläubig.
Ich meinte damit, dass man davon viel müder wird als von körperlicher Arbeit, und dass sie keine Nachricht über ihn überbracht hat sondern eine von ihm, und dass nicht wir ihn umbringen wollen, sondern dass er will, dass wir ihn umbringen. Und dass mein Vor- und mein Nachname, die, wenn sie gerufen werden, einen anderen Sinn erlangen – seinen Sinn –, ihn mehr ermüden als wir. Ich meinte damit, dass jemanden verraten nicht einfach ist. Noch viel meinte ich damit, doch wir legten uns schlafen.
Wir verurteilten ihn auf unseren Pritschen, den Kopf auf die Hand gestützt und wünschten einander:
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Wir wünschten es einander, als wäre nichts geschehen.
Zu ihm sind wir jetzt unterwegs.