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Der Gefangene

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Maus schob den virtuellen Regler auf dem Monitor etwa einen halben Zentimeter nach rechts. Die ersten Minuten der Talkshow - die Begrüßung - wollte er ums Verrecken nicht sehen. Er hatte keine Lust, die Moderatorin länger zu ertragen als unbedingt nötig. Sie war ihm gänzlich unsympathisch. Ihr Kopf war so quadratisch, als hätte ihn jemand in eine Schrottpresse gesteckt. Maus wusste natürlich, dass sie dafür nichts konnte. Bei anderen Menschen hätte er den Quadratkopf vermutlich sogar liebenswert oder wenigstens lustig gefunden. Aber nicht bei ihr. Sie war so abgrundtief arrogant. Dieser intensive Blick! Dazu ein Lächeln, das Maus nur als unendlich herablassend interpretieren konnte. Kein Wunder, dass ihre Show dafür bekannt war, dass sich die Gäste regelmäßig und ordentlich zofften. Schon der bloße Anblick dieser Frau machte aggressiv. Und Maus hätte sich die Sendung garantiert nicht aus der Mediathek geholt, wenn sie ihm seine Freundin Viktoria nicht ans Herz gelegt hätte. Na gut, wenn er ehrlich war, hatte sie ihm die Show nicht wirklich ans Herz gelegt, sondern ihn sogar davor gewarnt.

„Schau dir den Dreck bloß nicht an, Dicker. Wenn du dich nicht ärgern willst.“ Das waren ihre Worte. Und etwas Besseres hätte sie kaum sagen können, um seine Neugier zu wecken.

Jetzt saß er im „Verlies“ der Elvan-Stiftung, einem kleinen dunklen, mit Servern und Tastaturen vollgepackten Raum, und starrte auf einen der vier übergroßen Bildschirme.

„Herr Helmsiefer, ich fasse das mal zusammen. Seit Sie Bundestagsabgeordneter sind, machen Sie sich abwechselnd für die Rechte Homosexueller, alleinerziehender Mütter, Drogensüchtiger und psychisch Depressiver stark. Habe ich eine grob benachteiligte Minderheit vergessen?“

„Ja, da war noch ...“, versuchte der leicht dickliche Mann mit den langen, krausen Haaren und dem angegrauten Rauschebart einzuwerfen, aber gegen den ätzenden Charme der Moderatorin hatte er keine Chance.

„Doch für die Mutierten haben Sie nichts übrig? Warum eigentlich nicht?“

„Ich ziehe die Bezeichnung ‚Veränderte‘ vor.“

„Was passt Ihnen an denen nicht?“

„Aber ich habe doch überhaupt nichts gegen diese Menschen. Ich respektiere sie. Ich sehe sie nur nicht als benachteiligte Minderheit an. Sie sind anders als wir, aber ganz sicher nicht schwächer. Sie brauchen meine Hilfe nicht, glauben Sie mir.“

Ein Mann in Hornbrille und dunklem Anzug lachte auf und blickte mit inszenierter Fassungslosigkeit gen Himmel.

„Ich freu mich ja schon fast, dass Sie heute wenigstens nicht mehr davon sprechen, dass die Mutierten unter das Anti-Diskriminierungsgesetz fallen müssten. Ich erinnere mich, dass Sie vor drei Wochen im Bundestag noch etwas ganz anderes gesagt haben.“

„Vielleicht haben Sie mir da nur nicht genau zugehört, Herr Dr. Adler“, protestierte Helmsiefer.

„Wie auch immer. Ich bin dankbar, dass Sie heute einen großen Schritt weiter sind als damals. Immerhin.“

Die quadratische Moderatorin hob theatralisch die Hand, beugte sich zu Dr. Adler vor und fragte eindringlich: „Für Sie und viele in Ihrer Partei nicht weit genug. Man hat den Eindruck, dass Sie die Mutierten oder … ‚Veränderten‘ als Bedrohung begreifen. Sind Sie das?“

„Ach bitte. Bedrohung ist ein bisschen stark. Mag sein, dass das manche so sehen ...“

„Und Sie?“, hakte die Moderatorin selbstgefällig nach.

„Ich bin da sehr für ein bisschen mehr Gelassenheit. Viele tun ja so, als wären die Grundfeste unseres christlichen Abendlandes erschüttert, weil wir hier ein paar hundert Menschen haben, die ein paar Dinge besser können als wir Normalsterbliche. Deshalb muss nicht gleich der Notstand ausgerufen werden. Ich sage nur, dass wir sorgfältig abwägen müssen, ob für diese Mutierten - oder wie auch immer wir sie nennen wollen - die gleichen rechtlichen Bedingungen gegeben sind wie für die normalen Bürger.“

„Wie bitte meinen Sie das denn, Herr Dr. Adler? Demokratie für alle, nur nicht für die, die anders sind?“, empörte sich Helmsiefer. Sein Bart vibrierte.

„Der Gleichheitsgrundsatz ist in der Tat eine eherne Säule unserer Demokratie, geschätzter Kollege. Nur haben wir es hier mit Leuten zu tun, die gleicher sind als andere.“

Er hob die Hände und kicherte als Einziger über seinen müden Witz.

„Was ich damit sagen will: Unser Grundgesetz ist für Menschen wie du und ich geschrieben, nicht für Leute, die uns in fast allem mühelos ausstechen können und daher deutlich bevorteilt sind. Bei der Tour de France sind schließlich auch keine Autos zugelassen.“

Vor Maus‘ geistiges Auge drängten sich Bilder einer sehr denkwürdigen Radtour, die Ben, Viktoria und er vor wenigen Wochen im Chiemgau gemacht hatten. Scheiße! Wie konnte er das auch vergessen? Zwei Killer auf Motorrädern hatten sie angegriffen und Viktoria fast getötet. Ben hatte den Kerlen die Hammelbeine langgezogen und einen von ihnen sogar in die ewigen Jagdgründe befördert - als wäre das nichts gewesen. Und danach war er auf dem Fahrrad fast so schnell unterwegs gewesen wie er und Viktoria auf dem erbeuteten Motorrad. Aus Ben, dem nörgelnden Miesepeter, war urplötzlich eine Art Superfreak geworden. Ein Albe, wie Maus inzwischen wusste. Ben gehörte zu den Nachfahren dreier Keltenkrieger. Geysbin, der Ober-Albe der Bergfestung Galandwyn hatte ihnen vor zwei Jahrtausenden einen Zauber eingepflanzt, der jetzt dazu führte, dass sich Menschen einfach so in spitzohrige Kraftprotze verwandelten. Gut gemeint von dem alten Geysbin, dem Großmeister des Lichts, der damit nur sein Volk retten wollte. Hat allerdings nicht ganz so funktioniert wie geplant.

