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Silberne Pfeile

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Andrar rannte, so schnell ihn seine Beine tragen konnten. Zweige peitschten gegen seine Waden, seine Oberarme und Schultern. Er übersprang Wurzeln, gefallene Stämme, einen tiefen Graben. Die klare Luft stach ihm mit eisigen Stacheln ins Gesicht, jedes Mal, wenn es ihr gelang, den Zauber zu durchdringen, der Andrar vor der Kälte schützen sollte. Der Schwertführer war so schnell, wie er es dank seiner trainierten Muskeln und der Kraft des Lichts nur sein konnte. Und doch wagte er es nicht, zurückzuschauen. Der eindringliche Satz, mit dem Sardrowain seine Befehle an ihn beendet hatte, hallte in seinem Gedächtnis nach, weigerte sich standhaft, sein Bewusstsein zu verlassen.

„Und, Andrar. Lasst Euch nicht zu viel Zeit. Die Gorgoils werden uns jagen - vor allem, wenn sie herausgefunden haben, was wir mit ihren Familien gemacht haben.“

„Und was werdet Ihr tun?“, hatte er gefragt.

„Dieses Treffen hier beenden. Es hätte niemals stattfinden dürfen.“

Andrar war sich sicher, dass der Meister bei diesen Worten gelächelt hatte, auch wenn er sein Gesicht natürlich nicht hatte sehen können.

Dieser Zauber. Er faszinierte ihn. Und er beneidete Sardrowain darum, ihn wirken zu können. Er war stark. Und doch war er schnell wieder verblasst, nachdem sich Andrar nur wenige Mannslängen vom Meister entfernt hatte. Der Schwertführer war wieder sichtbar geworden. Und er fühlte sich nun noch verwundbarer als zuvor. Deshalb rannte Andrar. Er rannte auch dann noch, als ihm längst die Waden schmerzten und die Lunge brannte. Er würde erst dann anhalten, wenn er an einem Ort war, so wie ihn der Meister beschrieben hatte.

Sardrowain wusste, was Angst war. Er hatte sie erlebt. Hier in diesen Wäldern hatte sie seinen Verstand einst gelähmt, als er unter dem Staub seiner Kameraden lag und wider jede Vernunft darauf hoffte, sein erbärmliches Leben noch retten zu können. Er erinnerte sich an den Gestank der Schlacht, an das Zittern, das er nicht kontrollieren konnte, an das Schnaufen der Gorgoils, die nach Überlebenden suchten, um ihnen die Schädel einzuschlagen. Nichts davon konnte er vergessen. Er hatte Jahrzehnte gebraucht, um jene dunklen Stunden aus den Träumen fiebriger Nächte zu verbannen. Und um jene eine Lehre aus ihnen zu ziehen: Dass die Angst ein machtvoller Freund war. Inzwischen begrüßte er sie, umarmte sie und er benutzte sie.

Und genau das war es, was er tat: Er verbreitete Angst. Jetzt, in diesem Moment. Die Gorgoils spürten die unsichtbare Gefahr. Ihr Instinkt sagte ihnen, dass da irgendetwas war. Ihr Fell zitterte, Hufe und Tatzen schabten über den gefrorenen Boden, die Nüstern blähten sich auf, saugten Luft ein, die Kraft versprach für einen schnellen, rettenden Hieb. Aber sie konnten Sardrowain nicht sehen. Sie ahnten nicht, dass der Meister nur noch wenige Mannslängen von ihnen entfernt stand und die Griffe seiner beiden Armbrüste fest umschlossen hielt - bereit, so viele von ihnen zu töten wie möglich.

Aber auch Sardrowain machte sich nichts vor. Er mochte unsichtbar sein, aber er war nicht unverwundbar. Vor allem der weißhaarige Elvan jal’Iniai beunruhigte ihn. Zweimal schon war der Blick des Mannes dort hängen geblieben, wo er stand. Ahnte er etwas? Hatte er ihn gesehen? Sardrowain spürte seine Macht. Es war eine sehr alte Macht. Der Meister würde ihn mit einem der ersten beiden Bolzen töten müssen.

