Читать книгу Zodiac - Gejagter zwischen den Welten I: Das Projekt - Mark Savage - Страница 7
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»So, das Getriebe passt. Nicht zu glauben, dass der Kerl sich mit diesem Schrotthaufen noch auf die Straße traut. Das grenzt schon fast an Selbstmord, anzeigen sollte man den Burschen.«
Dan war schlechter Laune. Normalerweise hätte er heute seinen freien Tag. Stattdessen hing er hier herum und schrubbte Überstunden. Trotzdem konnte er dankbar sein, diesen Job bekommen zu haben. Klar, er wäre jetzt viel lieber bei Babs und den Kindern, aber er wusste, dass sie es verstanden.
Dan schaute auf die Uhr.
Noch zwei Stunden bis zum Feierabend. Das hieß, sofern dem Alten nicht wieder was Neues einfiel. Wer sagt's denn, wenn man an den Teufel denkt ...
»Hallo, Dan!«
»Tag, Mr. Myers.«
Er scheint nicht gerade guter Stimmung zu sein, dachte Dan bei sich, während der Chef seine fette Gestalt auf ihn zubewegte. Myers besaß ein Doppelkinn und eine Boxernase furchterregenden Ausmaßes. Zudem trug er so gut wie keine Haare mehr auf dem Kopf, was den Eindruck von Rücksichtslosigkeit ebenso verstärkte wie der Ausdruck der kleinen blauen Schweinsäuglein, die tief in den Höhlen unter buschigen Augenbrauen verborgen lagen. Dieser Eindruck jedoch täuschte.
»Na, haben Sie diese Mühle wieder zusammengeflickt?«, fragte Myers. »So gut es ging, Boss«, antwortete Dan knapp.
»Hm, ich sehe. Gute Arbeit, Dan. Ich habe wirklich einen guten Zug gemacht mit Ihnen. Aber ich hatte gleich von Anfang an das Gefühl, dass Sie etwas von Ihrem Fach verstehen, schon als Sie zur Tür reinkamen.«
»Danke, Mr. Myers«, erwiderte Dan, nicht wenig überrascht von dem Kompliment. Durfte er es überhaupt als solches auffassen oder traf der Dicke lediglich eine Feststellung? Bei dem Alten wusste man nie, wie man gerade dran war.
»Nichts für ungut«, brummte Myers. »Was macht Ihre Familie?«
»Ich denke doch gut, Sir.«
»Wie lange sind Sie jetzt schon hier bei uns in Tretmond, Dan. Zwei Jahre?«
»Schon fast drei, Sir.«
»Ich hoffe doch, es gefällt Ihnen hier. Tretmond ist so aufregend wie der Arsch einer achtzigjährigen Hure, und es passiert auch sonst nicht viel in diesem kleinen Ort, aber man hat wenigstens seine Ruhe, meinen Sie nicht auch, Dan?«
»O doch, uns gefällt es hier, vor allen den Kindern. Ich denke, dass wir hier alt werden.«
»Sagen Sie, Sie sind doch Amerikaner. Was hat Sie damals eigentlich nach England getrieben?«
»Es war wegen Babs. Ihre Eltern lebten dort. Sie wollte bei ihnen bleiben, da ihr Vater im Sterben lag. Krebs, wissen Sie. Ja, und dann bekam Babs diesen Job als Sekretärin im Büro einer diesen Stahlfabriken. Fast zur gleichen Zeit als ihr Vater starb kam dann die Sache mit der Erbschaft dazwischen. Wir entschlossen uns dann einfach hierher umzusiedeln.«
»Womit Sie verdammt recht hatten. Es gibt kein schöneres und freieres Land als Amerika, glauben Sie mir, Dan.«
Mein Gott, der Alte erwies sich heute als überaus geschwätzig, und das wo er sonst seinen Mund nicht aufbrachte, es sei denn um die Arbeit voranzutreiben. Eigentlich war er kein übler Kerl, dieser Myers, gestand sich Dan ein. Er verhielt sich trotz mancher Brüllerei fair zu seinen Leuten und ging durchaus selbst mal mit zur Hand, wenn Not am Mann war. Ja, er war gar nicht so verkehrt, sein Boss.