Diese abgefahrene Geschichte beschäftigte Maus‘ ebenso analytisches wie rollenspielerprobtes Nerd-Gehirn nachhaltig. Bisher hatte er Realität und Fantasie immer ganz gerne auseinandergehalten. In dem Fall lagen die Dinge etwas heftiger. Die Geschichte war einfach hammermäßig schräg. Zu schräg, um sie Leuten wie der arroganten Moderatorin oder den nervigen Politikern der Talkrunde zu verklickern. Was würden die wohl daraus machen? Vermutlich zur Generalmobilmachung aufrufen, dachte Maus und gruselte sich.

„‘Leute, die uns alle mühelos ausstechen können‘ ist eine interessante Umschreibung für ...“ Die Moderatorin machte eine künstliche Pause. „Ja, für was eigentlich. Herr Prof. Senker? Sie haben am Franziskus-Spital in Innsbruck einen der ersten bekannten Fälle behandelt. Den eines Automechanikers, der sich innerhalb weniger Tage verwandelt hat. Womit haben wir es hier eigentlich zu tun. Mit einem Virus?“

Ein drahtiger Mann in den Fünfzigern schüttelte energisch seine volle grau-schwarze Tolle, die ihm daraufhin in die Stirn fiel. Er strich sie beiseite, bevor er antwortete.

„Wir sind anfangs davon ausgegangen, dass ein bisher unbekanntes Virus bei Menschen mit besonderen genetischen Veranlagungen die Verwandlung ausgelöst haben könnte. Aber dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Richtig ist, dass alle bisher untersuchten Mutierten - und ich meine das Wort nicht abwertend - in ihrem genetischen Code Abweichungen aufweisen, die uns Rätsel aufgeben. Wir wissen darüber hinaus aber einfach noch nicht, was genau da passiert ist. Ansteckend, um ein weiteres Gerücht auszuräumen, ist das aber nicht. Dagegen spricht auch, dass über die etwa 500 bekannten Fälle hinaus in den vergangenen Wochen keine neuen dazugekommen sind. Es scheint ein singuläres Ereignis gewesen zu sein.“

„Ein singuläres Ereignis, Herr Professor? Was erzählen Sie denn da? Warum sagen Sie denn nicht einfach, dass die Wissenschaft hier versagt hat, versagen musste. Denn, was wir gerade erleben, ist mit konventionellen Maßstäben nun mal nicht zu messen.“

Und damit hatte sich auch der vierte und letzte Gast der Talkrunde zu Wort gemeldet, ein Kerl mit wachen Augen und Halbglatze. Er hatte dem bisherigen Verlauf der Diskussion mit sichtbarer Ungeduld verfolgt. Jetzt, da sich die quadratische Moderatorin endlich ihm zuwandte, war der Zeitpunkt gekommen, da auch er seine wilden Thesen absondern konnte.

„Frank Bartold, in Ihrem Buch ‚Zeit der Mutanten‘ sagen Sie eine Welt voraus, in der wir normale Menschen nur noch ein Leben als Dienende fristen werden. In der die Mutierten quasi schleichend die Macht an sich reißen. Ist das wirklich Ihr Ernst?“

Was für eine Ratte! Maus kannte den Kerl. Frank Bartold, im Web auch als ‚newsman68‘ bekannt, war ein Journalist, der für eine gute Geschichte sogar seiner Großmutter den linken Arm auskugeln würde. Wobei er mit ‚gute Geschichte‘ eine meinte, die er gut verkaufen konnte. Er war ein Opportunist mit einem verdammt flexiblen Verhältnis zur Moral. Maus erinnerte sich an das Interview, das er mit Viktoria und Maus gemacht hatte - als die Welt noch halbwegs normal und Ben noch ein waschechter Mensch war. Sie gehörten zur Web-Aktivistengruppe Liix und traten Betrügern und Lügnern in den Arsch. Sie entlarvten sie und stellten sie im Internet an den Pranger. Frank fand das cool, brachte die Geschichte und verhalf Liix zu einem gewissen Ruhm. Aber bevor sie richtig durchstarten konnten, bekam Ben plötzlich spitze Ohren und sie hatten andere Sorgen. Mit Frank war die Zusammenarbeit schnell vorbei. Jetzt hatte sich der Schleimbeutel offenbar eine andere Einnahmequelle gesucht und ein Buch geschrieben - ausgerechnet über die Verwandelten.

„Ob das mein Ernst ist? Ich bitte Sie! Wann in der Weltgeschichte hat es jemand nicht ausgenutzt, wenn er einen Vorteil gegenüber anderen hatte? Die Mächtigen beherrschen die Machtlosen. Die technisch entwickelten Völker bestimmen über die unterentwickelten. Die Starken schlagen die Schwachen. Das ist übrigens ganz banal auch in der Tierwelt so. Warum sollte sich der Löwe in die Steppe setzen und sich geduldig die Sorgen der Gazelle anhören? Er frisst sie. So einfach ist das.“

„Was soll denn diese Panikmache?“, polterte Adler. „Wir haben es mit ein paar hundert mutierten Mitbürgern zu tun, nicht mit einer Invasionsarmee. Natürlich müssen wir das beobachten und nötigenfalls reagieren, aber mit Augenmaß und Besonnenheit. Ich denke da zum Beispiel an eine Meldepflicht für Mutierte. Dann haben wir zumindest einen Überblick.“

„Sie sprechen von mutierten Mitbürgern, Herr Dr. Adler“, schaltete sich die Moderatorin ein. „Herr Helmsiefer von Veränderten. Ich stelle die Frage noch einmal frei heraus: Haben wir es hier überhaupt noch mit Menschen zu tun?“