Ruhig und tief redete der Weißhaarige nun auf die Gorgoils ein. Seine Laute waren bisweilen hart und kehlig, und doch verlieh er ihnen eine Sanftheit, die keinen Zweifel an seinen guten Absichten ließ. Der Meister verstand nicht, was er sagte. Aber er spürte, dass die Worte wirkten. Die Gorgoils sogen sie auf, hießen sie willkommen. Sardrowain konnte das nicht zulassen. An ihm war es, dieses unerhörte Treffen zu beenden. Er wagte noch zwei weitere vorsichtige Schritte auf die Gorgoil-Gruppe zu. Dann schoss er.

Der erste Bolzen fuhr in die wulstige Büffelstirn eines Gorgoils. Noch bevor sein schwerer Körper auf den Boden schlagen konnte, war er zu Staub zerfallen. Und auch der zweite Bolzen jagte seinem Ziel entgegen. Er flog gut, würde dem Weißhaarigen unweigerlich den Tod bringen, dachte Sardrowain voller Befriedigung. Doch was stattdessen geschah, ließ ihn für einen kurzen Augenblick erstarren. Mit einer weichen, fast beiläufigen Bewegung wischte der Elvan jal’Iniai den Bolzen beiseite, als wäre er nichts weiter als ein lästiges Insekt. Das Geschoss fuhr direkt neben seinen Füßen in einen kleinen Haufen Schnee und brachte ihn zum Zerbersten.

Sardrowain blieb keine Zeit zum Denken. Sein dritter Bolzen tötete einen hirschartigen Gorgoil, der panisch seine gestachelte Keule kreisen ließ und dem Meister damit gefährlich nahegekommen war. Und mit dem vierten traf er einem der Bogenschützen in die Brust. Auch er hatte mit erstaunlicher Geschwindigkeit reagiert, den Bogen von der Schulter genommen und einen Pfeil auf die Sehne gelegt. Doch bevor er schießen konnte, zerfiel er zu silbernem Staub. Er war nicht der erste seines eigenen Volkes, den Sardrowain tötete.

Der Meister nutzte die Verwirrung, die sich unter den überlebenden Gorgoils breitmachte, und brachte sich mit einem Satz in ihre Mitte, wo er für den Moment vor den Blicken der beiden Elvan jal’Iniai geschützt war. Er zog sein Kurzschwert und hieb einem Gorgoil den Schwertarm ab, einem anderen rammte er die Waffe in den Hals. Brüllend schlugen die übrigen um sich, trafen ins Leere, ihre Augen suchten vor Angst geweitet nach irgendetwas, das sie bekämpfen konnten. Aber sie sahen nicht viel mehr als einen Schemen, der sich mit atemberaubender Geschwindigkeit bewegte und im nächsten Moment einem weiteren Gorgoil-Krieger die Kehle aufschlitzte.

Machtvoll übertönte die Stimme des weißhaarigen Elvan jal’Iniai die Geräusche des Kampfes, verbannte jeden angstvollen Schrei und auch jedes kleinste Rascheln in die Bedeutungslosigkeit. Sardrowains Ohren schmerzten und im nächsten Moment zogen sich die Gorgoils zurück. Sie gehorchten dem Befehl des Alten, sammelten sich nun hinter seinem Rücken.

Sardrowains Atem ging schwer. Seine Kehle brannte, als er versuchte, seine Lungen zu beruhigen. Jede Bewegung, und war sie auch noch so klein, konnte seinen Standort nun entlarven. Der Weißhaarige hatte seinen Stab vor sich in den Boden gerammt und sich mit dem Bogen seines vergangenen Begleiters bewaffnet. Er und der überlebende Elvan jal’Iniai standen nun direkt nebeneinander. Auf ihren gespannten Bögen lagen silberne Pfeile. Was waren das für Kerle?, ging es Sardrowain durch den Kopf. Sie waren mutig, ihre Worte hatten Macht über die Gorgoils, als wären sie dressierte Hunde. Sardrowain wünschte, die drei Adro’wiai könnten sehen, was hier geschah. Es würde ihnen die Augen öffnen, würde ihnen ihre Überheblichkeit nehmen. Aber das war nun seine geringere Sorge. Zunächst einmal musste er das hier überleben.