»Hören Sie, Dan, packen Sie Ihre Sachen und gehen Sie nach Hause. Willie und Dex schaffen es für heute auch alleine, oder was meinen Sie?«
Das nannte man eine Überraschung. Von dieser Seite zeigte sich sein Boss äußerst selten. Dan beschloss, diesen Umstand für seine Zwecke auszunutzen.
»Danke, Chef. Babs wird sich freuen.«
»Schon gut, verschwinden Sie endlich, bevor ich es mir nochmals anders überlege. Viel Spaß noch.«
Dan lachte. Dieser Ton kam ihm schon vertrauter vor und erleichterte zugleich seine Sorge bezüglich des so seltenen Stimmungshochs.
»Ebenfalls noch viel Vergnügen!«, rief Dan seinem Boss zu, als der sich bereits auf Willie zu in Bewegung setzte, um ihn ein wenig anzustacheln. Dieser Willie war beileibe nicht der Schnellste, aber er verstand seine Arbeit. Was soll's, dachte Dan. Nichts wie raus hier.
Er zog sich um und schlenderte ins Freie, wo sein alter Chrysler schon auf ihn wartete. Behände schwang er sich hinter das Lenkrad, stellte das Radio an, auf dem soeben auf dem Oldi-Sender die Beatles mit "Yellow Submarine" aufspielten, und fuhr gemütlich die Straßen von Tretmond entlang. Schöne Gegend. Es gefiel ihm hier.
Vor allen Dingen die abendlichen Spaziergänge mit Babs genoss er immer wieder aufs Neue. Diese führten sie meist aus Tretmond hinaus. Man stieß auf eine idyllische Landschaft, bestehend aus Wiesen, Täler und Hügel und einem Fleckchen Wald. Dazu die leere dunkle Straße, die sich wie eine riesige Schlange aus der Ortschaft hinaus wand und in der Finsternis verschwand. Der romantische kleine See, auf seltsame Weise verloren wirkend und doch schön anzusehen. Es war herrlich, zu zweit unter einem Baum zu liegen, den Sternenhimmel zu betrachten oder sich darunter zu lieben.
Gefühle dieser Art schienen bei ihm nie besonders ausgeprägt. Dan hatte nie etwas anderes kennengelernt als stetigen Lärm, Hektik, Menschenschlangen und Blechlawinen. Ihm wurde eine innere Ruhe zuteil, seit jene Dinge hinter ihm lagen, und ... er fühlte sich glücklicher. Diese Gegend bekam ihm gut, und das verdankte er alles Großvater.
Sie hatten sich stets gut verstanden, sein Grandpa und er. Er brachte immer Geschenke mit, als Dan noch ein kleiner Junge war. Bei diesen seltenen Besuchen spielte er oft stundenlang mit seinem Enkel, wurde nie müde ihm allerlei Dummheiten anzulernen. Sie hatten verdammt viel Spaß miteinander gehabt. Doch dann, von dem Tag an als Dans Eltern tödlich verunglückten, hörte er nie wieder von ihm. Dan fand das seltsam und fragte sich noch heute nach dem Grund. Bis zu jenem Tage, an dem ein Schreiben des Notars bei ihnen eintraf, hatte er keinen Kontakt mehr mit dem alten Mann.
Dan beschloss, nicht weiter müßigen Gedanken nachzuhängen, und trat das Gaspedal ein wenig mehr durch. Plötzliche Eile befiel ihn. Er wollte nach Hause zu Babs und den Kleinen.
Zudem verspürte er einen Bärenhunger.
3.
Die Kinder schliefen.
Dan und Babs saßen vor ihrem Fernsehgerät und sahen fern. Es lief die x-te Wiederholung von John Carpenters "The Thing". Dennoch ließ die unheimliche Atmosphäre des Films die Zuschauer auch diesmal nicht aus ihrem Bann. Babs und Dan sprachen während des Streifens nicht einen Ton, so sehr nahmen sie die grauenhaften Geschehnisse auf der Polarstation gefangen.
Schließlich kam es dann, das langerwartete Finale, indem die Forschungsstation mitsamt dem lebensbedrohenden Fremdorganismus aus einer anderen Welt in einer lodernden Feuerhölle verging. Ob die zwei Überlebenden gefunden oder vom Tod durch Erfrieren erlöst wurden, überließ man der Phantasie des Zuschauers.
