Читать книгу Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt - Mark Lambertz - Страница 9

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Komplexität ist allgegenwärtig. Kaum eine gesellschaftliche, wirtschaftliche oder technologische Entwicklung, die dieses Prädikat nicht beansprucht. Kein Begriff, der die heutige Unsicherheit und Ratlosigkeit der Menschen besser zum Ausdruck bringt. Grund genug, um sich mit diesem Phänomen auseinanderzusetzen. Was meint die Aussage, ein Tatbestand, eine Entwicklung oder ein System sei komplex? Geht es um eine inhärente Eigenschaft, oder liegt einfach ein mangelndes Verständnis für die Zusammenhänge vor? Lässt sich Komplexität überhaupt bewältigen, oder sind wir deren Dynamik wehrlos ausgeliefert? Die von diesem Buch angesprochenen Führungskräfte müssen sich der Komplexität stellen, sonst können sie ihre Aufgabe nicht verantwortungsvoll wahrnehmen. Sie müssen lernen, Komplexität zu verstehen, abzubilden und zu bewältigen. Dieses Buch setzt sich zum Ziel, eine «Hilfe zur Selbsthilfe» auf diesem Weg zu sein und entsprechende Denkmuster und Werkzeuge zur Verfügung zu stellen.

Verschiedene Entwicklungslinien prägen unsere heutige Zeit, ganz besonders die Digitalisierung, die Globalisierung, der Klimawandel und die Synthetische Biologie. Im Mittelpunkt dieses Buches steht die Digitalisierung der Unternehmenswelt, und es zeigt auf, wie verantwortungsvolle Führungskräfte sich diesem fundamentalen Wandel stellen. Exemplarisch für die sich abzeichnenden Entwicklungen sei das «Internet der Dinge» genannt. Dieses kann ohne Umschweife als «komplex» bezeichnet werden. Es wird der künftigen Mobilität völlig neue Dimensionen eröffnen: autonomes Fahren, Wegfall jeglicher Staus, massive Einsparung von Energie. Der digitale Wandel zeigt sich hier von seiner besten Seite, die inhärente Komplexität dieser Technologie wird daher gerne akzeptiert. Bei näherem Hinsehen offenbaren sich aber auch Schattenseiten. Diese Entwicklung erfordert eine intensive (online-) Vernetzung von Aktivitäten, die vorher unabhängig voneinander (offline) funktioniert hatten. Zusammen mit der gleichzeitig zunehmenden Komplexität der Verkehrssysteme ergibt dies einen Giftcocktail, der zu einer massiv höheren Störungsanfälligkeit führt. Komplexe Computersysteme haben zwangsläufig Sicherheitsmängel, und bei starker Verknüpfung ergeben sich auch aus kleinen Abweichungen Kettenreaktionen, die schwierig zu stoppen sind.

Bereits 1984 hat der Soziologe Charles PERROW in seinem Buch «Normal Accidents» (1984) aufgezeigt, welcher Zusammenhang zwischen der Komplexität und der Koppelung (der Intensität der Verknüpfung der Teile) eines Systems besteht. Wenn bei steigender Komplexität sich gleichzeitig die Koppelung erhöht, dann nimmt die Gefahr von Großunfällen exponentiell zu. Dies widerspricht aber der menschlichen Intuition, die steigende Komplexität meist mit mehr Kontrolle (oder in heutiger Terminologie: Compliance) zu bewältigen versucht. Dabei wäre das Gegenteil gefordert: Je komplexer ein System, desto autonomer müssen dessen Teile sein, um das Gleichgewicht zu halten. Oder anders ausgedrückt, die Intelligenz muss im System verteilt sein. Dies gilt für Atomkraftwerke genauso wie für Universitäten, für Großkonzerne ebenso wie für kleine und mittlere Unternehmen. [8]

