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Der Sänftensklave

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Timo blieb liegen. Es war gegen jede Vernunft, aber er konnte einfach nicht mehr. Nein, er wollte nicht mehr. Es tat nämlich ziemlich gut, einfach am Boden zu bleiben und in den wolkenlosen Himmel zu blicken. So, als könnte man die Welt damit einen Moment lang einfrieren und diesen ganzen Schwachsinn stoppen. Außerdem fühlte sich die Regenpfütze unter seinem Rücken gut an. Sie kühlte die Striemen und die Prellungen, die ihm Nallundor mit seinem Stock am Tag davor verpasst hatte. Und auch die von der Woche davor, die gerade dabei waren zu verheilen. Die Sonne wärmte sein Gesicht. Ihr Licht war rötlicher als das der Sonne aus seiner Welt. Aber es funktionierte genauso gut. Es gab Timo Kraft. Die Strahlen prickelten angenehm auf der Haut - ein bisschen wie ein frisch eingelassenes Schaumbad. Ihre Energie drang in ihn ein und machte, dass er sich wenigstens ein klein wenig wohler fühlte. Timo lächelte - auch dann noch, als ihm jemand den Fuß in die Seite rammte.

„Shoywa, Bassai. Shoywa!“, brüllte der Albe. Lange, hellrote Haare umrahmten sein knochiges Gesicht. Die Augen waren größer als bei anderen Spitzohren. Und bedeutend bösartiger. Sie erinnerten ein bisschen an die eines Rieseninsektes. Der Antreiber war ein Sklave - wie Timo. Aber er gehörte zu der Sorte, die dem feisten Nallundor voll und ganz ergeben waren. Ein Speichellecker, einer, der für ein bisschen Macht und ein paar Privilegien seinen Stolz verkauft hatte. „Shoywa!“, brüllte er noch einmal und hob drohend den Stock. Timo bemerkte einen Schweißfleck unter der Achsel seines ansonsten klinisch reinen, grauen Hemdes. Ein Makel, freute er sich. Diese Alben schwitzten normalerweise nicht. Jedenfalls diejenigen, die nicht wie Timo als Menschen auf die Welt gekommen waren und sich später verwandelt hatten. Und ihre Klamotten sahen immer so aus, als kämen sie geradewegs aus der Premium-Reinigung. Keine Falten, jeglicher Schmutz - Blut ausgenommen - perlte ab wie von einer superglatten Lackschicht. Auch das dreckige Pfützenwasser, das seinen Rücken gerade so schön kühlte, würde Timo schnell wieder los haben. Seine viel zu weite graue Hose und sein ebenso graues Schlabber-Hemd waren an Fadheit kaum zu toppen. Aber sie waren aus dem gleichen raffinierten Material wie die Kleider aller Alben hier in der Anderswelt. Eigentlich schade. Dreck wäre immerhin etwas, das ihn von diesen Mistkerlen hier unterscheiden würde.

Die Anderswelt! Sie hatte ihn fasziniert, als er sie noch nicht kannte. Damals auf Madeira hatte er sich gewünscht, hierher zu kommen. Hierher, in diese sagenhafte Welt fernab von allem, was für normale Menschen erreichbar war. Eine geheimnisvolle E-Mail hatte ihn vor einiger Zeit dazu aufgefordert, sich den Alben dieser Stadt anzuschließen. Der Gedanke an ein Reich, in dem Spitzohren wie er das Sagen hatten, war verlockend. Ein Ort, an dem ihn keiner als Freak beschimpfte oder ihn umbringen wollte, an dem man ihm mit Respekt begegnete. Eine idiotische Idee, wie er inzwischen wusste. So grandios und überirdisch diese Stadt auch wirkte, Timo war hier wieder nur ein Gefangener. Schlimmer noch: Ein Sklave für die niedersten Drecksarbeiten, die es zu verrichten gab. Ein Nichts. Er hätte es wissen müssen. Timos Leben war und blieb das eines Verlierers.

Der Schlag traf ihn an der linken Schulter. Ein weiterer blauer Fleck auf der Landkarte seines lädierten Körpers, mehr nicht. Der rothaarige Antreiber hatte nicht mit voller Wucht zugeschlagen. Er wollte zwar, dass Timo endlich wieder aufstand. Aber er hatte ganz sicher auch Angst, dass diese hässliche kleine Angelegenheit zu groß werden könnte. Timo wusste inzwischen, dass Nallundor in der Öffentlichkeit nicht gerne als der brutale, feige Drecksack dastehen wollte, der er war. Deshalb schlug er im Freien weniger hemmungslos zu. Und seinen Antreibern war das ebenso wenig erlaubt.

„Shoywa!“ Diesmal klang der Befehl des Rothaarigen fast schon ein bisschen flehend. Wie erbärmlich er aussah. Die Augen flatterten, wanderten unruhig zwischen Timo und dem Portal des Gebäudes hin und her. Der Antreiber hatte jetzt richtig Angst. Gut so. Für einen niederen Sklaven, den er in der Öffentlichkeit nicht im Griff hatte, würde er von seinem Herren bestraft werden. Ein paar Fußgänger sahen bereits interessiert zu ihnen hinüber. Zwei junge Alben grinsten sogar unverhohlen. Das könnte interessant werden.

Nallundor würde nicht mehr lange brauchen. Timo und die andere Trägersklaven - drei stumpf dreinblickende Kerle, die mit Dingen wie Träumen oder eigenen Bedürfnissen längst abgeschlossen hatten - hatten den fetten Sack in seiner Sänfte vor ein paar Stunden am Badetempel abgesetzt. Ob der prächtige silberne Bau wirklich ein Badetempel war, wusste Timo natürlich nicht wirklich. Aber es sah ganz danach aus. Denn: Immer wenn Nallundor ihn verließ, dann hatte er einen penetrant-süßlichen Duft an sich und nicht mehr, wie meistens, den nach Öl und Gebratenem. Ekelhaft war natürlich auch diese weibische Note, gegenüber dem Normalzustand aber war sie ein Gewinn. Keine Frage: Der Kotzbrocken mit den rosigen Bäckchen ließ sich im Badetempel aufpimpen, war hinterher sauberer als vorher. Meist tat er das, wenn er etwas vorhatte oder Besuch anstand. Immer dann also, wenn es etwas gab, das noch wichtiger war als die ständigen Fressorgien und Exzesse, mit denen Nallundor sein dekadentes Leben sonst so verbrachte. Aber auch in diesem Zustand war er kilometerweit von dem überstrahlten Bild entfernt, das Timo Hemander bisher von den „echten“ Alben gehabt hatte. Trotz seines fehlenden Gedächtnisses verkörperte für ihn der alte Geysbin die Erhabenheit und Weisheit von Jahrhunderten. Und noch nie hatte Timo jemanden gesehen, der sich graziler und dabei so kraftvoll bewegen konnte wie Larinil. Timo wurde erst jetzt klar, dass es die beiden waren, die er in den Wochen bei der Elvan-Stiftung auf Madeira als Prototyp eines Alben vor Augen gehabt hatte. Sie waren die Vorbilder seines neuen Lebens als Spitzohr gewesen. Nur: Er hatte es nicht wahrhaben wollen. Stattdessen hatte er weiter mit seinem Schicksal gehadert, hatte seinem menschlichen Leben nachgetrauert und gleichzeitig davon geträumt, als Super-Rächer all denen in den Arsch zu treten, die ihm einmal Böses gewollt hatten. Wie saublöd er doch war!