„Aber natürlich“, antwortete Prof. Senker etwas genervt. „Timo Hemander, mein Patient, führte 28 Jahre lang ein ganz normales Leben, bevor ihm die Mutation widerfuhr. Er hat sich das nicht ausgesucht. Es ist ihm einfach passiert. Und wir wissen ja noch gar nicht, welchen medizinischen Verlauf das alles noch nimmt. Ich muss da schon ein bisschen schmunzeln, wenn manche hier das Grundgesetz ändern wollen oder vor einer Invasion oder einem Staatsstreich warnen. Für mich sind das Menschen, die möglicherweise ein Problem haben. Denen wir helfen müssen. Und ich sehe es als meine Pflicht als Arzt und Wissenschaftler an, der Sache auf den Grund zu gehen.“

„Ich kann und will Ihnen da ja gar nichts vorwerfen“, nölte Frank und sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er eigentlich etwas anderes meinte. „Forschen Sie bitte weiter! Vielleicht kommen Sie ja eines Tages hinter das Geheimnis. Aber bitte tun sie es nicht als Firlefanz ab, wenn Leute wie ich Angst haben. Da gibt es plötzlich eine große Gruppe spitzohriger, helläugiger Wesen, die uns in fast allem haushoch überlegen zu sein scheinen, und niemand hat eine Erklärung dafür. Ein Virus schließen Sie aus, Herr Professor, eine natürliche evolutionäre Entwicklung sowieso. Und im Moment sieht es so aus, als könnten wir nicht einmal das Militär dafür verantwortlich machen.“

„Warum nicht?“, schoss die Moderatorin dazwischen, die Frank offensichtlich übelnahm, dass er dieses Thema vor ihr angesprochen hatte.

„Weil es zwischen den einzelnen Verwandlungen nicht den geringsten Zusammenhang gibt. Wir haben zwar in Deutschland ein paar mehr als anderswo, aber das war es auch. Es gibt fast überall auf der Welt Mutanten.“

„In der westlichen Welt“, berichtigte ihn Prof. Senker. „Betroffen sind ausschließlich Weiße, also Menschen, die zumindest mal ihre Wurzeln in Europa haben. Aber ich stimme Ihnen ausnahmsweise zu: Irgendwelche Gen-Versuche in versteckten Labors halte auch ich für ausgeschlossen.“

„Dann bleibt ja wohl nicht mehr viel übrig, oder?“, blaffte Frank triumphierend.

„Worauf läuft das hinaus?“, wollte Helmsiefer jetzt wissen. „Ich habe Ihr Buch nicht gelesen und werde es ganz sicher auch nicht tun. Aber ich hab das blöde Gefühl, Sie kommen jetzt mit irgendwelchen Außerirdischen oder Fantasiewesen um die Ecke, oder?“

Frank hob abwehrend die Hände. „Und warum nicht? Wenn wir die plausiblen Möglichkeiten ausgeschlossen haben, sollten wir uns dann nicht den weniger naheliegenden zuwenden? Vielleicht haben sich diese Leute ja nicht zufällig alle fast zur gleichen Zeit verwandelt - in etwas, das den Vulkaniern in Star Trek oder den Elben in Herr der Ringe ziemlich nahekommt. Aber lassen wir Hollywood beiseite. Lesen Sie doch mal in den Mythologien vieler Völker nach. Hoppla! Engel, Elfen, Alben, Geister, Dämonen. Und meistens führen diese Wesen darin nichts Gutes im Schilde. Vielleicht ist da etwas zum Leben erwacht, das wir nicht für echt halten, weil wir es Jahrhunderte lang verdrängt haben.“

„Oh bitte, das ist doch jetzt kindisch. Wollen wir tatsächlich auf diesem Niveau weiter diskutieren“, schimpfte Dr. Adler und Prof. Senker schüttelte den Kopf.

„Nein“, sagte Maus, drückte auf Stopp und das Bild fror ein. Es reichte! Und Viktoria hatte recht gehabt: Er ärgerte sich. Wie saudumm waren diese Nasen eigentlich? Und wie kleingeistig? Am meisten ärgerte sich Maus über Frank. Was er da machte, war erbärmlich! Es war Hetze der billigsten Sorte - gegen Leute, die es, verflucht nochmal, schon schwer genug hatten. Dass Frank mit seiner Story über die Herkunft der Verwandelten der Wahrheit auch noch ziemlich nah kam, war besonders haarsträubend. Hatte ihm jemand was gesteckt oder hatte er einfach nur gut ins Blaue getippt?

Maus hatte das Bedürfnis, sich Frank vorzuknöpfen, ihm zu sagen, was wirklich abging, und ihn davon zu überzeugen, dass seine jämmerliche Verschwörungstheorie nichts weiter als Tribble-Scheiße war. Aber auf Vernunft konnte er bei Frank nicht wirklich hoffen. Wahrscheinlich würde er alles, was man ihm anvertraute, hemmungslos ausschlachten. Außerdem war dieses Mist-Buch ja bereits auf dem Markt. Der Drops war gelutscht.

Maus lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Nacken. Er hatte plötzlich Bock auf einen fiesen Ego-Shooter. Auf böse Zombies, die man eindeutig erkennen und mit einer Bazooka in Matschebrei verwandeln konnte. Da gab es wenigstens eine klare Linie zwischen gut und böse. Und das, was man nicht verstand, konnte man einfach kaputtmachen.

Die echte Welt außerhalb seines Nerd-Kosmos war leider etwas komplizierter - und gefährlicher. Shit! Auf Ben hatte jemand sogar eine Horde Killer angesetzt. Dass er, Viktoria und Maus noch am Leben waren, grenzte an ein kleines Wunder. Was für ein Schlamassel! Wie gerne wäre er - als alles vorbei war - wieder in sein altes, langweiliges Leben als IT-Mann in einer Münchner Bank zurückgekehrt, hätte weiter Pokale auf Game-Conventions abgestaubt und nebenbei ein paar Spinner im Web entlarvt. Bei Gandalfs grauer Kutte! Er war schließlich nicht James Bond!