Die silberne Pfeilspitze des Weißhaarigen zeigte in seine Richtung, schwenkte einige Male von links nach rechts und wieder zurück. Er suchte nach ihm und schien zu wissen, worauf er zu achten hatte. Der Meister wog ab, was er tun konnte. Würde er einfach davonrennen können? Er bezweifelte das. Die beiden würden ihn erschießen, sobald ihn eine Bewegung verriet. Sardrowain zog es deshalb vor, so still wie möglich stehen zu bleiben, auch wenn ihm klar war, dass dieses Spiel spätestens dann enden würde, wenn der Zauber seine Kräfte aufgezehrt hatte. Aber dann hielten beide Bogenschützen inne, als hätten sie ein Ziel gefunden. Sardrowain versuchte abzuschätzen, ob die Flugbahn der Pfeile direkt auf ihn zuführte. Aber das war von hier aus unmöglich zu sehen. Nichts geschah einen langen Moment lang. Der Meister hörte das Rauschen des Windes und das nervöse, blutdürstige Schnaufen der Gorgoils. Dann schoss der Bogenschütze.

Sardrowain warf sich zur Seite und rollte sich auf dem weichen Schnee ab. Der Pfeil des Schützen verfehlte ihn um mehrere Mannslängen. Der des Weißhaarigen dagegen - nur einen Wimpernschlag später abgeschossen - traf sein Ziel.

Andrar hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Sol’ywen-Bäume waren ihm nicht fremd. Er hatte an der Akademie gelernt, wie sie aussahen, und was ihre Wurzeln vermochten. Die violetten Blätter nahmen das Licht auf - fast ebenso wie die Haut der Elvan jal’Iniai. Aber statt es sofort in Kraft umzusetzen, speicherten sie es über Jahre hinweg in ihren Wurzeln. Kundige Meister waren in der Lage, dies zu nutzen und ihre Zauber umso mächtiger zu machen. Andrar erinnerte sich an einen Vormittag in den Anfangsjahren seiner Ausbildung. Ein Meister hatte eine aus der Sol’ywen-Wurzel geformte Kugel in das Innere einer massiven Holzkiste gesteckt, diese fest verschlossen und in der Erde vergraben. Er sprach ein paar Worte und sofort stach eine Säule aus Feuer und Licht in den Himmel. Die Hitze, die davon ausging, war so groß, dass selbst der Umhang eines anderen Lehrmeisters entflammte, der dem Geschehen zu nahe gekommen war. Von der Kiste war nichts übrig geblieben. Im Boden klaffte ein gewaltiger Krater.

Andrar wusste seitdem, warum die Sol’ywen-Wurzel in San’tweyna so begehrt war und warum es im Land hinter der Mauer immer schwerer wurde, sie zu bekommen. Hier dagegen, in der Wildnis standen die Bäume noch dicht an dicht. Hier würde der Schwertführer nur graben müssen, um sie zu bekommen.

Aber er würde es schnell tun müssen. Der Meister verlangte mindestens zehn große Wurzeln. Andrar fühlte sich nun ein wenig sicherer, nachdem er sein Pferd wieder in seiner Nähe wusste. Er war erleichtert gewesen, als er es ohne große Mühe wiedergefunden hatte. Und auch den Schimmel des Meisters hatte er bei sich - mehr oder weniger. So eigenwillig war er wie sein Besitzer. Er gehorchte nicht auf Andrars Befehl, ließ sich schon gar nicht am Zügel nehmen. Aber er folgte ihm in einigem Abstand, als wäre das mit Sardrowain so besprochen gewesen. Und er schien ihn argwöhnisch zu beobachten.

Die Gorgoils. Hatten sie die Jagd auf den Meister und ihn bereits eröffnet? Sardrowain, dieser Mistkerl, hatte einen Sturm entfesselt. Es schien, als sehne sich der alte Mann geradezu nach einem Krieg, dachte Andrar und rammte den spitzen, schweren Stein immer wieder in den harten Boden.