Einmal mehr war sein Leben gründlich in die Grütze gefahren - gefahren worden. Denn wieder einmal waren es andere gewesen, die ihm ihren Willen aufgedrückt hatten. Wer und warum? Timo hatte keine Ahnung. Sie waren in einem Hubschrauber gekommen, hatten auf Madeira seinen Kumpel Mike und den Norweger erschossen und Timo betäubt. Die nächsten Erinnerungen waren verworren und kamen ihm reichlich unwirklich vor. Offenbar hatte ihn jemand durch einen Wald getragen. „Ruhig bleiben! Dann dir wird nichts geschehen“, hatte diese schneidende Stimme immer wieder gesagt. Timo hatte sich ohnehin nicht bewegen können. Und immer wieder war ihm schwarz vor Augen geworden. Bis er schließlich doch noch wach wurde - in diesem kahlen, weißen Raum tief unter Nallundors Palast. Ein Gefängnis - wieder einmal. Niemand redete mit ihm, niemand verstand seine Sprache. Die Schläge waren es und die Kette zwischen seinen Füßen, die ihm schnell klarmachten, dass er hier in der Anderswelt kein Gast war. Er war ein Sklave und ein „Bassai“, was auch immer das Wort bedeutete. „Fremder“ vielleicht, „Ex-Mensch“ oder „Vollpfosten“. Timo hatte keine Ahnung. Was er aber wusste, war, dass er der Einzige war, der so genannt wurde.

Kräftige Arme packten ihn und stellten ihn unsanft wieder auf die Füße. Aha. Der Rothaarige hatte in seiner Verzweiflung die anderen Träger zur Hilfe geholt. Wütend baute er sich vor Timo auf. Seine Insekten-Augen funkelten ihn an. Timo grinste, als er merkte, dass zwei ältere Albinnen an der Mauer stehengeblieben waren und das Spektakel kopfschüttelnd verfolgten. Ziviler Ungehorsam war in der Anderswelt ganz offensichtlich etwas Exotisches, dachte er und kassierte im nächsten Moment eine heftige Ohrfeige.

„Bassai!“, zischte der Antreiber und spuckte noch ein paar albische Wörter hinterher, von denen Timo gar nicht wissen wollte, was sie bedeuteten. Eine Drohung vielleicht. Verflucht. Es gab nichts, was ihm jetzt noch ernsthaft Angst machen konnte. Der Tod? Seit seiner Verwandlung war er sitzengelassen, gefeuert, entführt, gefoltert, nochmal entführt und versklavt worden. Es gab kein Leben, in das er zurück konnte. Der Tod wäre gar keine so üble Option, wenn er es mal näher betrachtete.

Vielleicht würde ihm Nallundor ja den Gefallen tun. Begleitet von zwei verdächtig überschminkten, dauerlächelnden Albinnen verließ er gerade den Badetempel, watschelte an den gewaltigen silbernen Säulen vorbei, die das bestimmt 20 Meter hohe Dach der Vorhalle stützten. Er sagte etwas, was die Damen in aufgesetztes Gelächter ausbrechen ließ. Dann machten sie winkend kehrt. Nach einem kurzen lüsternen Blick auf den Allerwertesten der einen Dame watschelte Nallundor weiter. Er war klein und überaus dick. Und er war der erste Albe, an dem auf Timo die hellen Augen und die langen Ohren weder elegant noch erhaben wirkten, sondern einfach nur albern. So, als wäre er ein verkleideter Mensch. Timo musste an eine Faschingsparty denken, auf der er einmal in Innsbruck gewesen war. Dort hatte ein schmächtiger Kerl ein ausgepolstertes Batman-Kostüm angehabt. Er hatte es vermutlich mit Riesen-Aufwand selbst genäht. Objektiv betrachtet war es toll, subjektiv betrachtet sah der dürre Kerl darin absolut lächerlich aus. Und das galt ein Stück weit auch für Nallundors Erscheinung. Sein fetter Wanst war in ein grünlich-goldenes Tuch gehüllt. Neben den vollen rosa Backen neigten sich die Ohrenspitzen leicht nach außen. Die Karikatur eines Alben. Timo hätte beinahe schon wieder grinsen müssen, als im selben Moment auch noch dieses seltsame Tier angeflattert kam und sich auf Nallundors Schulter niederließ. Der Körper sah aus wie der eines Murmeltiers. Drollig war trotzdem anders. Dafür sorgten die spitze, fuchsähnliche Schnauze, die tiefschwarzen Augen und die mächtigen ledernen Flügel. Ein Raubtier vermutlich. Nicht allerdings für Nallundor. Denn er hielt es als Haustier. Dafür sprach jedenfalls das Samtjäckchen, das er dem Viech verpasst hatte. Auch das sah reichlich lächerlich aus.

Dann aber blickte Timo in die Augen des Mistkerls. Boshaft wölbten sie sich unter fransigen, dichten Augenbrauen hervor. Sie gehörten jemandem, der Macht besaß, und der nicht zögerte, sie skrupellos einzusetzen. Jemandem, der sich ohne Rücksicht nahm, was er wollte. Nallundor war vielleicht eine Witzfigur. Timo wusste aber inzwischen, dass er eine war, mit der auf gar keinen Fall zu spaßen war.

Der Rothaarige verbeugte sich. Ohne ein Wort watschelte Nallundor an ihm vorbei und bestieg die Sänfte. Energisch wurden zwei samtene Vorhänge zugezogen. Dann war von dem Fettsack nichts mehr zu sehen. Timo roch allerdings den süßlichen Duft, den sein Herr gerade über einen guten Teil der Anderswelt verbreitete.

„Shoywa!“, rief der Antreiber. Das Kommando zum Anheben der Sänfte. Timo und die anderen Träger packten je ein Ende der beiden hölzernen Stangen, auf denen die Kabine saß. Die komplette Sänfte war schneeweiß und über und über mit verschnörkelten Blütenranken verziert. Die Sänfte hätte auf den ersten Blick großartig in einen Disney-Film gepasst. Aber nur auf den ersten, denn sie war nicht wirklich lieblich und kitschig. Sie hatte auch etwas sehr Bedrohliches. Zuerst hatte Timo dieses Gefühl nur auf den Umstand zurückgeführt, dass er zu denen gehörte, die das Ding tragen mussten. Inzwischen hatte er aber reichlich Zeit gehabt, darüber nachzugrübeln. Die Sänfte wirkte bedrohlich, weil ihre Kabine die Form eines zu langen Sarges hatte. Und, weil die Blütenranken wie Schlangen ineinander verschlungen waren - bereit, zuzubeißen, sollte sich jemand nähern. Nallundors Sänfte passte voll und ganz zu ihrem Besitzer.

