Читать книгу Lichtsturm III - Mark Lanvall - Страница 6
Hinrichtung
ОглавлениеEs gab wohl auch eine ausgeprägte zynische Seite an ihm, die Timo bisher nur noch nicht entdeckt hatte. Nur so konnte er sich erklären, dass er ausgerechnet jetzt darüber nachdachte, wie der Titel seiner Biografie lauten könnte. Nicht, dass es jemals eine geben würde. Timo war dazu zu unbedeutend und würde wohl auch nicht mehr lange leben. Egal. „Mit Vollgas in den Dreck“ würde ganz gut zu ihm passen. Immerhin war er mal Automechaniker gewesen, als er vor einer gefühlten Ewigkeit als Mensch in Österreich gelebt hatte. Eines seiner größten Probleme damals war, wie er seinem aufgemotzten 5er-BMW den richtigen Sound verpassen konnte. Er musste grinsen bei dem Gedanken an solche Belanglosigkeiten. „Von Knast zu Knast“ wäre auch nicht so schlecht gewesen. Erst hatten ihn ein paar Verrückte in einer Berghütte an die Wand gekettet, weil sie glaubten, er sei Teil einer albischen Weltverschwörung, dann war er Nallundors Sklave gewesen. Und jetzt? Jetzt saß er in einem kalten, kahlen und dunklen Raum, der nur deswegen nicht völlig deprimierend war, weil er an einer Seite Gitterstäbe statt einer massiven Wand hatte. Das verhinderte immerhin, dass Timo glaubte, er würde in einem Container stecken. Und er hatte diesmal sogar jemandem, dem er Vorwürfe machen konnte. Der Kerl saß in der Zelle neben ihm, auf der anderen Seite der Gitter, im Schneidersitz auf dem Boden.
„Hey, was soll's? Du hast recht gehabt. Ich habe den Fettsack umgebracht. Jetzt bin ich hier im Palast und ich treffe dich wieder. Hat doch wunderbar geklappt.“
Er hörte, wie der Albe scharf ausatmete. Er konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber er wusste, dass er wohl kaum glücklich dreinblickte. Es war offensichtlich, dass sein Plan nicht aufgegangen war. Timo hatte nichts davon verstanden, was da in dem großen Saal diskutiert worden war. Das Ergebnis davon allerdings gefiel ihm nicht.
„Aber mach dir nichts draus! Es war mir ein inneres Feuerwerk, den Mistkerl ins Jenseits befördert zu haben. Oder wohin auch immer die Reise für uns Alben geht, wenn wir tot sind.“
„Deine Tat ein großer Trost ist für mich, Timo Hemander“, sagte der Albe. Seine Stimme hatte noch immer etwas Brutales. Sie war aber weit weniger schneidend als sonst. „Ohne Nallundor die Welt ist weit besser. Immerhin das uns ist gelungen.“
„Ja“, lachte Timo und musste feststellen, dass ihm seine Schnittwunden noch immer wehtaten, wenn er sich ruckartig bewegte. „Wir beide hätten sicher Großes vollbringen können. Was auch immer das gewesen wäre, weswegen du mich hierher verschleppt hast. Sänftentragen und schmierige Sadisten umbringen war sicher nur der Anfang, oder? Was war dein Plan?“
„Kämpfen, siegen, befehlen. Dafür du bist gemacht, Timo Hemander. Du große Stärke hast. Du es nur nicht weißt. Noch.“
Timo musste schon wieder lachen.
„Ja klar. Und du ein Scheiß Deutsch sprichst. Aber egal. Wen stört das schon, wenn wir beide über die Welt herrschen?“
Der Albe schwieg. Hatte wohl keinen sehr ausgeprägten Sinn für Humor. Vielleicht brachten ja ein paar direkte Fragen das Gespräch in Gang.