Der silberne Pfeil des Weißhaarigen hatte seine linke Schulter durchbohrt. Die Schmerzen lähmten Sardrowain für einen langen Augenblick, ließen den Zauber, der ihn unsichtbar machte, vergehen. Aber bald gewann sein Geist wieder die Oberhand und er warf sich hinter den mächtigen Stamm eines alten Baumes. Keinen Atemzug später fuhr ein weiterer Pfeil mit Wucht in das feste Holz seiner Deckung. Er schloss die Augen, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm, versuchte das brennende Pochen in seiner Schulter aus seinem Bewusstsein auszuschließen. Mit Erleichterung nahm er wahr, dass ihm seine Arme und Hände noch gehorchten. Er verlor keine Zeit. Aus einer verborgenen Tasche an der Außenseite seiner Hose holte er vier Bolzen und lud seine Armbrüste damit. Erst jetzt wagte er einen schnellen Blick in Richtung seiner Feinde. Sofort jagten ihm zwei weiter Pfeile entgegen. Einer schlug in den Schnee. Der andere prallte vom Baum ab und verschwand im Dickicht eines Busches. Sie waren noch da, aber sie kamen nicht näher. Der Erfolg ihrer Begegnung war ihnen wichtiger als der Tod des unsichtbaren Angreifers, vermutete Sardrowain. Aber mochte es sein, wie es war. Er hatte immerhin gezeigt, dass die Herrscher Lysin’Gwendains noch da waren, dass sie zuschlagen würden, wenn man sie herausforderte. Das war alles, was zählte. Und der Meister erkannte, dass seine eigentliche Mission nun keinen Aufschub mehr duldete. Etwas geschah in der anderen Welt. Und er musste dafür Sorge tragen, dass es seinem Volk von Nutzen war. Und wenn nicht, dann würde er es stoppen müssen. Er lehnte sich ein Stück zur Seite und schob seine Waffen dicht am Stamm entlang. Als sie gerade so weit um den Baum herumreichten, dass sie freies Schussfeld hatten, zog er den Abzug durch. Die vier Bolzen schossen ungezielt in die grobe Richtung, in der die überlebenden Gorgoils und Abtrünnigen standen. Ein schrilles Brüllen sagte ihm, dass wenigstens einer ein Ziel getroffen hatte. Er lud seine Waffen abermals nach. Diesmal zitterte sein linker Arm so stark, dass ihm zweimal ein Bolzen entglitt und in den Schnee fiel. Keuchend brachte er die Armbrüste schließlich in Anschlag und spähte um den Baum herum. Aber da war niemand mehr. Sie waren weg. Sardrowain atmete erleichtert durch. Dann musste er husten. Eine Böe hatte ihm den grauen Staub der Vergangenen ins Gesicht geweht.

Der Meister hatte es ihm nicht gesagt, aber Andrar wusste, dass es jener Hügelkamm war, auf dem sich der Übergang in die andere Welt befinden musste. Warum sonst hätte Sardrowain ihm befohlen, ausgerechnet hier auf ihn zu warten? Dieser Ort war weithin sichtbar und leicht aus dem Verborgenen des angrenzenden Waldlands heraus anzugreifen. Zumindest drohte vom Osten und Süden her keine Gefahr. In der Eiswüste dort waren mögliche Angreifer über viele hundert Pferdelängen hinweg ungeschützt und leicht zu erkennen. Es waren die dunklen Bäume, die dem Schwertführer Sorge bereiten. Er hielt die Zügel kurz, sodass sein Pferd dicht bei ihm stehen musste, während er hinter einem eiförmigen Felsen kauerte und angestrengt ins Dickicht starrte. Und doch verbarg der Stein ihn nur notdürftig, von dem Braunen gar nicht erst zu reden. Und Sardrowains Schimmel gehorchte ohnehin nicht seinem Befehl. Ungeduldig umkreiste das Tier die Anhöhe, als würde das irgendetwas bringen.

Andrar hatte getan, was der Meister von ihm verlangt hatte. 13 riesige Sol’ywen-Wurzeln steckten nun in seiner Satteltasche. Seine Unterarme schmerzten von der Buddelei, seine Hände waren schwarz vor Dreck. Andrar hoffte, dass all das nicht umsonst geschehen war. Dass der Meister bald zu ihm stoßen würde, und sie diesem Ort würden entfliehen können.