Natürlich auch deshalb, weil sie sogar für albische Maßstäbe sauschwer war. Wie Beton drückte die an ihrem Ende abgeflachte Tragstange in Timos Schulter. Er und die drei anderen trugen sie einmal mehr durch die halbe Stadt, durch die Pfützen, die das Unwetter in der Nacht auf den extrabreiten Straßen der Stadt hinterlassen hatte. Jetzt waren die weißen Pflastersteine nass und zum Teil ziemlich dreckig. Ein merkwürdiger Gegensatz zu den piekfeinen Prachthäusern, die es hier zu hunderten gab. Fast alle hatten weiße oder hellgraue Wände und mattsilberne Dächer. Worin sie sich unterschieden, war ihre Form. Es gab Straßenzüge mit kleineren Palazzos, die Timo an Venedig erinnerten. In anderen Gegenden glich kein Gebäude den anderem, ganz so, als hätte die Architekten versucht, sich an Protz und Design gegenseitig zu übertrumpfen. Es gab schlanke Türme mit verspielten Zwiebeldächern, wuchtige Bauten mit dicken Rundsäulen davor und verschachtelte Häuser mit Giebeln und Erkern. Jedes einzelne sah so aus, als wohne der Vorstandsvorsitzende eines Mega-Konzerns darin. Möglicherweise gab es in der „silbernen Stadt“ auch Viertel, in denen ärmere Leute lebten. Timo hatte aber noch keines davon gesehen. Die Welt hier schien allein aus Superreichen und ihren Sklaven zu bestehen. Und aus den blaugekleideten Soldaten, die schwerbewaffnet und in rauen Mengen in den Straßen patrouillierten. Timo nannte sie in Gedanken „Blaumänner“. Es war ziemlich offensichtlich, dass sie für Sicherheit sorgten. Timo war nur nicht ganz klar, für wessen Sicherheit. Denn die Alben, die ihren Weg kreuzten, hatten Angst vor den Blaumännern. Ein paar Mal hatte Timo beobachtet, wie sie ihnen auf dem Bürgersteig demütig Platz machten und auf die Straße auswichen, wo sie Gefahr liefen, von einer der vielen Kutschen oder einem Reiter erwischt zu werden. Die Blaumänner gehörten sicher nicht zu denen, die man straffrei ärgern konnte, dachte Timo. Und die Obermotze, für die sie arbeiteten, wohl auch nicht.

Ob Nallundor zu ihnen gehörte? Timo war sich da nicht sicher. Er war ohne Zweifel stinkreich und mächtig. Seine Sänfte schien außerdem so etwas wie eine begrenzte eingebaute Vorfahrt zu haben. Die meisten Fußgänger, Kutschen und Reiter wichen ohne zu zögern aus. Andererseits gab es auch niemanden, der ehrfürchtig oder ängstlich stehenblieb oder sogar versuchte, einen Blick ins Innere der Sänfte zu erhaschen. Es kam Timo eher so vor, als gebe es eine Regel, die vorschrieb, Vehikel wie diese besser vorbeizulassen. An die hielt man sich. Darüber hinaus war sie offenbar aber keine allzu große Sache.

Natürlich machte sich auch keiner etwas groß daraus, dass es vier Sklaven waren, die die Sänfte schleppten und es mühsam gerade so schafften, dem Antreiber hinterherzukommen, der ihnen den Weg vorgab. Sie hatten gerade eine der großen Prachtstraßen verlassen und waren in eine der kleineren eingebogen, die allerdings nach wenigen hundert Metern auch nur wieder in eine weitere Prachtstraße mündete. Ein großer Teil San'tweynas - so nannten die Alben die silberne Stadt - hatte die Form eines Sterns. Timo hatte das ziemlich schnell herausgefunden. Es gab einen Mittelpunkt, wahrscheinlich das Zentrum der Macht oder ein Heiligtum, auf das mindestens sieben große Prachtstraßen zuliefen. Timo hatte das Zentrum nur aus der Ferne gesehen, hatte nur so etwas wie eine riesige Kuppel erkennen können. Bisher war er nie nah genug herangekommen. Der Badetempel lag zwar an einer der Sternstraßen, war aber mehrere Kilometer vom Zentrum entfernt. Nallundors Haus war noch viel weiter weg. Es gehörte gerade noch zum sternförmigen Stadtteil, grenzte aber fast direkt an ein anderes Viertel, das Timo für die Altstadt San'tweynas hielt. Er war dort ein paar Mal, um für einen Küchensklaven Lebensmittel zu tragen. Hier war es deutlich verwinkelter, farbiger und lebendiger als im Sternviertel. Es roch nach Kräutern, nach Rauchküchen, nach getrocknetem Fleisch und nach dem dunkelgrünen Wasser der vielen Kanäle, die das Viertel so herrlich ungeordnet durchzogen. Die Häuser waren kleiner. Auch sie kamen Timo makellos vor, hatten aber mit ihren hölzernen Läden, den verspielten Balkonen und Veranden ihren eigenen Charakter. Jedenfalls waren sie deutlich einladender als die sterilen Silberbauten des Sternviertels. Und natürlich auch als Nallundors Heim, das für Timo ein Gefängnis war. Sie näherten sich dem Gebäude. Hohe silbergraue Mauern umgaben den Komplex. Sie waren das Erste, das Timo sah. Das flache Wohnhaus selbst und die beiden Nebengebäude waren komplett dahinter verborgen. Nur die Mauern waren von hier aus zu sehen. Und das schwarze Metalltor. Ohne es eigentlich zu wollen, stöhnte Timo laut auf, als der Antreiber darauf zusteuerte. Jede Zelle in seinem Körper, jeder Funke in seinen Gehirnwindungen sträubte sich dagegen, durch dieses Tor zu gehen. Dahinter lagen Schmerz, Erniedrigung und Trostlosigkeit. Er wollte das nicht mehr. Er konnte das nicht mehr. Vielleicht war es Zeit für einen Abgang. Für ein letztes Aufbäumen gegen das Unvermeidliche.

Timo schob die Tragestange von seiner Schulter und ließ sie heruntersacken. Der Träger neben ihm schrie auf - ob aus blankem Entsetzen über die Tat oder, weil sich das Gewicht schlagartig verlagert hatte, wusste Timo nicht. Es war ihm auch egal. Es war so oder so Musik in seinen Ohren - genauso wie das Krachen des splitternden Holzes und das schrille Quietschen Nallundors. Timo lächelte. Kurz bevor ihn der Schlag des Antreibers an der Schläfe traf.

Sardrowain war natürlich klar, warum die beiden Lackaffen wirklich dabei waren. Offiziell sollten sie für seine Sicherheit sorgen und seinen Status als Ratgeber der Adro’wiai unterstreichen. Aber das war Unsinn. Sie waren dabei, um ihn zu beobachten. Die Adro’wiai, die sich selbst Herrscher Lysin'Gwendains nannten, trauten ihm nicht. Zu Recht, wie sich Sardrowain eingestehen musste. Sie wussten längst, dass er sie insgeheim verachtete - für ihre Trägheit, für ihr Unvermögen, das Schicksal der Elvan jal'Iniai in die Bahnen zu lenken, die es verlangte. Sollten die Adro’wiai ruhig Angst vor ihm haben. Angst hielt sie wenigstens wach. Und es bereitete sie vielleicht auch auf das vor, das unweigerlich auf sie zukommen würde.

Jetzt aber musste er die beiden Lackaffen loswerden. Es waren junge Offiziere, die gerade eben erst die Akademie verlassen hatten. Der Meister erkannte das daran, dass sie nagelneue, himmelblaue Samtuniformen trugen. Andrar hatte die gleiche Kleidung angehabt, als er ihn in die Welt der Menschen begleitet hatte. Andrar, der Verräter, in dem er sich so getäuscht hatte. Aber das war jetzt ohne Bedeutung.

„Bitte wacht vor dem Eingang! Nallundor und ich haben Wichtiges zu besprechen.“

Die Lackaffen sahen ihn verstört an.

„Wir haben den strikten Befehl, Euch zu begleiten, zu Eurem eigenen Schutz, Meister.“

Tumbe Befehlsempfänger. Das war alles, was die Akademie in diesen Zeiten hervorbrachte. Sie wussten nichts, sie konnten nicht denken, nur gehorchen. Na gut. Das machte es hin und wieder auch einfacher.