„Schalt mal dein Positronenhirn ein, Dicker! Du kannst Ben und Natalie nicht einfach hängen lassen. Und noch viel weniger Larinil und Geysbin“, hatte Viktoria geschimpft und ihn durch ihre 70er-Jahre-Brille mit ihren schönen Augen angefunkelt. „Die beiden haben die letzten beiden Jahrtausende als lebende Versteinerung verbracht. Und ausgerechnet in unserer bekloppten Zeit wachen sie wieder auf. Und als wäre das nicht schon heftig genug, müssen sie sich auch noch um ein paar hundert Verwandelte kümmern. Gut, haben sie selbst verbockt, neulich in der Antike. Aber wir alle machen schließlich mal Fehler.“

Maus konnte Viktoria sowieso nichts abschlagen. Hatte keinen Sinn. Und weil sie außerdem irgendwo auch recht hatte, wurde er zum technischen Hirn der Elvan-Stiftung, kümmerte sich um den Computer-Kram und machte das, was er am besten konnte: Web-Recherchen. Und darin war er verdammt gut. Fast alle Verwandelten, um die sich die Stiftung gerade kümmerte, hatte er ausfindig gemacht. Inzwischen war er sogar ziemlich stolz auf seinen Job. Er selbst hatte die Schaltzentrale im Anwesen auf der Insel Madeira eingerichtet. Wenn er nicht gerade mit Viktoria, einer Tüte Chips und einem Cocktail am Pool abhing, gab es keinen Ort, an dem er lieber war. Nein, sein Leben war eigentlich schon okay so. Es fühlte sich gut an. Irgendwie sinnvoll. Nur eben dann nicht, wenn er sich solche Sülze anhören musste wie in der Talkshow. Und auch dann nicht, wenn er im Web wieder etwas über Schikanen und Übergriffe auf Verwandelte las. Dann packte ihn das gruselige Gefühl, dass sich da draußen etwas Fieses zusammenbraute.

Timo Hemander konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Das Leben hatte ihn verarscht. An dieser Erkenntnis führte kein Weg vorbei. Und jetzt traf sie ihn wie ein heftiger dumpfer Schlag in die Magengrube. Abgründiger Frust fraß sich wie ein Schwelbrand durch seine Eingeweide und machte auch vor seinem Verstand nicht halt. Nicht einmal seine neuen spitzen Ohren verschonte er. Timo hatte das Gefühl, dass sie glühten. Nach all dem, was ihm widerfahren war, hätte ihn selbst das nicht mehr überrascht.

Vor Ärger drückte er das Gaspedal noch ein wenig tiefer. Der Motor seines aufgetunten 5er-BMWs heulte wehleidig auf.

„Beschwer Du Dich nicht auch noch!“, motzte er unsinnigerweise sein Auto an. „Wäre ich nicht gewesen, dann würdest Du heute auf dem Schrottplatz vor dich hin rosten.“

Zwei Jahre lang hatte er jede Minute seiner Freizeit in die Kiste gesteckt. Am Ende hatte Timo aus einer ausgedienten Rentner-Limousine eine rassige Rennsemmel gezaubert. Aus Mist war Gold geworden. Bei seinem Auto hatten das alle toll gefunden. Bei ihm selbst nicht.

Denn irgendjemand oder irgendetwas hatte auch Timo aufgemotzt. Fünf Tage lang war ihm im vergangenen Herbst hundeelend gewesen. Dann war er eines Morgens aufgewacht und hatte sich großartig gefühlt - mit strahlend hellen Augen, langen Ohren und Kräften wie der unglaubliche Hulk. Die Arbeit in der Werkstatt war von da an ein Kinderspiel für ihn, Überstunden oder lange Partys kein Problem mehr, weil er kaum mehr Schlaf brauchte. Sein Chef, seine Kumpels, Katrin - alle waren begeistert. Zum ersten Mal in seinem Leben war er etwas Besonderes. Sogar das Fernsehen hatte über seine wundersame Verwandlung berichtet. Aber dann schlichen sich Neid und Skepsis in die Hirne. Und sein Leben fuhr in die Grütze. Nachbarn sahen ihn an, als könnte sie allein Timos Blick mit dem heftigsten Hautausschlag aller Zeiten infizieren. Seine Leute in der Werkstatt beschwerten sich, er solle ihnen wenigstens ein bisschen Arbeit übriglassen. Und Katrin maulte, sie könne nicht mehr mit ihm mithalten. Als ihn der Vermieter aus der Wohnung warf, lachte er das noch weg. Auch für Katrin - dachte er jedenfalls - würde er schnell einen angemessenen Ersatz finden. Aber als ihm dann noch sein Chef kündigte, stürzte eine Welt für ihn ein. Timo sei schlecht für das Arbeitsklima, meinte er. Sein Ex-Kollege Andi fand noch deutlichere Worte. Timo sei ein Freak, der in die Hölle zurückkehren solle, die ihn ausgespuckt habe.

Das war zu viel. Kein Mensch konnte so viel Dreck schlucken, dachte Timo. Aber er war ja auch kein Mensch mehr. Er war ... ein Freak. Ein frustrierter Freak. Und als solcher konnte er es sich erlauben, noch ein bisschen mehr Gas zu geben. Die 225er-Breitreifen quietschten, als sich sein BMW in die Kurve legte. Der Wagen und auch Timo fühlten sich wohl auf den engen Gebirgsstraßen hier in Tirol. Er hatte Innsbruck erst vor zehn Minuten verlassen und nun war er schon fast in Sellrain. Seine Sinne waren jetzt, nach der Verwandlung, schärfer. Wahrscheinlich hätte er auch ohne Abblendlicht in der Dunkelheit noch prima sehen können.

In die nächste Rechts-Kurve ging er mit viel Schwung und nahm mit einem Wimpernzucken zur Kenntnis, dass er dabei auf die Gegenfahrbahn driftete. Was soll’s? Wäre ihm ein anderer entgegengekommen, hätte er es wahrscheinlich rechtzeitig gehört oder gesehen. Außerdem waren seine Reflexe besser als die jedes Formel-1-Piloten. Verdammt. Er sollte Rennfahrer werden. Der Star in der neu gegründeten Formel Freak. Timo lachte bei dem Gedanken laut auf und warf den Kopf in den Nacken. Ein Fehler, stellte er fest, als er wieder nach vorne sah.

Vier grelle Fernlichter rasten auf ihn zu. Schneller als das bei einem Menschen möglich gewesen wäre, wurde ihm bewusst, dass da zwei Autos nebeneinander fuhren. Aber auch dieses Wissen half ihm nicht wirklich. Mit Wucht drückte er das Bremspedal gegen das Bodenblech und riss das Lenkrad herum. Zu viel Speed, schoss es ihm durch den Kopf, während der BMW schleuderte, sich zweimal überschlug und dann die Böschung in Richtung Bach hinabstürzte.