Daran, was er tun würde, wenn Sardrowain schon tot war, wagte er gar nicht zu denken. Er griff in die Innentasche seines vom Kampf zerschlissenen Umhangs und holte eine getrocknete Zerdrak-Frucht hervor. Er biss ein großes Stück ab und kaute darauf herum. Zweifel keimten in ihm auf. War dies der richtige Hügel, auf dem er wartete? Aber die Wegbeschreibung des Meisters war eindeutig gewesen. Er war hier richtig. Es war Sardrowain, der so lange nicht kam. Zu lange. Oder war das vielleicht wieder einer seiner hinterhältigen Tricks, mit denen er den Schwertführer prüfen oder demütigen wollte? Verdammt! Als wäre das alles nur ein Spiel.

Ein Rascheln ließ ihn zusammenfahren. Der Schimmel wieherte nervös. Andrar legte die Zerdrak-Frucht auf den Felsen und umklammerte die Zügelschlaufe ein wenig fester - bereit, sich in den Sattel seines Braunen zu schwingen und zu fliehen. Das war nicht der Ort für Heldenmut. Es gab hier nichts, für das es sich zu kämpfen lohnte. Und für den zynischen, alten Meister würde er gewiss nicht sein Leben geben.

Zwei Blaukopf-Vögel stoben aus der Krone eines Baumes, drehten noch eine ungläubige Runde über dem Dickicht und flogen dann rasch davon. Der Schwertführer hörte das Krachen von Ästen. Andrar entspannte sich. Wer auch immer da kam, stellte sich entweder selten blöd an, oder ihm war nicht daran gelegen, unentdeckt zu bleiben.

„Seid Ihr das, Meister?“, rief er und ärgerte sich gleich darauf über diese unüberlegte Frage. Ein Feind würde wohl kaum darauf antworten und Sardrowain offenbarte sie doch nur wieder seine Unerfahrenheit. Als der Meister schließlich aus dem Wald kam, blieben hämische Bemerkungen allerdings aus. Dass er auf diese Gelegenheit diesmal verzichtete, war gewiss allein dem erbärmlichen Zustand geschuldet, in dem er sich befand, vermutete der Schwertmeister. Sardrowain konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Ein großer, silberner Pfeil steckte in seiner linken Schulter. Die Spitze ragte ein gutes Stück aus seinem Körper heraus. Das Blut, mit dem ein großer Teil seines Mantels durchtränkt war, bildete einen scharfen Kontrast zum sonst makellosen Weiß seiner Kleidung. Das Gesicht des Meisters war leichenblass. Er schwitzte und zitterte - offenbar außerstande, einen Schutzzauber zu wirken. Andrar lief ihm entgegen, ergriff seinen heilen Arm und führte Sardrowain die letzten Mannslängen hinauf auf den Hügelkamm. Dort ging der Meister augenblicklich auf die Knie, stützte sich mit der rechten Hand am Boden ab. In dieser grotesken Haltung verharrte er.

„Leider …“, keuchte er. „Leider sind mir ein paar von ihnen entkommen.“

Andrar lachte laut auf. Er konnte nicht anders. Was musste eigentlich geschehen, damit diesem Mistkerl die Hochnäsigkeit verloren ging? Er zog sein Schwert und holte aus.

„Ihr haltet jetzt besser still, Meister!“

Sardrowain sah ihn entsetzt an.

„Wollt Ihr …?“

„ … die Spitze des Pfeils abschlagen“, ergänzte der Schwertführer. „Wie sonst könnte ich ihn herausziehen?“

Ohne weitere Vorwarnung schlug er zu. Sardrowain stöhnte. Dann hob er mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand.

„Schluss damit Schwertführer! Lasst den Rest des Pfeils stecken. Sonst verblute ich, bevor wir die andere Welt erreicht haben.“

Andrar sah ihn erstaunt an.

„Ihr seht nicht so aus, als könnte Ihr in diesem Zustand einen machtvollen Zauber wirken. Und ich kann den Übergang nicht öffnen.“

Sardrowain stöhnte abermals. Dann sah er den Schwertführer eindringlich an.