„Ihr schützt mich am besten, indem Ihr zuseht, dass mir niemand ins Innere dieses Hauses folgt. Niemand von denen, die uns den halben Weg hierher nachgestellt haben.“

Die Lackaffen schenkten sich überraschte Blicke.

„Habt Ihr sie etwa nicht bemerkt?“, setzte Sardrowain nach. „Die Frau mit der weißen Kapuze? Der Reiter mit dem goldenen Kürass? Der Verkäufer von Geschmeide am Rand der Straße? Mir schien es fast, als wollten sie, dass wir sie bemerken.“

Der Mund des einen stand offen. Der andere reagierte schneller.

„Gewiss, Meister“, stammelte er. „Wer weiß schon, welche Gefahr uns von ihnen droht? Wir werden an der Tür warten.“

Na bitte, dachte Sardrowain. Ein simpler Trick wirkte bei den Einfältigen meist besser, als es ein Zauber je könnte. Er nickte den beiden zu und ging durch das schwarze Tor, das einer von Nallundors Sklaven ihm geöffnet hatte.

Sardrowain zwang sich zu einem dünnen Lächeln. Niemand sollte ihm den Zorn anmerken, den allein das Betreten dieses dekadenten Hauses in ihm auslöste. Die glänzend polierten Klinken, der mit silbernen Adern durchzogenen Steinboden, die bunten Wandgemälde, auf denen spärlich bekleidete Elvan jal’Iniai üppige Speisen verdrückten, sich albernen Spielen hingaben oder noch Verwerflicherem. Nallundors Sklave geleitete ihn durch eine lächerlich verkünstelte Säulenhalle, vorbei am Atrium des Stadtpalastes. Sardrowain wusste, dass dies nicht der direkte Weg in Nallundors Wohngemach war, in dem er üblicherweise Gäste empfing. Aber der Grund für den Umweg war offensichtlich. Der Meister sollte die erbärmliche Gestalt sehen, die in der Mitte des Atriums mit festen Silberschnüren an das kahle Skelett eines abgestorbenen Baumes gefesselt war. Das Hemd des Mannes war blutig. Überall dort, wo es zerrissen war, schimmerte die dunkelblaue Farbe heftiger Blessuren durch. Und das Gesicht ließ kaum noch Züge erkennen. So aufgeschwollen und zerschunden war es. Trotzdem erkannte Sardrowain Timo Hemander sofort. Es war jener Verwandelte, den er aus der Welt der Menschen hierher gebracht und dann Nallundor als Sklave geschenkt hatte. Der Meister hatte erwartet, dass sich Timo diesem Schicksal nicht fügen und früher oder später aufbegehren würde. Dennoch war er überrascht, ihn schon so bald in Fesseln hier anzutreffen. Aber sei es drum. Das würde seine Pläne nur beschleunigen.

Er war vorbereitet - wie immer. Sardrowains Lächeln war durch diesen Gedanken deutlich befreiter, als er Augenblicke später Nallundors Wohngemach betrat. Der Raum verbreitete die Behaglichkeit eines Hurenhauses. Es stank nach fettigem Essen und süßlichem Parfum. Dicke, mit Federn gefüllte Kissen waren über die abgestuften Terrassen verteilt. Der Boden glich mehr einer Landschaft als allem anderen. Die Wände waren verhängt mit farbenprächtigen Teppichen. Auch ihre Motive drehten sich stets um all die lasterhaften Ausschweifungen, die in Sardrowains Leben niemals einen Platz finden würden. In diesem Wohngemach, so kam es dem Meister vor, flossen all die Übel, die den Verfall seines Volkes ausmachten, zusammen.

„Meister Sardrowain. Welche Ehre lasst Ihr meinem Haus durch Euren Besuch zuteilwerden! Welche Freude! Möge euch die Macht des Lichts bis zum letzten Eurer Tage treu begleiten!“

Nallundor stapfte mit weit ausgebreiteten Armen und einem feisten Lachen auf ihn zu. Auf seiner Schulter bemühte sich ein Hoktar darum, die Balance zu halten, in dem er seine Schwingen ausbreitete. In den alten Tagen waren diese edlen Tiere zur Jagd abgerichtet worden. Dieser Kerl hatte den Hoktar zum Schmusetier verkommen lassen. Auch das sagte viel über ihn aus.

Nallundors Begrüßung klang wohl überschwänglich. Und doch wussten beide Elvan jal’Iniai nur zu gut, welche abgrundtiefe Kluft zwischen ihnen lag. Dieses Treffen hatte mit Ehre und Freude nicht das Geringste zu tun.

„Seid mir gegrüßt, Nallundor. Ich danke Euch für die Zeit, die Ihr mir und meinem Anliegen schenkt. Ihr seid gewiss …“ - Sardrowains Augen schweiften missbilligend durch den Raum - „… sehr beschäftigt.“

„Aber ich bitte Euch, edler Meister. Nach dem erlesenen Geschenk, das Ihr mir unlängst gemacht habt.“

„Nun, was das angeht, habe ich Euren Geschmack wohl nicht vollends getroffen. War er ungehorsam?“

Nallundor grinste triumphierend. „Oh, Ihr habt ihn im Atrium gesehen? Ja. Er hat zunächst zu meiner Zufriedenheit gearbeitet, doch war es von Beginn an schwer, ihn zu züchtigen. Er ist widerspenstig, äußerst aufmüpfig und er spricht eine fremde, wilde Sprache. Hab Ihr ihn auf Euren Reisen jenseits der schützenden Mauer eingefangen?“

„So ist es. Ich bitte um Entschuldigung und um Erlaubnis, ihm selbst zur Strafe das Licht des Lebens entreißen zu dürfen. Vermutlich wisst Ihr, dass diese Ehre in der alten Tradition unseres Volkes dem Herrn eines Sklaven vorbehalten ist.“

Nallundor stutzte für einen Moment. Natürlich wusste er davon nichts. Wie denn auch? Eine solche Tradition gab es nicht.

„Aber selbstverständlich ist mir diese Sitte bekannt, Meister. Und ich nehme sie so ernst, dass ich darauf bestehe, die Tat selbst zu vollbringen. Wenn ich Euch damit nicht kränke, Meister Sardrowain?“

„Aber nein. Ich vergaß, dass Ihr nun sein Herr seid und nicht mehr ich.“

Widerwillig senkte Sardrowain seinen Kopf. Dieser arrogante, feiste Mistkerl. Wie er den Gedanken daran genoss, den geschenkten Sklaven an seiner Stelle zugrunde richten zu können! Wohl allein aus dem Grund, ihn zu demütigen. Aber auch das hatte der Meister vorhergesehen. Bald war er es, der triumphieren würde. Sehr bald. Unbemerkt von Nallundor blickte er dem Hoktar tief in die schwarzen Augen. Er sah den Drang, sich in die weiten Lüfte Lysin'Gwendains zu erheben, zu jagen und zu töten. Schon bald wirst du frei sein, ließ er ihn wissen, ohne einen Ton zu sagen. Dann wandte er sich wieder seinem Gastgeber zu.