„Bei der Gelegenheit: Wer zum Geier bist du eigentlich? Warum hast du mich hierher gebracht, in diese beknackte Welt? Was passiert jetzt mit uns? Und was, verdammt nochmal, bedeutet 'Bassai'.“
Mit einer wahnwitzig schnellen Bewegung war der Albe am Gitter. Entschlossen, fast schon aggressiv fixierten ihn diese tiefliegenden, verschlagenen Augen. Aber da war noch etwas Anderes. Der Albe strahlte Kraft aus, scheinbar grenzenlose Kraft. Seine Stimme war wie ein machtvoller Windstoß.
„Erste Frage: Ich bin Sardrowain, Meister des Lichts. Zweite Frage: Du bist Schlüssel in die andere Welt. Du bist der, der Krieger hinter sich scharen wird, um sich zu holen, was ihm zusteht.“
Der Albe, Sardrowain, schwieg für einen langen Moment. Timo wagte nicht, zu atmen. Und ihm fiel auch nichts ein, das er darauf hätte erwidern können. Das war absurd.
„Dritte Frage: drei Möglichkeiten. Erste: Jemand uns befreit. Zweite: Uns die Flucht gelingt. Letzte: Wir werden hingerichtet.“
Timo brachte ein schwaches Grinsen zustande.
„Na gut. Wenn ich eine Wahl hab ...“
„Letzte Frage. 'Bassai“ wir nennen eine Larve, die nicht imstande ist, zu schlüpfen und ihre Flügel zu entfalten. Ein Schimpfwort. Menschen würden sagen: 'Versager'“
„Nett“, entgegnete Timo und schluckte. Irgendwie traf ihn das, obwohl er natürlich nicht ernsthaft mit einem Kompliment gerechnet hatte.
„Gib mir Deine Hand!“
Das war keine Bitte, sondern ein Befehl. Verdammt. Wieder jemand, der ihn herumkommandierte. Und trotzdem. Irgendetwas sagte Timo, dass es richtig war. Sardrowain war hier sein einziger Verbündeter, wenn es überhaupt einen gab. Er gehorchte. Der Albe nahm seine Hand, umschloss sie mit seinen eigenen Händen. Sofort spürte Timo wieder, wie die Energie floss. Seine Schmerzen nahmen ab, verschwanden schließlich völlig. Sardrowains Kraft erfüllte seinen Körper. Timo kam sich vor wie eine kaputte Glühbirne, die innerhalb von einer Sekunde repariert und zum Glühen gebracht wurde. Und mit der Energie kam zornige Entschlossenheit. Verflucht nochmal! Was, wenn der Albe recht hatte? Was, wenn da doch noch etwas war? Etwas Machtvolles? Eine Mission?
Und dann war er auf einmal unsagbar müde. Er würde jetzt schlafen, einen tiefen, erholsamen Schlaf. So wie schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr.
Die drei stählernen Riegel der Zellentür gaben ein quälend schrilles Schleifen von sich, bevor sie mit einem Knall einrasteten. Das Geräusch prallte von den kalten Wänden wider und erfüllten den Raum mit einer wabernden Wolke aus Lärm. Sardrowain war sofort wach. Auch er hatte sich ein wenig Ruhe gegönnt, nachdem er Timo Hemander den heilenden Schlaf geschenkt hatte. Was auch immer nun geschehen würde. Sie beide würden Kraft brauchen.
Fast zeitgleich öffneten sich die Zellentüren - seine und die von Timo Hemander. Je drei Offiziere stürmten hinein, mit gespannten Armbrüsten im Anschlag. Sie alle waren auf Sardrowain gerichtet. Natürlich. Von ihm ging die größte Gefahr aus. Die Adro’wiai wussten, wozu er fähig war. Sie wussten, dass er den Zauber der Unsichtbarkeit beherrschte und dass sein Gedanke reichte, um Schädel platzen zu lassen. Um ihn abzuholen, hatten sie statt einfacher Soldaten Offiziere geschickt - ergebene, furchtlose Lakaien. Das wiederum bedeutete nichts Gutes. Es bedeutete, dass Sie gekommen waren, um ihn und Timo Hemander zur Hinrichtung zu führen. Nun, wenn dies der Weg der drei Herrscher war, dann hatten sie nichts Besseres als den Untergang verdient. Sardrowain blieben nun nicht mehr viele Möglichkeiten. Eine davon war der Versuch, die Adro’wiai zu töten, bevor ihn selbst ein Bolzen oder ein Schwert treffen würde. Der Meister kniete auf dem Zellenboden. Er schloss einen Moment lang die Augen und atmete tief ein.