Von diesem Moment an verlangsamten sich die Dinge um ein Vielfaches. Timo hörte jeden Stein, der gegen die Karosserie schlug, er sah die unzähligen Splitter, in die sich die Scheiben verwandelten, und er spürte, wie sich der Airbag aufblähte, gegen seine Brust drückte und dann wieder in sich zusammenfiel. Der Wagen riss eine Tanne mit sich. Ein spitzer Ast bohrte sich in das Polster der Kopfstütze. Hätte Timo ihn nicht kommen sehen und wäre ausgewichen, hätte ihn der Ast aufgespießt. Mit dem Dach nach unten platschte der Wagen in die Melach. Das kalte Wasser des Wildbachs strömte ins Innere, drang in Timos Mund und Nasenlöcher, nahm ihm die Luft zum Atmen. Wie ein Schwein im Schlachthaus hing er mit dem Kopf nach unten im gestrafften Sicherheitsgurt und schloss mit seinem erbärmlichen Leben ab. Aber dann riss die starke Strömung den BMW herum und stellte ihn auf das, was von den Reifen noch übrig geblieben war. Noch ein paar Meter trug das Wasser den Wagen weiter, dann verkeilte er sich zwischen den Felsen, die aus der Melach herausragten.

Timo konnte wieder atmen. Der Bach war zum Glück nicht tief. Gurgelnd umspülte das eisige Wasser seine Füße und Waden. Die Kälte half ihm dabei, seine Sinne zu ordnen. Er sah an sich herab. Da war kein Blut. Das war schon mal gut so. Vorsichtig löste er die Sportsicherheitsgurte, die er erst vor wenigen Wochen nachgerüstet hatte. Arme und Beine funktionierten noch und abgesehen von einem leichten Ziehen im Nacken fühlte er sich wohl. Wie unglaublich! Als Mensch hätte jetzt der Rettungshubschrauber kommen müssen, dachte er. Er fühlte Erleichterung. Bald aber wurde sie von einer Welle aus Wut aus seinem Schädel gespült. Was, verdammt nochmal, haben die Verrückten da oben auf der Straße bloß veranstaltet? Ein Wettrennen? Mit eingeschaltetem Fernlicht? Vergeblich versuchte er, die Fahrertür zu öffnen. Sie klemmte. Mit einem heftigen Tritt katapultierte er sie in die Melach, die sie sofort mit sich riss. Wie ein Floß, das außer Kontrolle geraten war, drehte sich die Tür ein paar Mal wild und verschwand dann in der Dunkelheit. Timo stieg aus, hielt sich am lädierten Rahmen fest und fand sicheren Tritt auf einem der größeren Steine.

Scheiße! Der BMW war gründlich hinüber. Da war nichts mehr zu retten. Timo hätte heulen können. Wütend trat er gegen den Blechklumpen, der bis vor Kurzem noch die Front eines großartigen Wagens gewesen war. Was hatte die Welt denn noch an Gemeinheiten für ihn parat, fragte er sich.

Jemand würde dafür büßen müssen! Timo sah hinüber zum Ufer. Die Lichtkegel von Taschenlampen hüpften in der Düsternis zwischen den dichten Bäumen. Die Verrückten hatten also wenigstens so viel Anstand, nach ihm zu sehen.

„Kommt nur!“, hörte er sich murmeln. Dann machte er sich auf in Richtung Ufer. Soweit es ging, sprang er von Stein zu Stein. Das letzte Stück musste er waten und hatte Mühe das Gleichgewicht zu halten. Und ausgerechnet auf dem allerletzten Meter vertiefte sich die Melach noch einmal, sodass er fast bis zur Hüfte im Wasser stand. Mit aller Kraft zerrte der Bach an ihm, drohte, ihn mit sich zu reißen. Aber dann griff eine helfende Hand nach ihm und zog ihn mit einem kräftigen Ruck ans Ufer.

Timo blickte in ein unrasiertes Gesicht, das er gut kannte. „Was zum Geier machst du denn hier?“, fragte er. Eine Antwort bekam er nicht. Stattdessen drückte ihm der Mann einen Elektroschocker auf die Brust. Timo stöhnte auf. Alle Muskeln verkrampften sich. Noch bevor er auf dem Boden aufschlug, wurde es dunkel.

„Timo Hemander zu finden, wird einfach“, hatte Ben von Hartzberg vor einem Tag auf Madeira seinem Kumpel Maus zum Abschied zugerufen. „Der Typ liebt die Öffentlichkeit und scheint auch sonst ein recht offenherziger Mutierter zu sein.“

Hemander war immerhin einer der Ersten gewesen, deren Verwandlung im Fernsehen und im Web breitgetreten worden war. Wenn man so will, hatte er den Stein überhaupt erst ins Rollen gebracht. Zuerst gab es nur einen Bericht im österreichischen Fernsehen. Aber schon bald mussten sogar die superseriösesten Medien einsehen, dass die Sache mit den Mutierten keine Boulevard-Spinnerei mehr war. Und der Innsbrucker Automechaniker Timo Hemander war eine dankbare Quelle gewesen. Er plauderte ausführlich über sein neues Dasein und genoss die Aufmerksamkeit - im Gegensatz zu vielen anderen verwandelten Alben, die daraus lieber ein Geheimnis machten.

Ben konnte das sehr gut verstehen. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie verstörend die Verwandlung war. Tagelang hatte er sich elend gefühlt, wie bei einer schweren Grippe mit Kopf-, Glieder- und Ohrenschmerzen. Seine Augen hatten gebrannt, waren immer empfindlicher und heller geworden. Und dann plötzlich war er aufgewacht - als Superwesen, das keine Ahnung hatte, was da eigentlich vor sich ging. Nicht gerade ein Alltagserlebnis. Eher eines, dass alles veränderte.

In Bens Fall war es eine gute Veränderung. Sein Leben war lausig gewesen - ohne Inhalt, ohne Perspektive. Er hatte sich selbst derart ins Elend hineingesteigert, dass schon etwas Außergewöhnliches hatte passieren müssen, um ihn wieder ans Tageslicht zu befördern. Ben hatte die Verwandlung als Wink des Schicksals empfunden, als Aufforderung, seinen Arsch endlich wieder hochzubekommen, sich seinen inneren Dämonen und seinen Feinden zu stellen.