„Aber bitte erlaubt mir, noch ein letztes Mal mit diesem Unwürdigen zu reden. Er hat mir Schande bereitet. Das soll er wissen, bevor er vergeht.“

Nallundor nickte und seine vollen Backen verfärbten sich in ein widerwärtiges Rosa. „Selbstverständlich. Solange Ihr mir nicht die Freude nehmt, ihn auf erquickend langwierige Weise zu vernichten.“

Sardrowain atmete betont erleichtert durch. „Dann wäre das geklärt. Aber zuvor sollten wir reden. Ich nehme an, ihr ahnt, was mich zu Euch führt?“

Nallundor bedeutete Sardrowain mit einer Handbewegung, sich zu setzen. Der Meister ließ sich auf einem großen Kissen nieder, das den Anschein erweckte, einigermaßen neu zu sein. Das gab ihm das Gefühl, auf einem Platz zu sitzen, der an diesem verdorbenen Ort wenigstens ein Mindestmaß an Reinheit besaß. Sein Gastgeber tat es ihm gleich, wenn auch auf weit weniger elegante Weise. Der Kissenbezug blähte sich auf und schien fast zu platzen, als er das Gewicht Nallundors zu spüren bekam. Der Kerl war es nicht wert, sich einen Elvan jal’Iniai zu nennen. Er war ein Fehler, den jemand korrigieren musste.

„Nein, Meister Sardrowain. Ich weiß nicht, warum ihr hier seid. Die Besiedlung der Hänge des Ulyiander wird es ja wohl nicht sein. Denn diese Entscheidung liegt nun allein in den Händen der Adro’wiai. Mögen sie lange leben und herrschen.“

Sardrowain nickte. „Ihre Entscheidung wird gewiss weise sein. Wie immer. Und doch frage ich mich, ob ihnen klar ist, welche Tragweite die Vernichtung der Hänge hat.“

„Sie wissen, welche Tragweite es hätte, würden wir es nicht tun. Die Besiedlung ist notwendig, denn, wie Ihr wisst, ist Wohnraum in San‘tweyna ein knappes Gut geworden. Für die silberne Stadt wäre der Bau der Häuser eine Bereicherung.“

„Wohl eher für Euch, Nallundor, der Ihr die Häuser baut und verkauft. An den Hängen wachsen die letzten Sol’ywen- Bäume auf dieser Seite der Mauer. Sie zu zerstören wäre ein Frevel, den sich unser Volk nicht erlauben darf.“

Nallundor lachte. Sein Spott war unverhohlen. Wie sollte diesem dummen, selbstsüchtigen Kerl auch klar sein, welche Macht in den Sol’ywen-Wurzeln steckte? Welche Waffe sie waren? Seine Visionen beschränkte sich auf gebratene Fasane und leichte Mädchen.

„Verzeiht mir, Meister Sardrowain! Ich respektiere Euren Hang zu überkommenen Riten und den alten Zeiten. In diesem Fall allerdings fehlt mir das Verständnis. Wir brauchen keine Wurzeln, die die Kraft des Lichts sammeln. Dies tun wir selbst in ausreichendem Umfang. Gegen wen sollten wir die Wurzeln auch einsetzen? Auf dieser Seite der schützenden Mauer haben wir keine Feinde. Das, was wir aber brauchen, ist Platz.“

Sardrowains Augen verengten sich. Diese Einfalt! Diese Engstirnigkeit.

„Es mag Euch überraschen, Nallundor. Aber in diesem einen Punkt stimme ich Euch zu: Unser Volk braucht Platz. Auf der anderen Seite der Mauer gibt es reichlich davon. Er wartet darauf, dass wir ihn uns zurückholen."

Nallundor winkte energisch ab. "Was Ihr da wollt, ist Krieg, Sardrowain. Und Krieg ist niemals gut. Er bedeutet Tod, Verwüstung, Entbehrungen. Wer könnte daran schon Gefallen finden? Weshalb sollten wir das für ein wildes, unerschlossenes Land auf uns nehmen?"

"Weil das unsere Bestimmung ist. Die Gründer haben Lysin‘Gwendain erschaffen, damit Elvan jal'Iniai darüber herrschen. Nicht, damit wir den größten Teil dieser Welt grobschlächtigen Monstern überlassen. Stattdessen sperren wir uns selbst hinter mannsdicke Mauern. Das mag Euch reichen, der Ihr Euer Haus kaum noch verlasst. Andere in unserem Volk spüren längst, wie erbärmlich beschränkt ein Dasein in diesem silbernen Käfig sein muss."

Der Hoktar flatterte mit den Flügeln und flog schließlich aus dem Raum. Nallundor sah ihm einen kurzen Moment verstört nach. Dann erhob er sich, ein Akt, der sich quälend in die Länge zog. Als der dicke Kerl endlich aufrecht vor ihm stand, atmete er schwer. Erst jetzt sprang auch Sardrowain auf - mit provozierender Leichtigkeit. Nallundor aber schien das kaum zu beeindrucken.

"Mir scheint, dass wir in diesem Punkt niemals übereinstimmen werden, teurer Meister Sardrowain. Aber das müssen wir auch nicht. Denn es sind die Adro’wiai - mögen sie lange leben und herrschen - die nun zu entscheiden haben. Bedauerlich für Euch, dass ihre Entscheidung wohl kaum in Eurem Sinne ausfallen wird."

"Wir werden sehen, Nallundor. Wir werden sehen."

Timo steckte tief in einem zähen Morast aus Schmerz und Erniedrigung. So jedenfalls fühlte sich die unendlich lange Zeit an, die er schon an dieses Baum-Wrack gefesselt war. Warum brachte es der Fettsack nicht einfach nur zu Ende? Stattdessen quälte er ihn, schlug ihn immer wieder. Wahrscheinlich, weil er wusste, dass der Tod eine Erlösung für Timo gewesen wäre. Er wollte ihn leiden lassen. War es das wert gewesen? Er grinste bei dem Gedanken an Nallundors wutverzerrtes Gesicht - in dem Moment, als er sich aus der umgekippten Sänfte wälzen musste. Ein schneidender Schmerz in der Stirn brachte Timo zum Husten. Blutfäden tropften aus seinem Mundwinkel. Scheiße. Wie hatte er nur so tief abstürzen können?

Jemand kam auf ihn zu. Timo spürte es, mehr als er es sehen konnte. Seine zugeschwollenen Augen ließen längst kein zuverlässiges Bild mehr zu. Nallundor? Nein. Das hätte er längst gerochen. Es war jemand anderes. Jemand, den er kannte. Eine kräftige Hand legte sich an seine Kehle, drückte seinen Kopf unsanft gegen das Holz des Baumes. Trotzdem ließen zu Timos Überraschung die Schmerzen schlagartig nach. Blanke Kraft schien durch die Hand an seinem Hals in den Körper zu strömen, als sei er ein Akku, der kurz vor der totalen Entladung ans Netz angeschlossen wurde.

„Besser, du nicht zeigst zu viel Erleichterung, Timo Hemander. Nallundor glaubt, dass zornig ich bin auf dich, weil du meine Ehre hast befleckt. Er beobachtet uns.“

Diese schneidende Stimme. Sie gehörte dem Kerl, der ihn durch den Wald geschleppt hatte.

„Töte ihn, Timo Hemander! Und Männer werden dich in den Palast bringen. Dort ich werde dich erwarten.“

„Wie?“, quälte Timo hervor. Verdammt. Er war nun wirklich nicht in der Position, um irgendjemanden umzubringen.

„Dein Ärmel!“, zischte der Albe und ließ ihn los. Was zum Teufel … Da war etwas. Der Kerl hatte ihm etwas ins Hemd gesteckt.

„Bassai!“, bellte er ihm dann entgegen und spuckte ihm ins Gesicht. Bei Gelegenheit würde Timo ihn fragen müssen, was dieses verfluchte Wort bedeutete.