„Bitte, Meister Sardrowain.“ Die Stimme klang ruhig und bestimmt. Sie gehörte einem weiteren Offizier, der die Zelle eben erst betreten hatte. Er war älter als die anderen. Die Schläfen seiner sonst tiefschwarzen Haare waren ergraut. Hellgrüne, wachsame Augen flankierten eine außergewöhnlich große Hakennase, die dem Mann einen energischen Ausdruck verlieh. Fünf silberne Streifen am Ärmel der samtblauen Uniformjacke verrieten, dass er den Rang eines Heerlenkers bekleidete. Das war bemerkenswert. Ein so hoher Offizier war gekommen, um ihn zum Schafott zu geleiten?
„Ich bitte Euch: Tut nichts Unbedachtes!“, sagte er. „Meine Männer haben Befehl, zu schießen, sollten sie auch nur das Gefühl haben, dass Ihr einen Zauber erwägt. Es liegt mir nichts an Eurem Tod.“
Sardrowain sah ihn erstaunt an. Was sollte diese Bemerkung? War er etwa nicht auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung? Der Meister erhob sich, nickte dem Heerlenker ruhig zu.
„Gut“, erwiderte der und gab den Befehl, ihn und Timo Hemander die Hände hinter den Rücken zu fesseln. Während das geschah, beobachtete Sardrowain den Verwandelten. Er war wieder bei Kräften. Und mehr noch. Seine Miene war die eines Kämpfers. Hatte er sein Schicksal angenommen? Sardrowain lächelte. Vielleicht war dies ja ein Zeichen. Ein gutes Zeichen.
Die Offiziere brachten sie aus den Untergeschossen des Palastes über schier endlose Treppen in die lichten Etagen des Hagas'Harwun. Sie durchquerten den Saal der Schlachten, einen langgezogenen, breiten Gang, in dem all die auf Gemälden verewigt waren, die in der Geschichte Lysin'Gwendains Ruhm und Ehre erworben hatten - und all die, von denen es behauptet wurde, obwohl ihr Verdienst vor allem darin lag, zu einer der reichen und mächtigen Familien San'tweynas zu gehören. Hunderte Porträts waren über die hohen Wände in mehreren Reihen verteilt. Es waren ganz alte dabei, andere sahen so aus, als seien sie erst innerhalb der letzten hundert Jahre aufgehängt worden. Ein Bild von Sardrowain allerdings würde hier niemals hängen. Er war ein Mann des Schattens, ein Mörder ohne Ehre und Erbarmen. Seine Taten waren zwar zumeist im Sinne der Adro’wiai gewesen, aber sie taugten nicht für Ruhm und Ruhmeshallen.
Der Meister wusste außerdem, worin die Bedeutung seines Weges durch den Saal lag. Verurteilten sollte ein letztes Mal vor Augen geführt werden, wie ehrlos und nutzlos ihr Dasein gewesen war - im Vergleich mit den Männern und Frauen auf den Bildern. Einmal noch sollten sie tiefe Demut empfinden, bevor die Klinge des Henkers ihr Leben auslöschte. Bei Sardrowain hinterließ der Saal allerdings keinen Eindruck. Ihm waren andere Dinge wichtiger, als auf einem Bild verewigt zu werden.
Am Ende des Saals schließlich gab es eine Pforte, die direkt auf den Großen Platz San’tweynas führte. Dort wurden stets die öffentlichen Hinrichtungen vollzogen, wusste der Meister. So vielen hatte er schon selbst beigewohnt. So viele waren es in der jüngeren Zeit gewesen. Männer und Frauen, deren einziges Vergehen es war, gegen die Lügen aufzubegehren, mit denen die Adro’wiai das Volk lähmen wollten. Zu viele.