»Der Film war echt klasse«, meinte Babs, als Dan den Fernseher abschaltete.
»Ja, nicht schlecht, wobei ich mich frage, ob dich der Film oder mehr dieser Russel faszinierte.«
Babs lächelte verschmitzt.
»Kein übler Typ, dieser Kurt Russell, durchaus eine Sünde wert.«
»Dann kann ich nur hoffen, dass er deine Interessen teilt«, erwiderte Dan scheinbar gehässig. Nun lachten sie beide. Babs sah auf die Uhr.
»Schon eins vorbei. Ich habe gar nicht bemerkt wie schnell die Zeit verging. Zum Glück ist morgen Sonntag. Meinst du, die Kleinen lassen uns mal ausschlafen? Ausnahmsweise?«
»Das glaubst du wohl selbst nicht«, gab Dan belustigt zur Antwort. »Wenn, dann müssten wir uns wohl ernsthaft Sorgen machen.«
»Ja, ich glaube auch«, lachte Babs. »Dan, kann ich dich mal etwas fragen, ohne dass du mich für verrückt erklärst?«
»Nur zu, ich stehe auf verrückte Sachen. Hätte ich dich sonst wohl geheiratet?«
»Blödmann«, erwiderte sie lachend. »Nein, Dan, bei diesem Film vorhin, weißt du, da habe ich mir überlegt, ob so etwas nicht wirklich geschehen könnte. Es gibt doch bestimmt noch anderes Leben als das unsere im Universum. Der Weltraum ist doch so unendlich groß. Was meinst du?«
Dan überlegte.
»Weißt du, gelegentlich denke ich auch über diese Dinge nach. Der Mensch wäre, glaube ich, ganz schön naiv, wenn er meint, alleine zu sein. Der Allmächtige schuf bestimmt kein riesiges Universum, um es leerstehen zu lassen. Wer weiß, vielleicht bekommen wir eines Tages mal Besuch von einer anderen Welt und müssen uns erzählen lassen wie primitiv wir hier eigentlich sind.«
»Ja, aber was wäre, wenn die ANDEREN nicht als Freunde kämen, wie etwa E.T.?«
»Ich denke, in diesem Fall bräuchten wir uns um unsere Zukunft keine Gedanken mehr machen«, erwiderte Dan. »Sie lägen uns sicher meilenweit in ihrer Technik voraus.«
»Glaubst du, dass so etwas mal geschieht?«
»Ich weiß nicht, Schatz. Wenn es soweit ist, gibt es vielleicht gar keine Menschen mehr. Wir werden es sicherlich nicht mehr erleben.«
»Hm, eigentlich schade ... oder auch nicht.« Dann sagte sie: »Komm, Darling, lass uns ins Bett gehen, ich bin müde.«
Dan näherte sich ihr langsam.
»Was bist du, müde? Warte erst mal bis wir oben sind.«
Daraufhin hob er sie mühelos auf seine breiten Schultern, um sie nach oben zu tragen. Sie gebärdete sich spielerisch auf seinem Rücken und trommelte mit den Händen auf ihn ein.
»Mr. Wilder, Sie sind ein Lüstling. Lassen Sie mich sofort los.«
»Sofort!«
Er öffnete die Schlafzimmertür, trug sie hinein und bettete sie behutsam auf die Matratze. Seine blauen Augen schienen zu leuchten und in ihren haselnussbraunen Pupillen zu versinken. Im Kontrast zu dem tiefschwarzen Haar bewirkte dieser Glanz ein Aussehen, das Babs erregte.
»Schrei nicht so laut, du weckst noch die Kleinen auf. Eine Ehefrau hat gefügig zu sein, wusstest du das nicht?«
»Du verdammter ...«
Sanft schloss er ihren Mund mit seinen Lippen.
Daraufhin wurde nicht mehr gesprochen.
4.
»Hilfe ... nein ... nicht ... nicht ... sterben ...«
Diese Schreie, so fremdartig klingend und doch so klar zu deuten, wurden immer heftiger und lauter. Ein Wirrwarr an Stimmen, Schreien und berstenden Geräuschen drang aus der Unendlichkeit an das Bewusstsein. Dann plötzlich: Stille.