„Das habe ich auch nicht ernsthaft erwartet. Aber lasst uns bitte weitere Diskussionen über die Qualität der Akademie, an der Ihr gelernt habt, auf später verschieben. Es ist nicht schwer, den Übergang zu öffnen, wenn man weiß, was zu tun ist. Beide Welten sind von Kraftlinien durchdrungen. Überall dort, wo sie sich kreuzen, kann man sie dazu nutzen. Hättet ihr ein wenig Zeit in den grünen Gewölben der Bibliothek von San’tweyna verbracht, dann wüsstet Ihr das.“

„Die grünen Gewölbe sind uns verboten.“

„Weil sich dort die Wahrheit verbirgt, Schwertführer. Aber nun helft mir auf. Es ist den Gorgoils gewiss ein Leichtes, meiner Spur zu folgen. Ich fürchte, sie werden sich eher früher als später an uns rächen wollen. Besser, wir sind weg, wenn sie hier ankommen.“

Polizeihauptmeister Erwin Kolpp hatte in zwei Stunden Dienstschluss. Und er freute sich bereits auf ein kühles Bier, das er sich auf dem Sofa vor dem Fernseher genehmigen wollte, während die 05er der Eintracht ordentlich auf die Mütze gaben. Es war mal wieder Zeit für einen Sieg der Mainzer über Frankfurt und Kolpp hatte das gute Gefühl, dass es heute Abend so weit sein würde. Worüber er sich nicht freute, war, dass er die Wache jetzt nochmal verlassen musste - für nichts und wieder nichts. Das war jetzt schon klar. Kolpp wusste, wann ein Einsatz für die Füße war. Das sagte ihm seine Erfahrung. Aber er wusste auch, dass er den Anruf nicht einfach ignorieren konnte.

„Sie halten mich jetzt wahrscheinlich für völlig verrückt“, hatte der entgeisterte Mann am Telefon gesagt.

„Ach wo. Bleiben Sie einfach, wo sie sind, und warten Sie auf mich. Es ist bald Fastnacht. Das erklärt zurzeit so Einiges.“

„Fastnacht? Haben Sie mir eigentlich richtig zugehört? Das waren keine bunt kostümierten Saufbrüder, die ich da gesehen habe. Da war plötzlich eine dunkelrote Waberwolke, die sich aus dem Nichts gebildet hatte. Und - puff - noch ehe ich mich richtig darüber wundern konnte, sind zwei sehr merkwürdige Gestalten herausgeritten. Mutierte in mittelalterlichen Klamotten. Der eine hat ziemlich heftig geblutet. Mit Fastnacht hat das nichts zu tun. Und, um auch das klar zu sagen: Ich trinke keinen Alkohol! Ich bin Wanderer, und zwar ein kerngesunder.“

Der Mann hatte daraufhin einfach aufgelegt. Aber das machte keinen Unterschied. Formal war es ein Notruf. Und auch, wenn sich Kolpp sicher war, dass hier irgendein harmloser Unsinn im Gange war, musste er nach dem Rechten sehen. Es war seine Pflicht. Am besten gleich, sonst würde er es zum Anpfiff nicht mehr schaffen.

Die Abendsonne gab den Weinbergen ein mildes, orangefarbenes Licht. Die Reben waren noch kahl, wellten sich wie sorgsam ausgelegte Bänder über die sanften Hügel und durch schattige Täler - unterbrochen hier und da durch ein kleines Wäldchen oder einen alten Turm, von dem aus man die Aussicht genießen konnte. Kolpp mochte es, in Rheinhessen auf dem Land Dienst zu tun - fernab vom Trubel der Städte, ihren Banden, Besoffenen, Drogenhändlern und Zuhältern. Hier gab es so etwas nicht. Nur Wanderer, die vermutlich ihre Kräfte überschätzt hatten und am Ende des Tages Dinge sahen, die es gar nicht gab, dachte der Polizeihauptmeister mit einem bitteren Grinsen.

Es war warm und Kolpp öffnete das Fenster einen Spalt breit. Eine angenehme Brise wehte ins Innere seines Einsatzwagens, als er zügig, gerade so im Rahmen des Tempolimits die Landstraße entlangfuhr. Kolpp verzichtete darauf, das Martinshorn einzuschalten. Er hätte es tun können. Immerhin war ihm rein formal ein Schwerverletzter gemeldet worden - und so was wie eine Explosion. Aber daran glaubte er nicht wirklich. Und wegen ein paar maskierter Witzbolde, die einen Wanderer aufgeschreckt hatten, wollte er die Ruhe dieses wunderbaren Tages nicht stören. Etwa zweihundert Meter nach der Ortsausfahrt bog er links ab in einen schmalen Flurweg. Er durchquerte einen kleinen Wald, passierte einen Aussiedlerhof und erreichte schließlich eine geteerte Weinbergsstraße, die kaum breiter war als der Weg, den er kurz davor entlanggerumpelt war. Normalerweise fuhren hier nur Traktoren und Erntewägen. Sonst wurde die Straße gerne von Spaziergängern genutzt. Einer kam ihm gerade entgegen - mit gesenktem Haupt und fahrigem Blick. Der Mann war Ende 50, hatte aber unter seinem albernen Tirolerhut eine gesunde Hautfarbe. Er sah weder besoffen noch verwirrt aus, nur ängstlich.