Die Pforte allerdings war noch viele Pferdelängen entfernt, als der Heerlenker plötzlich Halt machte. „Da hinein!“, befahl er. Er flüsterte mehr, als dass er sprach. Die Tür zu ihrer Rechten, durch die sie traten, war klein und schwer zu bemerken. Sie war ebenso hellgrau gestrichen wie die Wand und hatte keine Klinke. Sie gehörte zu einem der Räume, in der Diener unauffällig warteten, bevor sie gerufen wurden, um eine Aufgabe zu erfüllen. Und so war die Einrichtung karg. Ein paar schlichte hölzerne Stühle und Tische gab es. Das Zimmer war klein und fensterlos, die Luft roch abgestanden. Eine viel zu kleine Lichtkugel schwebte eine Armlänge weit unter der Decke und tauchte die verhüllte Gestalt, die sich an einen der Tische lehnte, in ein dämmriges Licht. Sardrowain konnte zunächst nicht erkennen, wer dort stand. Bis die Gestalt die Kapuze ihres schwarzen Umhangs zurückschlug.
Welankwain! Seine Züge waren angespannt. Er blickte ernst und entschlossen, als stünde er davor, in eine Schlacht zu ziehen. Und so ähnlich war es auch, wie sich bald herausstellte.
„Bitte widersteht für einen Augenblick dem Bedürfnis, meinen Schädel platzen zu lassen, Meister Sardrowain! Das würde uns beiden den Tod bringen und Ihr erfahrt nie, was ich Euch zu sagen habe.“
Sardrowain hatte sich also nicht getäuscht. Etwas war im Gange. Und er hatte es ausgelöst.
„Ich höre“, sagte der Meister.
„In weniger als einer Stunde seid ihr tot, so will es Lugwin. Euer Staub wird vom höchsten Punkt der Mauer aus auf die andere Seite gestreut und Euer Name aus den Archiven der Stadt getilgt - sofern vorhanden, was ich in Eurem Fall bezweifele“, sagte der Herrscher.
Sardrowain legte den Kopf auf die Seite und sah Welankwain prüfend an. Das klang ganz nach einem gewagten Spiel, dachte er. Einem sehr gewagten Spiel.
„Nun“, entgegnete der Meister und versuchte, dabei so belanglos zu klingen, wie es ihm nur möglich war. „Wenn das der Wille der drei Adro’wiai ist - mögen sie lange leben und herrschen.“
„Gebt Euch nicht naiv, Sardrowain! Ihr seid eine Schlange. Damit hatte Lugwin recht. Ihr seid vermessen und gefährlich. Und doch seht ihr die Dinge mit einer Klarheit, die jedem Forschenden und jedem König zur Ehre gereichen würde. Lugwin dagegen ist alt geworden. Er zieht es vor, sich hinter einer Wahrheit zu verstecken, an die selbst in der Akademie niemand mehr glaubt. Wie lange, Meister Sardrowain, wird es dauern, bis andere als Ihr und ich erkennen, welche Gefahr San'tweyna, der Stadt hinter der Mauer, droht? Was werden sie tun, wenn sie sehen, dass wir kluge Elvan jal'Iniai lieber der Lüge bezichtigen und hinrichten, statt auf ihren Rat zu hören?“
„Sie werden sich eines nicht mehr fernen Tages gegen Euch wenden, Euch töten und an die Hoktars verfüttern. Dann allerdings, erhabener Herrscher, wird es bereits zu spät für unser Volk sein. Unsere Feinde tun längst, was auch wir tun müssten: Sie bereiten sich auf den Krieg vor.“
Welankwain nickte. Er wirkte auf einmal fahrig, ganz so, als hätte er bisher nicht gewagt, diesen Gedanken bis zum Ende zu denken.
„Was, Sardrowain, würdet Ihr tun, wärt Ihr an unserer Stelle?“
Den Meister verblüffte die Frage. Eben noch steckte er im Kerker, seine Hände waren gefesselt und er stand kurz vor dem Richtplatz. Und auch, wenn es anders wäre: Selbst zu herrschen, war nie seine Absicht gewesen. Er führte ein Leben im Verborgenen. Das eines todbringenden Phantoms. Die Vorstellung, auf dem Thron die Geschicke eines Volkes zu lenken, lag ihm so fern. Und doch: Sardrowain wusste genau, was getan werden musste.