Die vielen fremdartigen Stimmen schienen wie fortgewischt, hinweggetilgt. Doch da erklangen auf einmal tausend andere, intensiver und noch fremdartiger als jene davor. Sie waren Gedanken, nichts anderes, aber von starker Präsenz und bösartig. Sie zeugten von einer erschreckenden Feindseligkeit, Triumph und Überlegenheit.
Da ... wieder ein Hilfeschrei, ein nur schwacher Impuls zwar, aber von unweigerlicher Klarheit. Aus ihm sprach Angst, Trauer und Verzweiflung, die von Sekunde zu Sekunde stärker anschwoll. Was geschah jetzt?
Die Gedanken der dunklen Seite nahmen an Intensität zu, strahlten Hass und Zerstörungswut aus. Die „andere“ Seite wurde von einer wilden Welle aus Panik und Furcht umspült. Die Impulse wurden schlagartig stärker, fast schmerzhaft. Immer stärker, stärker und stärker, ergriffen von einem selbst Besitz, und dann ...
Aus.
Judy fuhr von ihrem Bett hoch. Das kleine Mädchen war schweißgebadet. Das dünne Nachthemdchen klebte an ihrem schmalen Körper.
Sie hatte geträumt.
Verschlafen fuhr sich die Kleine über die Augen und dachte daran, dass ihr Daddy so etwas einen Alptraum nennen würde.
Aber eines war seltsam.
Der Traum hatte keine Bilder.
Sie hatte nur gehört, GEFÜHLT, aber nichts gesehen.
Ob Mom oder Dad ihr das erklären konnten?
War es etwa gar kein Alptraum? Nein, es konnte gar keiner gewesen sein. Ihre Großmutter, an deren Gesicht sie sich nur schemenhaft zu erinnern vermochte, erzählte ihr einmal, woher das Wort Alptraum kam und wie es entstand.
Sie erzählte von einem kleinen, widerlichen und hässlichen Zwerg, den man den Alp nennt, und der den Kindern, sobald sie eingeschlafen sind, auf die Schultern klettert und ihnen schlimme Geschichten einflüstert. Der Alp vermag es, diese Geschichten in den Köpfen der Kinder zu lebenden Bildern umzuformen, um damit den Kleinen Furcht einzuflößen. Judy folgerte daraus, dass sie keinen Alptraum erlebt hatte. Ein Umstand, der sie erleichterte. Allein der Gedanke an diesen hässlichen Zwerg verursachte ihr eine Gänsehaut.
Das Mädchen beschloss, diese neue Art von Traum Gedankentraum zu nennen.
Gedankenträume.
Träume in denen man nichts sieht, sondern nur hört oder fühlt.
Es war schon seltsam, dachte das Kind erneut. Deutlich glaubte sie, diese Stimmen vernommen zu haben, die Angst deren Besitzer körperlich mitgelitten. Bis sie plötzlich erloschen, um den ANDEREN, bösen Gedanken, Platz zu machen.
Wer war das hilflose Geschöpf, das von den Bösen gejagt wurde?
Wer war der FREMDE? Wer waren die ANDEREN?
»Ach was«, sprach Judy zu sich selbst und blickte hinüber zu ihrem schlafenden Bruder, dessen Atemzüge ruhig und gleichmäßig gingen.
»Es war nur ein Traum. Ein Gedankentraum.«
Eng kuschelte sie sich an ihren kleinen Stoff-E.T. und schloss die Augen. Zwei Minuten später schlief sie ebenso fest wie Tom. Den Traum würde sie am nächsten Tag wieder vergessen haben, denn sie war noch zu jung, um zu verstehen, was wirklich geschah.
5.
Sonntag Nachmittag.
Die Sonne stand hoch am strahlend blauen Himmel und sandte ihre sengenden Strahlen auf Tretmond hinab. Die Luft war so dick, dass man sie hätte schneiden können. Stille herrschte in den Straßen, kaum eine Menschenseele ließ sich in der Mittagshitze sehen.