Von denen gab es immerhin ein paar. Da war einmal der Typ, den Maus, Viktoria und er im Internet bloßgestellt hatten. Dann war da sein Onkel, der ihm die Anteile an der familieneigenen Hotelkette abjagen wollte. Und schließlich gab es noch diese Killertruppe, die aus dem nichts gekommen war. In wessen Auftrag wusste er immer noch nicht. Er hatte nur einen Namen: Christopher. Und ein Ziel: Jemand wollte Verwandelte ausmerzen.

Den Kopf der Killerbande hatte Ben mit Larinils Hilfe selbst getötet. Immerhin: Seitdem gab es keine Morde mehr, jedenfalls keine, von denen Ben wusste. Trotzdem konnte gerade er bestens nachvollziehen, wenn Verwandelte lieber ihren Kopf einzogen.

Ben war von Madeira aus nach Innsbruck geflogen, in der festen Überzeugung, dass es eine kurze und unspektakuläre Reise werden würde. Maus und die anderen hatten trotzdem darauf bestanden, dass Hensson ihn begleitete.

„Standard-Vorgehen für operative Missionen der Elvan-Stiftung“, hatte Maus feixend gesagt. „Für Euch Spitzohren ist es mittlerweile zu gefährlich da draußen. Und Hensson war vor seiner Verwandlung bei einer US-Eliteeinheit. Marines. Coole Socke. Kann sich wehren.“

‚Wortkarg und arrogant‘ hätte es besser getroffen, hatte Ben inzwischen herausgefunden, sich aber nicht weiter beschwert. Ronald Hensson und er mussten schließlich keine dicken Freunde werden, sondern nur diesen Job hier in Österreich erledigen. Dennoch war Ben dankbar dafür, dass sein Begleiter lieber im Fitness-Center des Hotels geblieben war, während er sich auf die Suche gemacht hatte. Sein erstes Ziel war naheliegend: die Autowerkstatt, in der Timo Hemander angestellt war. Aber überraschenderweise kam er da nicht wirklich weiter.

„Der Hemander arbeitet nicht mehr hier“, sagte der Chef der Werkstatt und wischte sich dabei die knochigen Finger an einem völlig verdreckten Blaumann ab. Seine Augen funkelten Ben misstrauisch an. Er hatte dicke Backen, die nicht zum Rest seiner mageren Gestalt passen wollten.

„Ist auch so einer wie Sie“, fügte er ohne erkennbaren Grund hinzu.

„Wissen Sie, wo er wohnt?“, fragte Ben, während sich das Interesse der Mechaniker in der nach Öl stinkenden Halle zunehmend auf ihn fokussierte. Und es waren keine wohlwollenden Blicke. Die fünf Männer machten keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen Mutierte wie ihn. Und Ben hatte nun eine Vorstellung davon, warum Hemander hier nicht mehr arbeitete.

Besonders fiel Ben ein stämmiger Kerl mit speckigen Haaren und stoppeligem Kinn auf. Aus schmalen Augen sah er Ben immer wieder verstohlen an. Dabei schrubbte er betont beiläufig an einer silbern glänzenden Felge herum. Anders als seine Kollegen gab er sich derart viel Mühe, unauffällig zu sein, dass er Ben einfach auffallen musste.

„Keine Ahnung, wo er jetzt wohnt“, brummte der Werkstatt-Chef. „Seine Freundin hat ihn rausgeschmissen. Hab keine Idee, warum. War zuletzt doch ein hübsches Kerlchen.“

Die Mechaniker lachten - alle, bis auf den mit der Felge.

Ben stellte sich vor den stämmigen Kerl und sah ihn direkt an. Sofort schrubbte er ein bisschen schneller. Seine Augenlider flatterten.

„Hat vielleicht sonst jemand eine Idee, wo ich Timo Hemander finden könnte?“, sagte Ben mit übertrieben lauter und scharfer Stimme. Er hatte keinen Grund, besonders höflich zu sein. Hier hätte das sowieso niemand zu schätzen gewusst. Trotzdem sah der Mechaniker nicht mal zu ihm auf.

„Andi! Der nette Mann mit den aufgebockten Ohren hat Dich was gefragt“, grölte der Chef vergnügt.

Andi zuckte zusammen. Sein Unbehagen wich aber verblüffend schnell und war bald vollständig überlagert von tiefsitzendem Zorn. Mit festem Blick sah er Ben an. Ein paar Sekunden verstrichen.

„Der Timo ist aus Innsbruck weggezogen“, antwortete er schließlich mit dumpfer Stimme. „Ihm hat die Nachbarschaft hier nicht mehr gefallen.“ Gekicher im Hintergrund. Einen Moment lang starrten sich die beiden Männer feindselig an.

Ben nickte. „Ich verstehe“, sagte er leise. Was sollte er noch hier? Er würde seine Antworten auf andere Weise finden müssen.

Ben ahnte, dass es nichts bringen würde. Trotzdem war sein nächstes Ziel Hemanders Ex-Wohnung. Dort aber erfuhr er, dass sich Hemander inzwischen ein kleines Zimmer in Hall, einem Nachbarort, genommen hatte. Aber auch da führte die Spur nicht wirklich weiter. Der „Spitzohrige“ mit dem dicken, blauen BMW war hier zwar schon mal gesehen worden. Nicht aber in den letzten Tagen.

„Aber, was wissen wir schon darüber, wo sich diese Mutierten so herumtreiben“, gab ihm eine ältere Frau mit auf den Weg. Dass auch Ben zu ‚diesen Mutierten‘ gehörte, konnte sie - anders als die Crew in der Werkstatt - nicht erkennen, da Ben diesmal sicherheitshalber Mütze und Sonnenbrille trug. Verdammt! Wie hatte es nur so weit kommen können? Niemand hatte darum gebeten, in einen Alben verwandelt zu werden. Woher kam nur diese Feindseligkeit?

„Alter, ich fürchte, es ist diese Kombination, die euch Spitzohren als Feindbild unwiderstehlich macht.“

Ben saß in seinem Hotelzimmer und blickte verständnislos auf den Bildschirm seines Tablets, der im Moment das feiste Gesicht von Maus zeigte. Der genoss Bens Ratlosigkeit ganz offensichtlich, bevor er das Rätsel löste.