„Unser Heer!“, sagte er. „Es muss wieder stark sein. Stark und entschlossen. Und wir müssen neue Himmelsbarken bauen - mächtiger und größer, als es sie je gegeben hat. Wir müssen das Land auf der anderen Seite der Mauer zurückerobern, die Übergänge in die andere Welt sichern. Denn von dort droht uns die größte Gefahr. Gelingt es uns nicht, die Verwandelten, die es dort bereits zu hunderten gibt, für uns zu gewinnen, dann werden sie gegen uns in die Schlacht ziehen. Gefolgt möglicherweise von einem Heer der Menschen - mit all ihren Waffen.“
Welankwain schnaufte.
„Aber wie bei den Gründern wollt Ihr das bewerkstelligen? Noch sind wir bei weitem nicht stark genug, um Verhandlungen zu führen.“
Sardrowains Lippen formten ein boshaftes Lächeln.
„Nein. Das sind wir nicht. Und das werden wir niemals sein, sollte ich nicht bald in die andere Welt zurückkehren, um die Abtrünnigen zu vernichten und den Menschen zu zeigen, dass wir ein Volk sind, dem man sich besser unterwirft. Wir verhandeln nicht, erhabener Herrscher. Wir unterwerfen. Das ist die Bestimmung der Elvan jal'Iniai.“
Welankwain nickte. Tiefe Falten standen auf seiner Stirn. Mit seiner Hand massierte er das Kinn. Es war offensichtlich, dass er mit einer Entscheidung rang, die ihm nicht gefiel.
„Also gut“, sagte er dann und sah Sardrowain mit festem Blick in die Augen. „Wir haben keine Wahl. Seid Ihr bereit, Lugwins Platz einzunehmen, Meister? Noch heute?“
Sardrowains Mund öffnete sich. Sein Magen verkrampfte sich. Er konnte es nicht verhindern. Und er sah sich außer Stande zu begreifen, was er da eben gehört hatte.
Zum ersten Mal, seitdem Timo in der Anderswelt war, wünschte er sich, er würde verstehen, was die Alben sagten. Er hatte sich bisher nicht ernsthaft Mühe gegeben, Albisch zu lernen. Immerhin war es die Sprache, die der verhasste Nallundor gesprochen hatte. Wieso hätte ihn interessieren sollen, was er gesagt hatte? Ein paar Wörter kannte er zwar, aber längst nicht genug, um zu raffen, was Sardrowain in dieser dunklen Kammer mit dem gelockten Herrscher ausgeheckt hatte. Allerdings war Timo auch nicht dumm. Ihm war klar, dass es etwas Verschwörerisches war - und etwas Gefährliches. Um das zu erkennen, hatte er genügend Thriller und Historienschinken im Fernsehen gesehen. Die Anspannung und die Ernsthaftigkeit in den Gesichtern der Alben sprachen Bände. Hinrichtung verschoben? Timo war sich da fast sicher, auch, wenn er keine Ahnung hatte, was als Nächstes passieren würde.
Der Herrscher hatte den kleinen Raum vor ihnen verlassen - mit schnellen Schritten. Etwa fünf Minuten später hatten die Blaumänner Sardrowain und ihn wieder in den langen Gang mit der Ahnengalerie gebracht. Viel langsamer als vorher liefen sie jetzt auf die breite Tür an dessen Ende zu. Sie war bestimmt drei Meter hoch und natürlich silbern. Dass sie über und über mit den Fratzen von Drachen oder ähnlich widerlichen Viechern verziert waren, versprach nichts wirklich Gutes. Sardrowain und der Ober-Blaumann mit der Hakennase blieben stehen, sahen sich für einen Moment an. Und zwar so, wie es Leute taten, die sich in einer wichtigen und sehr ernsten Sache einig waren. Was auch immer es war. Timo hatte ein gutes Gefühl. Er fühlte sich stark. Alles, was jetzt passieren würde, konnte schließlich nur besser sein, als das, was er in den vergangenen Monaten erlebt hatte.