Dieses Beispiel zeigt, dass die menschliche Intuition in komplexen Situationen oft kein guter Ratgeber ist. Der Nobelpreisträger Daniel KAHNEMANN (2011, 241) umschreibt dies wie folgt: «Der Anspruch der Intuition, in einer unvorhersagbaren Situation korrekte Resultate zu liefern, ist eine Selbsttäuschung ... Der Intuition kann in Situationen, die keine Regelmäßigkeiten aufweisen, nicht vertraut werden.» Und er geht sogar noch weiter (2011, 225): «Die Forschung zeigt ... dass zur Maximierung der Prognosegenauigkeit in schlecht strukturierten Umwelten die endgültige Entscheidung Algorithmen überlaßen werden sollte.» Dies ist kein Plädoyer dafür, Entscheide in Zukunft an Maschinen zu delegieren. Aber wissenschaftliche Erkenntnisse zu Verhaltensmustern komplexer Systeme sollten Priorität erhalten vor dem Vertrauen auf die eigene Intuition. Dafür spricht auch, dass das menschliche Gehirn sich wohl räumlich gut orientieren kann, aber bei gleichzeitig mit verschiedenen Geschwindigkeiten ablaufenden Prozessen überfordert ist. Die in diesem Buch angewandte Methodik des Vernetzten Denkens soll helfen, kontraintuitive Entwicklungen aufzuzeigen und der Komplexität angemessene Strategien zu entwickeln.

Szenenwechsel. Rolf Soiron, eine der profiliertesten Schweizer Führungspersönlichkeiten der letzten Jahrzehnte, hat in einem kürzlichen Interview (SOIRON, 2018, 76) die Frage nach seiner beruflichen Motivation wie folgt beantwortet: «Die Mechaniken und Zusammenhänge, wie Organisationen ticken, zu verstehen». Und er fährt fort: «Vielleicht weil mich die spezielle Mechanik von Organisationen so interessierte, kam ich immer ziemlich rasch in die Nähe derjenigen, die das Sagen hatten. Quantitativ waren meine Netzwerke daher nie sehr groß, qualitativ aber recht gut.»

Aus diesen Ausführungen lässt sich der Anspruch dieses Buches ableiten. Wir erforschen die Zusammenhänge, Mechaniken und Strukturen von Unternehmen angesichts des digitalen Wandels. Wir zeigen auf, wie mit der steigenden Komplexität der neuen Unternehmenswelt umgegangen werden muss. Für uns bedeutet «verantwortungsvoll führen», die Lebensfähigkeit des Unternehmens zu sichern und zu entwickeln, indem den Ansprüchen seines Umfeldes ganzheitlich Rechnung getragen wird. Es geht uns weder um die Vorhersage möglicher zukünftiger Entwicklungen, noch um die umfassende Darstellung digitaler Strategien oder der zur deren Umsetzung erforderlichen sozialen Kompetenzen. Wir möchten Führungskräfte anleiten, als «reflektierende Praktiker» die Komplexität der heutigen Unternehmenswelt zu akzeptieren, deren Zusammenhänge und Strukturen gedanklich zu durchdringen und kompetent zu handeln. Es gibt nämlich nur einen Weg, die Zukunft vorherzusehen – sie selber zu gestalten!

Wir beginnen unser Buch mit der Entwicklung von Denkmustern, die das verantwortungsvolle Führen in einer komplexen Welt leiten sollen. Dann stellen wir unsere «Landkarte» in Form des Viable System Model VSM vor. Dieses bereits vor einem halben Jahrhundert entwickelte Organisations- und Führungsmodell (Beer, 1972)hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil, seine Zeit ist mit den Herausforderungen des [9] digitalen Wandels erst gekommen, indem es den Übergang vom Denken in Hierarchien zum Verstehen von Netzwerken ideal begleitet. Die für die Lebensfähigkeit eines jeden Unternehmens konstitutiven Funktionen des normativen, des strategischen und des operativen Managements werden in ihrer detaillierten Ausgestaltung vorgestellt und anhand von Praxisbeispielen illustriert. Die so gewonnenen Erkenntnisse werden schließlich zu Prinzipien verantwortungsvoller Führung in Zeiten des digitalen Wandels verdichtet. [10]

Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt

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