„Da sind sie ja“, sagte Kolpp gelassen, nachdem er seinen Wagen neben dem Spaziergänger zum Halten gebracht hatte.

„Wie meinen Sie das? Ich hab die Polizei nicht ... nein, das war ich nicht“, stammelte der Mann.

„Machen Sie sich nichts draus. Ich bin ja schon dabei, herauszufinden, was da oben los ist. Auch, wenn es am Ende nur ein blöder Scherz ist, war es richtig, dass Sie angerufen haben.“

„Ach ja? Na gut.“ Er drehte sich um und zeigte mit zitternder Hand in die Richtung, aus der er gekommen war. „Da lang. Nach 500 Metern links. Die beiden Kerle haben sich irgendwo zwischen den Reben versteckt. Sind mit ihren Pferden aber leicht zu erkennen. Mein Gott. Ich hab so was noch nie gesehen. Wollen Sie nicht Verstärkung rufen? Die Bundeswehr, oder so?“

„Vielen Dank für ihre Hilfe“, schmunzelte Kolpp, schaltete sicherheitshalber das Blaulicht ein und gab Gas. Das würde nicht lange dauern. Da war er sich sicher.

„Ihr hättet den Menschling töten sollen, Schwertführer. Er hat uns gesehen“, stöhnte Sardrowain und zeigte mit zitternder Hand auf einen brummenden, kastigen Wagen, der sich, ohne von Pferden gezogen zu werden, stetig auf sie zubewegte. Auf dem metallenen Dach des Wagens war ein Licht, das beständig blaue Blitze in alle Richtungen aussandte.

„Dieses Ding kommt hier nicht zufällig vorbei.“ Der erschöpfte Meister ließ sich wieder auf den moosgrünen Boden sinken. Seine Wunde blutete noch immer, tränkte die Erde rund um den Ort, an dem sie die andere Welt betreten hatten. Der Meister war am Ende seiner Kräfte. An Flucht war nicht zu denken. Andrar allein würde dem seltsamen Wagen möglicherweise entkommen können. Aber an so etwas Unehrenhaftes wollte er gar nicht erst denken. Wie auch hätte er die Aufgabe, die ihnen die großen Adro’wiai aufgetragen hatten, alleine erfüllen können? Und deshalb wartete er, bis sie der Wagen schließlich erreicht hatte.

Ein hagerer Menschling stieg langsam aus. Er wirkte zunächst gelassen. Das änderte sich aber schnell, nachdem er ein paar Schritte auf sie zu gemacht und sie näher betrachtet hatten. Der Menschling blieb abrupt stehen und starrte sie eine Weile lang aus ungläubigen Augen an. Dann sagte er mit fahriger Stimme etwas in ein kleines Kästchen, in einer Sprache, die Andrar völlig fremd war. Er lief weiter auf sie zu, die eine Hand am Gürtel, die andere beschwichtigend erhoben. Der Menschling trug keine Waffen, zumindest keine, die Andrar bekannt waren. Der Schwertführer hätte ihn für mutig gehalten, aber es war kein Mut, was den Mann antrieb. Der Mann tat seine Pflicht. Er war jemand, der einer Sache diente. Und gegen eben dieses Pflichtgefühl kämpfte die Furcht gerade einen aussichtslosen Kampf. Andrar kannte Männer wie ihn. In San’tweyna gab es so viele davon. Soldaten, Wachleute, Staatsdiener.

Wieder sprach der Menschling in seiner harten Sprache und versuchte den Worten, die er diesmal an sie richtete, Autorität zu geben. Sein Blick hatte beinahe etwas Vorwurfsvolles.