Ein Blaumann löste seine und Sardrowains Fesseln, ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Timo lächelte. Na also. Hinrichtung abgesagt! Dann öffnete der Soldat die schwere Tür.
Warme, frische Luft drang ins Innere. Und mit ihr das Geräusch tausender Menschen, ein Brei aus Gemurmel, Gelächter, durchzogen immer wieder von Beifallsbekundungen. Timo kniff die Augen zusammen. Die Sonne stand hoch und tauchte den großen, dicht gefüllten Platz in helles Licht. Durch einen abgegrenzten, schmalen Korridor bahnten sie sich einen Weg durch die Menge. An dessen Seiten standen in kurzem Abstand grau gekleidete Wachleute, bewaffnet mit Schwertern und langen Stangen, an deren Spitze ein silberner Stern befestigt war. Timo erkannte sofort, dass die Zacken messerscharf waren. Sie kamen ihm ebenso bedrohlich vor, wie die finster entschlossenen Mienen der Männer. Und er bemerkte die interessierten Blicke, die sie und einige andere Alben aus der Menschenmenge auf sie warfen. Vermutlich hatten sie erwartet, dass die Blaumänner gefesselte Verurteilte vor sich her trieben. Der Anblick, den sie dagegen boten, hatte wohl eher etwas von einem gemütlichen Spaziergang von Freunden - wenn auch ohne Plaudereien, denn dazu hätte jetzt wohl niemand den Nerv gehabt.
Die große Mehrheit der Alben auf dem dicht gefüllten, mit Marmor gepflasterten Platz allerdings interessierte sich nicht die Bohne für sie. Ihre Aufmerksamkeit war voll und ganz auf eine Art Tribüne gerichtet, die sich in der Mitte aus der Masse erhob. Timo konnte noch nicht alles erkennen, aber je näher sie kamen, desto klarer wurde ihm, was hier passierte. Hier wurde hingerichtet - zur großen Freude des Pöbels. Durch hochgerissene Arme hindurch erkannte Timo einen in schillerndes Gelb gekleideten Alben. Sein langer Mantel reichte bis zum Boden und er hatte eine nach oben spitz zulaufende Kapuze auf, die seinen Kopf und auch das Gesicht vollständig bedeckte - bis auf einen schmalen Schlitz für die Augen. Er hatte den Charme eines Ku-Klux-Klan-Kämpfers. Mit beiden Händen umfasste der Albe den Griff eines Breitschwertes. Klinge und Mantel waren mit Blut und silbernem Staub besudelt. Und es kamen neue Flecken dazu, als im selben Moment das Schwert herunterfuhr und einem armen Kerl den Kopf abtrennte. Timo glaubte, durch den Lärm das dumpfe Geräusch des Schnittes gehört zu haben. Vielleicht hatte ihm aber auch seine Fantasie einen Streich gespielt. Das also war es, was man mit ihm und Sardrowain vorgehabt hatte. Ein letzter großer Auftritt zur Belustigung des Volkes. Nett. Jetzt hätte Timo nur noch gerne gewusst, wie das Alternativprogramm aussehen sollte.
Immer näher kamen sie an die Tribüne heran. Ein paar Dienerinnen waren eifrig damit beschäftigt, mit Rutenbündeln den silbernen Staub in tellergroße Schalen zu fegen, den der arme Kerl hinterlassen hatte, der eben geköpft worden war. Timo kam es reichlich grotesk vor, wie sie um die Füße des Henkers herumwedelten, der unbeweglich wie eine Statue einfach so dastand und sich unter seiner Kapuze vermutlich wie ein Kind über seine gruselige Optik freute, dachte Timo. Weniger Freude daran hatten vermutlich die vier abgerissenen Alben, die nicht weit weg von ihm in einem engen Käfig hockten. Ihre Augen zeigten Angst, Fassungslosigkeit und Resignation. Sie waren offenbar die Nächsten, die an der Reihe waren.