Nallundors Daumen zuckte - so wie immer, wenn er sich aufregte. Trotzdem freute er sich auch. Er hatte Sardrowain so respektlos behandelt, wie es ihm nur möglich gewesen war. Er hatte ihm gezeigt, dass kampfeslustige, alte Krieger wie der Meister ein Relikt der Vergangenheit waren. Vielleicht hatte es mal eine Zeit gegeben, in der Männer wie Sardrowain von Nutzen waren. Jetzt aber störten sie nur noch. Sie standen einem Leben des Genusses und der Bequemlichkeit im Weg. Sie standen seinen Plänen im Weg. Nallundor ging zwar davon aus, dass die Adro’wiai seinem Vorhaben wohlwollend gegenüberstanden. Aber verlassen konnte er sich darauf nicht. Er würde Sardrowain töten lassen. Oder aber die Adro’wiai dazu bringen, ihn zu vernichten. Sogar ein mächtiger, alter Meister wie er konnte sterben. Nallundor verzog die Lippen zu einem entschlossenen Grinsen.

Jetzt aber war es erst mal dieser dreiste Wilde, dessen Leben er auslöschen würde. Langsam und genussvoll würde er ihn den Tod schmecken lassen. Eine Ehre also, die nach alter Tradition dem Herrn vorbehalten war? Nun, vielleicht gab es ja doch ein paar alte Sitten, an denen Nallundor Gefallen finden konnte. Er zog seinen mit silbernen Schmucksteinen besetzten Dolch aus seinem Gewand, durchschritt die Säulenhalle und betrat das Atrium. Beinahe leblos hing dort die abgerissene Gestalt in ihren Fesseln. Ihn derart abzustechen, würde keine Freude bringen. Dieser Sklave! Er sollte sich auf dem Boden winden, ihn um Gnade anflehen. Nallundor wollte ihm in die Augen sehen, wenn sein Lebenslicht verging.

„Macht ihn los!“, rief er seinen Antreibern zu.

Timo spürte, wie sich die Fesseln lösten. Würde man ihn gehen lassen? Blödsinn! Natürlich nicht. Er roch Nallundors widerlichen Duft. Der Fettsack war in der Nähe und vermutlich drauf und dran, ihn ein weiteres Mal zu schlagen oder noch Übleres mit ihm anzustellen. Jemand packte ihn an den Armen, zerrten ihn ein oder zwei Meter über den Boden. Timo ging sofort auf die Knie, als er wieder losgelassen wurde. Der Albe mit der schneidenden Stimme hatte ihm etwas von seiner Kraft zurückgegeben. Aber es reichte nicht, um aufzustehen und davonzulaufen. Timo blinzelte, versuchte, durch seine geschwollenen Augen etwas zu erkennen. Nallundors Gesicht war dicht vor ihm. Es war unscharf. Trotzdem war die Häme, die Lust am Quälen überdeutlich. Ebenso wie der Dolch, mit dem der Fettsack Timo einen tiefen Schnitt an der Schulter verpasste. Noch mehr Schmerzen! Timo stöhnte auf.

Töte ihn, Timo Hemander! Und Männer werden dich in den Palast bringen.

Was hatte er schon zu verlieren? Timo tastete nach dem kleinen Holzkästchen, das der Albe heimlich in seinen Ärmel gesteckt hatte - unterhalb seines Handgelenks. Es war rechteckig, rau. Aus der vorderen Seite ragte eine metallene Spitze ein paar Zentimeter heraus.

Wieder schnitt Nallundors Dolch durch seine Haut. Diesmal an seiner linken Wange. Der widerliche Kerl quiekte fast vor Vergnügen. Timo hatte nicht mehr viel Zeit, nicht mehr viel Kraft.

Er schob das Kästchen behutsam nach vorne, sodass es versteckt von seiner Hand aus dem Ärmel ragte. Es musste eine Art Auslöser geben, etwas, das den Pfeil - oder was auch immer das war - losschießen würde.

Nallundor stach ihm in die Seite. Wohl nicht tief, aber der Schmerz war heftig. Timo spürte das Blut, das in Bächen aus seinem Körper zu fließen schien.

Da, eine Vertiefung, eine Art Knopf auf der Oberseite des Kästchens. Das musste es sein. Es war seine letzte, seine einzige Chance. Timo hob die Hand, richtete sie auf Nallundor. Der Albe holte mit dem Dolch aus, als Timo seinen Zeigefinger in die Vertiefung drückte. Er hörte ein Schnalzen, spürte einen Ruck und sah etwas Längliches in Nallundors Kinn eindringen. Der Pfeil verschwand vollständig im Kopf des Alben. Ungläubige, hohle Augen sahen ihn einen Moment lang an. Nallundors Mund öffnete sich leicht. Ein Lichtschimmer drang aus seinem Rachen, etwas, das Momente später seinen ganzen Körper erfasste. Und kurz darauf nahm Nallundors Haut eine silbergraue Farbe an, als würde er sich in eine poröse Statue verwandeln. Dann zerfiel er zu einem beachtlichen Haufen silbernen Staubs.

Sardrowain hatte in den letzten beiden Tagen viel nachgedacht. Er war sich dessen bewusst, dass sein Spiel gefährlich war. Sehr gefährlich. Aber er hatte keine Zweifel. Sollte ihm sein Kampf den Tod bringen, dann würde er in der Gewissheit sterben, das Richtige getan zu haben. Er konnte nicht anders - wohin auch immer ihn sein Weg bringen würde. Die kommenden Tage waren entscheidend. Auch das war ihm klar. Wieder und wieder war er seine Argumente durchgegangen, hatte Szenarien durchgespielt, seine Möglichkeiten ausgelotet. Die Adro’wiai - sie mussten doch erkennen, was vor sich ging. Dass dies eine Entwicklung war, die sie nutzen mussten. Immerhin: Noch war Sardrowain frei und am Leben. Allein das war vermutlich ein gutes Zeichen.

Der Meister drückte die Rolle, die er unter seinem Arme trug fest an sich. Er durchschritt den langen Gang unter der hohen schlichten Decke, vorbei an den gewaltigen Fenstern. Sie ließen so viel Licht ins Innere des Palastes fluten wie irgend möglich. Und sie gaben den Blick frei auf die Parkanlage mit ihren streng geschnittenen Hecken und den spitz in den Himmel ragenden Bäumen. Sardrowain mochte den Hagas'Harwun, den Sternenpalast im Herzen San'tweynas. Er war eines Herrschers über die Welt würdig. Wie eine gewaltige Blüte wölbte er sich in die Höhe, bestehend aus fünf geschwungenen Blättern und einem emporragenden, runden Turm in deren Mitte. Dach und Wände waren mit dem silbernen Staub der vergangenen Helden überzogen, auf dass sie dem Licht auf ewig nahe waren und ihre Kraft an die Lebenden weitergaben. Einmal nur war Sardrowain vor Jahrhunderten in einer Barke über die Stadt geflogen und hatte den Hagas'Harwun von oben sehen dürfen. Er suchte seinesgleichen. Jede Windung, jeder Stein des Palastes schrien danach, Teil von etwas noch Größerem zu sein.