„Wir sind Reisende aus Lysin’Gwendain“, antwortete Andrar, in der Hoffnung, der friedfertige Klang seiner albischen Worte mochte den Menschling beruhigen - auch wenn er sie vermutlich nicht verstand. Andrar kniete noch immer neben Sardrowain, dem der Übergang in die andere Welt die letzten Kräfte geraubt hatte, und dem es nun nicht mehr gelang, aufzustehen.

„Wir kommen in Frieden und erbitten Euren Schutz.“

Der Mann stutzte. Sein Mund stand offen, während er die beiden Elvan jal’Iniai musterte. Was er sah, machte ihm Angst. Das war offensichtlich. Möglicherweise hatte er noch niemals Männer aus Lysin’Gwendain gesehen, vermutete Andrar. Oder war es, weil sie Schwerter und Armbrüste trugen? Der Menschling öffnete eine kleine Tasche, die er an seinen Gürtel geschnallt hatte, und tastete nach dem Griff eines schwarzen Gegenstands. Wieder sagte er etwas. Dann fuhr ein Bolzen in seine Brust, mit solcher Wucht, dass er fast im gleichen Moment rücklings in den Staub stürzte. Andrar hörte, wie die Atemluft seine Lunge verließ und nicht wieder zurückkehrte.

„Bei den Gründern der Welt! Warum habt Ihr das getan?“, herrschte er den Meister an.

Der Schwertführer zog die Armbrust unter dem zusammengesunkenen Körper Sardrowains hervor und warf sie von sich. Verdammt. Wie hatte er auch annehmen können, dass ein Pfeil und eine blutende Wunde diesen Wahnsinnigen vom Töten abhalten würden. Der Meister antwortet mit einem langgezogenen Stöhnen.

„Ich habe es für Euch getan, Schwertführer. Und für unseren Auftrag. Dieser Menschling musste sterben.“

Seine Stimme klang schwach. Ohne Hilfe würde der Meister die Nacht nicht überleben, dachte Andrar. Und ein Teil von ihm begrüßte das. Ein anderer fragte sich, ob er es ohne ihn jemals in seine Welt zurückschaffen könnte. In ohnmächtigem Zorn sah er zu dem leblosen Körper. Die Augen des Menschlings standen offen. Und doch ...

„Ist noch Leben in ihm?“, fragte Andrar verwundert.

Sardrowain presste ein gequältes Lachen hervor.

„Er ist vergangen. Mein Bolzen traf sein Herz. Euch stört, dass sein Körper im Tod nicht zu Staub zerfällt? Nun, dann ist das wohl die erste Lektion, die Ihr über diese Welt lernt, Andrar. Menschlinge sind keine Wesen des Lichts. Wie die Tiere, so hat auch sie die Natur geschaffen. Anders als bei uns und den Gorgoils ist es nicht die Kraft eines Zaubers, der ihre Körper zusammenhält.“

„Ihr redet wirr, Meister“, protestierte der Schwertführer.

„Lasst uns diesen akademischen Diskurs ein andermal beenden, Andrar. Ihr müsst nun gehen. Lasst die Pferde zurück, nehmt die Sol’ywen-Wurzeln und das Gold, das ich in meiner Satteltasche habe. Wenn stimmt, was in den Schriften des grünen Gewölbes steht, dann ist es hier äußerst wertvoll. Und dann verbergt Euch und studiert diese Welt genau.“

„Ich soll Euch zum Sterben zurücklassen?“

Wieder lachte Sardrowain.

„Den Gefallen zu sterben werde ich Euch nicht tun, Schwertführer. Aber auch, wenn es mir nicht gefällt. Meine Wunde ist für eine Flucht zu schwer. Ich muss ruhen, um sie zu heilen.“

„Es werden andere Menschlinge kommen.“

„Und mich finden. Dann werden sie wenigstens nicht nach Euch und den Wurzeln suchen. Und nun macht Euch unsichtbar, Schwertführer! So unsichtbar, wie es die unzulängliche Ausbildung, die Ihr genossen habt, eben zulässt. Wenn mich mein Glück nicht verlassen hat, dann werden wir uns schon bald wiedersehen.“

Lichtsturm II

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