Rund um die Tribüne standen dicht an dicht wieder die grauen Kerle mit ihren Sternenlanzen. Erst jetzt konnte Timo eine zweite Tribüne sehen, die etwa zwanzig Metern entfernt von der ersten aufgebaut und noch weit besser gesichert war. Nein, das war keine Tribüne. Es war ein Podest aus massivem Stein, einige Meter höher als die Plattform für die Hinrichtungen. Darauf standen drei gewaltige steinerne Throne mit Sitzflächen so groß wie Badewannen. Die Lehnen ragten wie Türme in die Höhe. Und wie bei den Thronen, die Timo schon in der großen Halle des Palastes gesehen hatte, formten deren obere Enden große Sterne. Allerdings waren die hier weit massiver und grober, was sie sogar noch ein wenig furchteinflößender machten. Für jeden in der Menge - auch wenn er hunderte Meter entfernt vor einem der Säulenbögen stand, die den riesigen Platz umgaben - war unübersehbar, dass hier die drei Herrscher saßen. Unter ihnen war auch der mit den zurückgebundenen, graubraunen Locken, der eben noch mit ihnen in der versteckten Kammer geredet hatte. Timo bemerkte, dass er Sardrowain einen schnellen, hektischen Blick zuwarf, als sie schließlich den freien Bereich zwischen Richtplatz und Podest erreicht hatten. Sie standen vor einer breiten Treppe mit mächtigen Stufen, die zu den Thronen hinaufführte. Timo sah bestimmt dreißig Blaumänner, die mit Armbrüsten und Schwertern bewaffnet das Podest sicherten - zusätzlich zu den vielen grauen Sternlanzenträgern. Unruhe machte sich breit. Viele von den Bewachern sahen sie jetzt verwundert, fast schon verwirrt an. Hände lagen auf Schwertgriffen, Lanzen wurden etwas fester angepackt. Wenn ein direkter Angriff zu dem Plan gehörte, dann standen ihre Chancen nicht wirklich gut, dachte Timo.
Sardrowain konnte nicht erkennen, ob Welankwain und Solungar ihren Teil des Planes erfüllten. Überraschenderweise spürte er nichts. Die Macht der drei Steine schien die Throne weiter wie ein Nebel einzuhüllen. Nichts deutete darauf hin, dass die beiden das schützende Band zu Lugwin gelöst hatten. Nichts. Sardrowain sah dem alten Adro’wiai in die Augen. Jahrtausende hatten sie überdauert. War es vermessen gewesen, zu glauben, gegen den ältesten der Herrscher aufbegehren zu können? Nun. Sei es drum. Für den Meister gab es jetzt keinen Weg mehr zurück. Entweder würde er schon bald dieses Podest besteigen oder sein Staub würde dessen Stufen bedecken. Lugwin hatte natürlich längst bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Timo Hemander und Sardrowain hätten auf den Richtplatz gebracht werden sollen. Stattdessen standen sie vor ihm - ohne Fesseln, eskortiert von einer Gruppe hoher Offiziere. Der Meister sah, wie Lugwins Verstand arbeitete, sich womöglich an die Hoffnung klammerte, es gehe vielleicht bloß um ein verzweifeltes Gnadengesuch. Dann aber sah er sich um, wie ein rastloser Irrer blickte er mal zu Welankwain, mal zu Solungar. Aber keiner von beiden erwiderte seinen Blick. Der jüngere Adro’wiai stierte nur vor sich hin, als gehe ihn das alles nichts an. Welankwains Gesicht dagegen verriet Scham. Seine Brauen lagen dicht beieinander. Falten durchzogen seine Stirn.
Jetzt! Leise sprach Sardrowain die Worte der Macht. Mit aller Kraft drang er in Lugwins Kopf vor, schickte eine erste Welle der Zerstörung. Sachte musste er vorgehen. Denn der Kopf dufte nicht platzen. Seine Tat wäre sonst zu offensichtlich gewesen.
Lugwin fuhr mit schmerzverzerrtem Gesicht empor. Zorn erfasste ihn, brachte ihn dazu, die Faust drohend zu heben.