Der Meister betrat den Thronsaal. Die Sonne drang durch schmale, lange Fenster ins Innere des Saals. Sie reichten von der Mitte der bestimmt zehn Pferdelängen hohen Wand bis weit hinein in die gewölbte Decke. Linien des Lichts, die den Saal erhellten und dabei alles, was sich in ihm befand mit einem Muster aus Streifen und Schatten überzogen. Der Raum schien an keiner Stelle symmetrisch zu sein, und doch kam er Sardrowain der Vollkommenheit so nahe vor, als wäre er für die Ewigkeit gemacht, als wären die Sterblichen, die sich in ihm aufhielten, nur eine Episode. Allein zwei schlichte Statuen, von denen Sardrowain nicht wusste, wen sie darstellten, schmückten den Raum. Der Boden strahlte grausilbern. In Terrassen erhob er sich scheinbar gemächlich in Richtung der drei Throne. Sie standen nebeneinander, allerdings im Abstand von mindestens einer Mannslänge. Riesige Lehnen mündeten in kunstvoll gestaltete Sonnen. An jeder Zacke war eine silberne, dünne Stange befestigt, die wie ein Strahl mehrere Armlängen weit reichte. Die Sonnen gaben den Adro’wiai, die auf den Thronen saßen, eine Aura von Erhabenheit und Macht. Wer hier vorsprach, sollte von Demut ergriffen sein, sollte sich seiner Unwichtigkeit angesichts der drei Herrscher bewusst sein. Auch Sardrowain hätte die Adro’wiai gerne bewundert und verehrt. Doch er konnte nicht, weil er wusste, wie schwach und ängstlich sie waren.

Der Meister blieb in gebührendem Abstand vor den Thronen stehen und verbeugte sich. Ein Diener reichte ihm ein Tablett mit einem metallenen Becher. Eine alte Sitte, die auf die Zeit zurückging, in der Bittsteller tagelang unterwegs gewesen waren, um ihr Anliegen vorzutragen. Ihr Durst sollte gelöscht werden, damit sie mit klarem Verstand sprechen konnten. Doch der Meister lehnte ab. In diesem Palast etwas zu trinken, konnte tödlich sein. Hohe Würdenträger und sogar zwei Adro’wiai hatten durch eine plötzlich auftretende, rätselhafte Krankheit ein vorzeitiges Ende gefunden.

„Euer Misstrauen ist beleidigend, Sardrowain. Glaubt Ihr, wir brauchen Gift, um uns Eurer zu entledigen? Ihr seid eine Schlange. Die Gefahr wäre groß, dass ihr durch Gift nur noch stärker werden könntet, anstatt zu sterben.“

Es war Lugwin, der sprach. Er war der mächtigste Adro’wiai und mit großem Abstand der Älteste. Er war noch einer jener Neuen Herrscher, die vor zwei Jahrtausenden den Lorrwain, den Krieg, der das Volk des Elvan jal'Iniai spaltete, begannen. Die drei mächtigsten Familien San'tweynas hatten sich damals gegen die Großmeister des Lichts aufgelehnt, deren selbstsüchtiges Streben nach Vollkommenheit und Harmonie sie verachteten. Sie wollten Größeres, die Herrschaft über beide Welten, ein Reich, wie es noch niemals zuvor existiert hatte. Doch sie waren gescheitert.

Lugwin sah alt aus und müde. Sein Gesicht war zerfurcht. Die hellgrünen Augen hatten ihren Glanz verloren. Seine langen weißen Haare, die ihm beinahe bis zur Hüfte reichten, waren fahl. Und doch saß er noch immer stolz in seinem Thron, gekleidet in einen schwarzen Mantel mit hochstehendem Kragen. Um seinen Hals hing der rote Stein des Lichts, eingefasst in zwölf silberne Ringe, die ihn scheinbar lose umgaben, einen Kreis um ihn herum bildeten, in dessen Mitte der ovale Stein schwebte. Er war Symbol für die Kraft des Feuers und die Macht eines Adro’wiai. Aber der Stein war weit mehr als das, wusste Sardrowain. Er war untrennbar verbunden mit den Steinen der anderen beiden Herrscher. Alle drei zusammen waren ein Bollwerk gegen fast alle denkbaren Zauber, die den Adro’wiai hätten gefährlich werden können. Ein unüberwindbarer Schutz, jedenfalls so lange, wie die Herrscher zusammenhielten. Lugwin blickte streng auf Sardrowain hinab.

„Aber sagt mir, Meister“, setzte er nach. „Fühlt Ihr Euch sicher? Glaubt Ihr, wir würden Eure Taten … übersehen? Vielleicht, weil wir Eure Zauberkräfte fürchten?“

Sardrowain hielt seinem Blick stand. Er war weit gegangen. Zu weit, um jetzt noch umkehren zu können.

„Ich würde Euch niemals unterschätzen, erhabener Herrscher. Ihr seid es, der auf dem Thron sitzt. Ihr seid es, der weiß, was für Lysin'Gwendain, für den Teil davon, über den Ihr herrscht, am besten ist.“

Lugwin schnaubte verächtlich. Die beiden anderen Adro’wiai warfen Sardrowain strafende Blicke zu. Da war Solungar. Gerade mal 210 Jahre war er wohl alt. Nach dem rätselhaften Tod seines Vorgängers hatte er einst auf Betreiben Lugwins den weißen Stein der Luft umgehängt und den freien Thron eingenommen - als dessen treuer Lakai. Er war ein Schönling mit bernsteinfarbenen Augen und hellem Haar, das er der neuesten Mode folgend kurz trug. Seine Kleidung war aus grünem Samt gefertigt. Solungar saß bestenfalls zur Zierde hier. Viel lieber als zu herrschen, so erzählte man sich, stellte er den Frauen nach. Sardrowain hatte keinen Zweifel daran, dass all der Klatsch über ihn stimmte.

Welankwain war der dritte Adro’wiai, Träger des blauen Steins des Wassers, ein kräftig aussehender, großer Elvan jal'Iniai mit markantem Kinn und wachen, grünen Augen. Er trug entgegen jeder Mode einen dünnen, stoppeligen Bart und hatte die braunen Haare zu einem Zopf zurückgebunden. Sardrowain wusste, dass er damit seine Locken bändigte, die in manchen Kreisen San'tweynas als Makel galten. Andererseits war Welankwain niemand, der sich darum scherte, was andere über ihn erzählten. Er galt als besonnen und zurückhaltend. Der Meister wusste aber, dass man ihn niemals unterschätzen durfte. Er war ein Mann, der seine Ziele rücksichtslos verfolgte, wenn sie ihm wichtig genug waren. Das hatte er in den rund 300 Jahren, die er bereits auf dem Thron saß, mehr als einmal unter Beweis gestellt.

Lugwin klatschte in die Hände. Nur Augenblicke später trugen vier Diener einen eisernen Käfig in den Thronsaal und stellten ihn neben Sardrowain ab. Timo Hemander kniete darin. Seine dürren Hände umklammerten die Gitterstäbe. Er sah erbärmlich aus. Er trug noch immer das zerrissene, blutige Hemd und seine Wunden waren gerade so weit geheilt worden, dass er nicht drohte, daran zu sterben. Die Schwellungen in seinem Gesicht allerdings waren deutlich zurückgegangen. Sardrowain erkannte Zorn in seinem Blick. Und tiefe Verachtung. Gut. Timo Hemander war genau da, wo er ihn haben wollte.

„Dieser Sklave hier hat den ehrenwerten Nallundor getötet“, sagte Lugwin. „In seinem eigenen Haus. Aber das wisst Ihr ja, Sardrowain. Denn Ihr habt diesen Mann aus der anderen Welt mitgebracht und Ihr habt ihm die Waffe zugesteckt, mit der er die Tat vollbracht hat. Bitte erweist uns wenigstens so viel Achtung, dies nicht zu leugnen.“

Sardrowain nickte.