„Erst einmal seid Ihr anders und seht mit euren Strahleaugen und Spock-Ohren ziemlich schräg aus. Also nicht für mich. Ich find’s cool so. Aber viele Menschen irritiert es. Und dann - was noch viel schlimmer ist - seid ihr normalen Menschen in jeder Hinsicht haushoch überlegen. Ihr seid zwar eine Minderheit, aber nicht gerade eine, für die man Mitleid empfinden müsste. Diese Kombination macht es sehr einfach, euch zum Kotzen zu finden.“

„Danke, Maus, für Deine einfühlsamen Worte. Sag mir bitte, dass es nur hier in der Gegend so übel ist.“

Maus schüttelte den Kopf.

„Negativ. Deutschland macht da nicht wirklich einen besseren Schnitt als Österreich. In Wuppertal haben sie gestern eine verwandelte Albin zusammengeschlagen und in den Fluss geworfen. In Stuttgart gibt es eine Mahnwache vor dem Landtag. Die Leute fordern mehr Polizeischutz vor möglicher Mutierten-Gewalt - obwohl da noch nicht mal was passiert ist. Und von den meisten Sportvereinen seid ihr sowieso ausgeschlossen. Rate mal, warum!“

„Vermutlich, weil wir die Vereinsrekorde nur so purzeln lassen.“

Maus zog zur Bestätigung die Augenbrauen hoch.

„Ihr seid Superfreaks und lasst uns Normalsterbliche alt aussehen. Apropos alt. Sei froh, dass noch keiner herausgefunden hat, dass ihr Euch erst im Alter von 1000 plus x Gedanken über den Ruhestand machen müsst.“

„Das ist noch nicht raus. Larinil und Geysbin sind eine andere Liga als wir. Sie sind als Alben geboren worden. Außerdem haben sie Jahrhunderte lang im Stein geschlafen. Das dürfte das Älterwerden etwas gebremst haben.“

Maus lachte kurz auf.

„Wie bei Tiefkühlpizza. Klar. Aber bevor sie sich in die Felsnischen gekuschelt haben, waren sie schon älter als wir alle zusammen. Hast du Geysbin mal gefragt, wann er geboren wurde? Hammer! Der Kerl hat schon mit den Pharaonen Schach gespielt.“

Ben nickte.

„Trotzdem sind die beiden die einzigen Alben, die aus der alten Zeit übrig geblieben sind. Ich finde, das gibt mir das Recht an unserer grenzenlosen Überlegenheit ein wenig zu zweifeln, oder?“

„Alter. Nimm es, wie Du willst. Jedenfalls ist es besser, vorsichtig zu sein. Da draußen gibt es Leute, die euch am liebsten ans Leder gehen würden.“

„Was du nicht sagst. Hast du eigentlich was über Christopher herausgefunden?“

Maus zuckte mit den Achseln.

„Der Typ, der die Killer geschickt hat? Wieder negativ. Die Handynummer, die du dem toten Django-Abklatsch abgenommen hast, führt ins Nichts. Ist verschlüsselt und mehrfach umgeleitet. Er muss irgendwo in Europa sitzen. Aber das hat dir Django ja schon verraten. Verdammte Hacke! Vermutlich muss ich da anders rangehen. Einer wie Christopher hat sicher schon ein bisschen mehr auf dem Kerbholz. Vielleicht taucht er im Zusammenhang mit anderen Fällen auf. Ich bleib dran.“

Ben lächelte. ‚Ich bleib dran‘ war bei den meisten Menschen gleichbedeutet mit ‚Ich sitzt das aus‘. Bei Maus war das anders. Der Kerl war ein Genie im Web. Ohne ihn hätte die Elvan-Stiftung schon wieder dichtmachen können. Allein in den letzten zwei Wochen hatte er zwölf Verwandelte ausfindig gemacht. Eine klasse Bilanz. Die Hälfte von ihnen war inzwischen auf Madeira in Sicherheit - unter den mütterlichen und väterlichen Augen von Natalie, Larinil und Geysbin.

„Wenn es einer hinkriegt, dann du“, sagte Ben und meinte es auch so.

„Danke, für die Blumen, Alter. Was unternimmst Du jetzt, um Hemander zu finden?“

„Ich habe die Superwaffe Hensson vom Laufrad gescheucht und auf den Automechaniker angesetzt. Der Kerl hat was zu verbergen. Ob es was mit Hemander zu tun hat? Keine Ahnung. Aber wenigstens habe ich Hensson für eine Weile von der Backe. Der hat sich über den Auftrag sogar gefreut. Ich hoffe, er richtet nicht irgendwo ein Massaker an.“

„Entspann dich. Hensson ist vielleicht kein Sympathieträger, aber ein Profi. Ist wie bei Ballerspielen: Ohne Befehl macht der Muskelmann mit der Riesen-Wumme rein gar nichts. Außerdem musst du ihn ja nicht gleich heiraten.“

„Ich kann mich beherrschen.“

„Alter, ich muss Schluss machen.“

„Gibt’s bei Euch Ärger?“

„Quatsch. Es gibt Essen. Natalie hat gekocht. Saltimbocca! Alter, ich liebe Viktoria über alles. Aber im Kochen ist Natalie unschlagbar.“

„Wolltest Du nicht einen Gang runterschalten und sogar Vegetarier werden? Der Gesundheit und Viktoria wegen.“

Maus grinste.

„Ich bin Vegetarier. Nur nicht, wenn’s Fleisch gibt. Halt die Spitzohren steif!“

„Bis dann. Und guten Appetit.“

Ben kappte die Verbindung und schaltete sein Tablet aus. Zeit für eine Cola und eine Dusche. Ben hatte das Gefühl, dass der Tag für ihn noch lange nicht zu Ende war.

Ein seltsamer erster Gedanke ging Timo Hemander durch den Kopf, als er wieder zu sich kam: ‚Schlecht geschlafen‘. Wie schwachsinnig! Timo hatte nicht geschlafen. Häppchenweise kehrten die Erinnerungen zurück und setzten sich zu einem Gesamtbild zusammen, das ihm ums Verrecken nicht gefallen wollte. Was sollte das alles? Und wo war er überhaupt? Timo öffnete die Augen und blickte auf ein kahles Stück Wand. Vermoderte Holzbretter bedeckten das Mauerwerk, das nur noch knapp unterhalb der dunklen Deckenbalken ein wenig herausschaute. Das Haus, wohl eher die Hütte, in der er sich befand, war alt und die Kammer klein und unmöbliert. Der Staub in der Luft gab den dünnen Lichtstrahlen, die durch Ritze drangen, Konturen. Es roch nach altem Dreck.