„Wie könnt Ihr es wagen?“, schrie er. Eine weitere Welle der Zerstörung und des Schmerzes zwang ihn, auf die Knie zu gehen. Mit weit aufgerissenen Augen fasste er sich an die Stirn.
„Holt einen Arzt!“, rief Solungar halbherzig. „Dem ehrwürdigen Lugwin ist unwohl.“
Verwirrte, hilflose Blicke. Einige Bewacher ahnten wohl, dass hier etwas Unerhörtes geschah. Aber niemand wagte, etwas zu unternehmen.
Sardrowain sandte eine dritte Welle. Blut schoss aus Lugwins Nase. Er verdrehte die Augen und kippte zur Seite. Jetzt war es Welankwain, der sich erhob und zu Lugwin herunterbeugte. „Erhabener ...“, rief er und fasste seine Schultern. Seine Sorge, sein Entsetzen wirkten echt. Und Sardrowain wusste, dass Welankwain einen Mord wie diesen tatsächlich verabscheute. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Es war geschehen. Lugwin zerfiel in Welankwains Armen zu silbernem Staub. Der letzte der Neuen Herrscher war vergangen.
Timo verstand nicht, wie genau es passiert war. Aber er wusste, dass er gerade einen Staatsstreich der übelsten Sorte miterlebt hatte. Sardrowain hatte den alten Herrscher umgebracht - mit irgendeiner hinterhältigen Zauberei, die innerhalb von Sekunden getötet hatte. Und es war offensichtlich, dass die beiden anderen Herrscher damit sehr einverstanden gewesen waren. Sie hatten gemerkt, was hier vor sich ging. Und sie hatten nichts unternommen. Als der Alte tot war, sprangen zwei Blaumänner auf und richteten ihre Armbrüste auf Sardrowain. Worte wurden gewechselt, so schnell, dass Timo beinahe schwindelig wurde. Es war ein heftiges, verbales Scharmützel, das erst in dem Moment endete, als aus dem nichts ein großer Vogel auf sie herabtauchte. Nur um Zentimeter verfehlte er die Köpfe zweier Wachleute. Dann machte er eine scharfe Wende und ließ sich elegant auf Sardrowains Schulter nieder. Verflucht, dachte Timo. Das war kein Vogel. Das war das seltsame Viech, das Nallundor als Haustier gehalten hatte. Ein Murmeltier mit Fledermausflügel. Jetzt allerdings wirkte es weit weniger lächerlich als bei dem Drecksack. Auf Sardrowains Schulter kam es Timo fast schon edel vor - wie das Tier eines mächtigen Königs. Und auch auf die Blaumänner und Wachleute schien die Szene Eindruck zu machen. Schnell senkten auch die Letzten von ihnen ihre Waffen und legten sie zur Seite. Sie hatten wohl erkannt, dass sie hier nichts mehr gewinnen konnten. Und die Angst um das eigene Leben war offensichtlich größer als irgendwelche moralischen Bedenken.
Jetzt richtete der Herrscher, der in der kleinen Kammer mit ihnen geredet hatte, das Wort an Sardrowain. Natürlich verstand Timo wieder nichts. Aber das, was gesagt wurde, klang wichtig und hochtrabend. Der Albe suchte den roten Anhänger aus dem Staub des toten Herrschers und - jetzt war sogar Timo gründlich baff - er reichte ihn Sardrowain. Der Mörder, sein Entführer, der Albe, der ihm versprochen hatte, ihn zum Anführer zu machen, erklomm langsam die Stufen des Podestes. Und während er den Stein nahm und ihn sich um den Hals hängte, gingen die Blaumänner um ihn herum auf die Knie.
Timo dagegen wich einen Schritt zurück. Das alles kam ihm unecht vor - so, als würde er nur einen Film sehen. Aber so war es nicht. Es geschah tatsächlich. Der Machtwechsel war vollzogen. Und Timo fragte sich einmal mehr, welche Überraschungen dieses verrückte Leben noch für ihn bereithalten würde.