„Nallundor war selbstsüchtig, anmaßend und intrigant. Sein Tod ist für niemanden ein Verlust.“

„Nallundor gehörte zu den alten Familien San'tweynas. Sein Großvater hat an meiner Seite im Lorrwain gekämpft.“

„Und er ist von Anwindar, seinem eigenen Sohn und Nallundors Onkel verraten worden. Die Heerführerin Larinil soll ihn selbst getötet haben. Ich kenne die alten Schriften.“

„Ihr habt seine Linie ausgelöscht“. Lugwins Stimme war laut und stark geworden. „Wie könnt Ihr es wagen, diese Tat auch noch zu rechtfertigen?“

„Nallundor hätte Timo Hemander getötet. Das konnte ich nicht zulassen.“

Welankwain lachte spöttisch auf.

„Verkauft uns nicht für dumm, Meister Sardrowain! Was geschehen ist, das ist nur deshalb geschehen, weil Ihr es so gewollt habt. Und doch würde ich Euren Plan gerne verstehen. Ihr sagt, dieser Verwandelte aus der Welt der Menschen ist von großem Wert für uns. Dies habt Ihr in Euren Berichten über Eure Reise mehr als einmal erwähnt. Trotzdem habt Ihr ihn Nallundor als Sklave geschenkt und ihn als Instrument Eurer Mordlust missbraucht. Warum?“

Sardrowain schwieg für einen Moment. Er musste vorsichtig sein mit dem, was er sagte. Welankwain war klug. Zu klug, um ihn täuschen zu können.

„Nur ein Krieger, der weiß, was es zu verlieren und zu gewinnen gilt, ist ein guter Krieger“, sagte der Meister dann.

„Wollt Ihr damit sagen, Ihr habt ihm damit eine Lektion erteilt?“, entgegnete Welankwain. „Wenn das Eure Art ist, getreue Verbündete zu gewinnen, frage ich mich, ob es nicht besser ist, Euer Feind zu sein.“ Sein Blick hatte nun etwas Amüsiertes. Er verstand, was Sardrowain getan hatte. Und er verurteilte es nicht. Das war offensichtlich. Anders allerdings war das mit Lugwin.

„Wir durchschauen Eure Pläne, Sardrowain“, polterte er. „Ihr wollt einen Krieg. Ihr wollt, dass wir ins Feld ziehen gegen alles und jeden, der sich jenseits unserer schützenden Mauer befindet. Gerade ihr müsstet es besser wissen. Wart Ihr nicht dort an jenem Tag vor bald 700 Jahren, als Gorgoils unser Heer niedergemetzelt haben? So viele Schlachten, Sardrowain. Und wofür? San'tweyna blüht. Wir leben in Frieden, hinter einer Mauer, die uns schützt. Warum wollt Ihr das aufs Spiel setzen?“

Sardrowain schnaufte. Lugwin wollte nicht zuhören. Er hatte doch seine Berichte gelesen. Er musste doch sehen, was geschah. Abtrünnige verbündeten sich in Lysin'Gwendain mit Gorgoils, in der anderen Welt verwandelten sich Menschen in Elvan jal'Iniai und scharten sich um Geysbin und die seinen. Wenn die Adro’wiai nicht in den Krieg zogen, dann würde der Krieg zu ihnen kommen. Unweigerlich. Mit aller Härte.

Er sagte nichts. Stattdessen packte er den eingerollten Gegenstand, den er bei sich hatte, und wickelte ihn aus der Decke. Das Gewehr. Einer von Pieter van den Bergs Kriegern hatte ihm die Waffe gegeben. Sardrowain war fasziniert davon. Bis zu seinem Besuch in der Welt der Menschen hatte er geglaubt, dass ohne Magie keine wirkungsvolleren Waffen angefertigt werden könnten als die doppelschüssigen Armbrüste, die er so gerne verwendete. Die Menschen aber hatten es dennoch vollbracht. Innerhalb weniger Jahrhunderte war es ihnen gelungen, das Fehlen magischer Fähigkeiten durch technische Errungenschaften nahezu auszugleichen. Das war bemerkenswert.

„Was ist das?“, blaffte Lugwin.

Sardrowain antwortete nicht. Stattdessen hob er die Waffe, zielte und schoss zweimal. Eine der Statuen explodierte in einem Regen aus tausend kleinen Bruchstücken.

Entsetzt sprangen die Adro’wiai auf. Soldaten rannten mit gezogenen Schwertern auf Sardrowain zu. Eine Geste Welankwains gebot ihnen Einhalt.

„Bei den Gründern, Sardrowain“, schrie er. „Was tut Ihr da?“

Der Meister sah den Herrschern in die Augen. Er erkannte den Schrecken und die Angst. Wenn er sie für seine Ziele gewinnen konnte, dann nur in diesem Moment.

„Diese Waffe haben Menschen gefertigt. Und glaubt mir, ehrwürdige Herrscher, es ist eine kleine Waffe, verglichen mit denen, die ich noch gesehen habe. Die Menschen verstehen es, ganze Städte auszulöschen. Sie fliegen, sie durchqueren ihre Meere unter dem Wasser. Sie haben Geräte, mit denen sie über hunderte, sogar tausende Pferdelängen hinweg miteinander sprechen können. Ihre Körper mögen schwach sein. Die Macht des Lichts mag ihnen verschlossen sein. Aber glaubt mir: Ihre Macht ist gewaltig.“

Lugwin, der sich wieder gesetzt hatte, winkte empört ab.

„Eure Berichte, Sardrowain. Lügen! Nichts davon deckt sich mit dem, was vor nicht langer Zeit in diesem Saal Wandrobior, der Reisende, vorgetragen hat. Nichts davon?“

„Vor nicht langer Zeit?“, wiederholte Sardrowain ungläubig. Er konnte nicht verhindern, dass sich seine Stimme dabei überschlug. „Erhabener Herrscher. Wandrobior hat die Welt der Menschen vor mehr als drei Jahrhunderten bereist. Die Welt, die er erlebt hat, war eine vollkommen andere als die, die ich gesehen habe. Verzeiht, wenn ich das so offen sage. Aber es wäre töricht, davor die Augen zu verschließen. Geysbin und Larinil leben. Sie scharen in der Welt der Menschen, in jener Welt, die ich Euch eben beschrieben habe, ein Heer verwandelter Elvan jal'Iniai um sich. Und selbst hier, vor unserer schützenden Mauer, verbünden sich Geysbins Gefolgsleute mit den Rotten der Gorgoils. Was glaubt Ihr: Wie lange haben wir noch, bis sie unsere Mauer überwinden und uns beim Baden, Speisen oder Huren überraschen? Nun, ich bin sicher, dass unsere Soldaten selbst dann noch sagen werden, dass dies gerade nicht geschehe, weil es nach der wahrhaftigen Lehre unserer Akademie gar nicht möglich sei.“

Sardrowain atmete tief ein. Er war laut geworden. Er hatte seinem Zorn freien Lauf gelassen. Möglicherweise ein Fehler, dachte er. Vielleicht aber auch nicht.

„Jetzt“, sagte Lugwin ruhig. „Jetzt seid Ihr zu weit gegangen, Meister Sardrowain. Eure Dienste waren stets von großem Wert für uns. Allein deshalb haben wir über Eure eigensinnigen Taten und Eure ketzerischen Reden hinweggesehen. Unsere Milde aber scheint Eure Anmaßung nur gestärkt zu haben. Nun, Ihr und Euer Gefährte aus der anderen Welt werdet im Verlies Gelegenheit haben, darüber nachzudenken - in den wenigen Tagen, die Euch bis zu Eurer Hinrichtung noch bleiben.“

Sein Blick wanderte zu den beiden anderen Adro’wiai. Ihr Nicken signalisierte Zustimmung. „Ergreift ihn!“, rief er dann den Soldaten zu.

Lichtsturm III

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