Timo kauerte auf dem mit dunkelbraunem Stroh bedeckten Boden. Seine rechte Schulter schmerzte. Der dazugehörige Arm zweigte von ihr in unnatürlichem Winkel ab, gehalten von einem dicken Metallring, in dem sein Handgelenk steckte. Und einer Kette, die vom Ring zu einer festen Verankerung im oberen Teil der Wand reichte. Timo schob seinen Körper vorsichtig ein wenig höher. Er stöhnte laut, als sein Arm wieder so weit entlastet war, dass das Blut zirkulieren konnte. Allmählich kehrte das Gefühl zurück - und mit ihm flossen die Schmerzen in Muskeln, Knochen und Sehnen. Er öffnete und schloss die Faust ein paarmal. Das war besser - aber weit davon entfernt, bequem zu sein.

War das alles hier ein schlechter Witz? Jedenfalls keiner, über den er lachen konnte. Sein BMW war im Eimer. Und auch er hätte, verdammt nochmal, dabei draufgehen können. Seine Wut verleitete ihn dazu, fest an der Kette zu zerren. Das Klirren der dicken Stahlglieder dröhnte in seinen Ohren. Grauer Staub rieselte ihm ins Gesicht. Mehr brachte die Aktion aber nicht. Die Kette saß fest. Da halfen auch seine neuen Superkräfte als Freak nicht wirklich weiter.

„Was soll der Scheiß? Lass mich hier raus!“, schrie er.

Unendliche Sekunden lang geschah gar nichts. „Hey“, setzte Timo zornig nach. „Das ist nicht lustig!“

Stille. Dann endlich knarrte draußen ein Stuhl. Und eine Stimme sagte: „Andi? Wach auf! Hört sich so an, als wollte sich unser Gast beschweren. Ist vielleicht mit dem Service unzufrieden.“ Höhnisches Gelächter.

Schlurfende Schritte näherten sich. Ein Riegel wurde zur Seite geschoben und die massive Holztür seiner Kammer öffnete sich.

Timo kannte den stämmigen Kerl mit den speckigen Haaren und dem Stoppelkinn. Andi war ein Kollege aus der Werkstatt. Jedenfalls war er das gewesen vor Timos Verwandlung - bevor der ganze Scheiß angefangen hatte. Für eine Freundschaft hatte die Chemie zwischen ihnen zwar nie gereicht, aber immerhin hatten sie hier und da zusammen über einen derben Witz gelacht. Und sich sogar gegenseitig geholfen, wenn es zum Beispiel ein rätselhaftes Elektronikproblem bei einem der Autos gegeben hatte. Erst, als Timo zum Freak geworden war, hatte sich auch Andi verändert.

„Unzufrieden mit der Unterbringung, Spitzohr?“, fragte er. Seine schmalen Augen fixierten Timo voller Zorn. Breitbeinig baute er sich vor ihm auf. In der rechten Hand hielt er den Elektroschocker, in der linken ein Buch.

„Hey, Andi. Ihr hattet euren Spaß. Jetzt mach mich los! Ich sehe vielleicht ein bisschen anders aus. Aber sonst bin ich immer noch Timo, der Typ, der Motoren frisiert wie kein anderer. Mach keinen Fehler, Kumpel!“ Timos Stimme klang erbärmlich.

Aber Andi antwortete nicht. Stattdessen warf er ihm das Buch vor die Füße. Es war nicht besonders dick, eher so wie ein Comic-Sammelband. Und auch das Bild auf der Titelseite hätte dazu gepasst: Darauf schlich sich ein finster dreinblickender hagerer Elf in das Schlafzimmer eines Kindes. Die Szene war düster und bedrohlich. Timo kam sie so vor, als stammte sie aus einer anderen Zeit, aus der Zeit der Gebrüder Grimm vielleicht. Über dem Bild stand der Name des Autors und - in hellroten Lettern - der Titel: ‚Zeit der Mutanten‘.

„Schon mal gesehen?“, fragte Andi.

Timo schüttelte den Kopf. „Ich hab’s nicht so mit Büchern. Weißt du doch.“

Mit einer schnellen Bewegung drückte ihm Andi den Schocker auf den Arm. Timos Muskeln verkrampften augenblicklich. Scharfe Schmerzschübe schüttelten seinen Körper. Er sackte zusammen. Seine Arme und Beine zuckten noch ein paarmal, bevor sie wieder zur Ruhe kamen.

„Scheiße!“, fluchte Timo.

„Verarsch mich nicht, Spitzohr! Da drinnen steht, was ihr Typen vorhabt. Dass ihr uns Menschen zu euren Sklaven machen wollt. Sieht im Moment für dich nach einem beschissenen Anfang aus.“

„Andi, das ist doch nur ein Buch, verflucht nochmal“, stöhnte Timo. „Da hat einer die Nachrichten gesehen und eine Horrorgeschichte daraus gemacht. Glaub doch nicht jeden Dreck, der geschrieben wird. Ich hab doch gar keinen Bock, Bundeskanzler zu werden.“

Andi lachte höhnisch auf.

„Du bestimmt nicht. Aber du bist ja auch nicht der einzige Freak, den die Hölle ausgespuckt hat. Ihr glaubt, wir wissen nicht, was da passiert, oder? So ein blödes Buch kann man vielleicht als Schwachsinn abtun. Aber die Wahrheit macht längst die Runde.“

„Wovon redest du da eigentlich? Alles, was ich will, ist, an Autos rumzuschrauben. Scheiße. Hast Du gesehen, wie mein BMW aussieht? Der ist Schrott!“

„Wir wehren uns, Spitzohr. Und wir sind nicht die einzige Widerstandsgruppe. Es gibt sie überall. Ihr habt einen mächtigen Feind, du Freak. Einen, gegen den ihr nicht gewinnen könnt.“

Wieder ein Elektroschock. Timo wollte schreien, aber seine Stimmbänder versagten den Dienst - ebenso wie der Rest seines Körpers. Nur der festgekettete Arm verhinderte, dass er vollständig zu Boden ging.

Verschwommen sah er, dass Andi etwas aus der Hosentasche holte und über ihn verteilte. Es war Staub. Seltsam schimmernder, silberner Staub.

„Du wirst uns sagen, wo ihr euch versteckt. In welchem Loch ihr eure Gemeinheiten ausheckt. Dann machen wir es dir vielleicht einfacher als dem Spitzohr, das vor dir hier war.“

Lichtsturm II

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