An diesem Tag glich der sonst so geschäftig scheinende Ort einer Geisterstadt. Es war einer jener Tage, an denen es die Bürger vorzogen, sich entweder stundenlang im Wasser zu tummeln oder sich hinter geschlossenen Jalousien aufzuhalten.
Die Wilders zogen es vor, den schattigsten Platz ihres Gartens aufzusuchen und aus voller Lust zu faulenzen. Während Babs und Dan dalagen und dösten, tobten die Kinder in ihrem Planschbecken. Ihr Schreien und Kreischen wirkte fast fremdartig in der Monotonie.
Tom schrie belustigt auf, als er den Kopf seiner Schwester unter Wasser tauchte und dieser daraufhin japsend und keuchend wieder zum Vorschein kam. Sein Lachen verstummte schlagartig, da er plötzlich keinen Boden mehr unter seinen Füßen spürte und das Becken auf unsanfte Art und Weise verließ. Diesmal war es Judy, die schadenfroh auflachte. Tom sah ziemlich verdutzt drein, erstaunt über die Schnelligkeit der kleinen Schwester. Doch nach kurzem Zögern raffte er sich wieder auf und stürzte sich erneut ins Kampfgewühl. Es entbrannte eine wilde Wasserschlacht, die mit der Zeit jedoch mehr und mehr an Heftigkeit verlor.
»Tommy, ich mag nicht mehr«, sagte Judy letztendlich.
»Stimmt, ich habe auch keine Lust mehr«, erwiderte Tom gelangweilt. »Lass uns etwas anderes spielen.«
Die Kinder überlegten. Judy kam auf eine Idee.
»Jetzt weiß ich, was wir machen. Wir gehen zu Grandma Wilson.«
»Au ja, sie freut sich bestimmt«, antwortete ihr Bruder, begeistert von dem Vorschlag. »Aber wer fragt Mom und Dad?«
Sie schauten zu ihren Eltern hinüber und stellten erfreut fest, dass beide schliefen. Mom und Dad sahen es nicht gerne, dass diese seltsame alte Frau sich so oft mit ihren Kindern beschäftigte. Trotzdem verboten sie ihnen nicht, die Dame des Öfteren zu besuchen, da die beiden sehr an ihr zu hängen schienen. Dennoch wurde sie aber von vielen Leuten als verrückt bezeichnet, einige nannten sie gar sogar eine Hexe, was natürlich Unsinn war. Man kann keinem Menschen in die Seele schauen, pflegte ihr Dad immer zu sagen. Ein schlechter Mensch musste sich nicht unbedingt auch schlecht benehmen oder ein böses und gemeines Auftreten an den Tag legen.
Doch Grandma besaß keine schwarze Seele, dessen waren sich die beiden Kinder sicher. Gut, sie benahm sich manchmal seltsam, vielleicht auch etwas verrückt, aber ganz gewiss nicht böse.
Grandma hatte zu kaum jemandem Kontakt, lebte zurückgezogen in ihrem schmucken Häuschen, und ließ sich nur gelegentlich auf der Straße sehen. Dennoch schien sie immer hoch erfreut, wenn Tom und Judy sie besuchten. Es kam nicht selten vor, dass Grandma ihnen Geld oder Süßigkeiten zusteckte, bevor sie nach Hause gingen. Sie spürte, dass die Kinder ihre Zuneigung erwiderten, und das rührte die alte Frau.
»Sollen wir Mom und Dad wecken?«, fragte Judy ihren Bruder.
»Ach was!«, winkte Tom ab. »Wir bleiben ja nicht lange.«
»Na gut«, erwiderte Judy, von dem Vorhaben, sich heimlich davonzuschleichen, nur wenig begeistert. Tom nahm seine Schwester an der Hand, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Grandma Wilsons Haus lag am Ende der gegenüberliegenden Straßenseite, etwa zweihundert Meter vom Grundstück der Wilders entfernt. Das Gebäude erweckte einen überaus gepflegten Eindruck, ebenso der kleine Vorgarten. Ein Gärtner sorgte hier jede Woche für die Pflege der Blumenpracht, welche das Häuschen wie einen Kranz umgab. An der Rückseite befand sich eine große, gemütliche Veranda, auf der sie bei schönem Wetter mit Süßigkeiten und Limonade zusammensaßen, wobei Grandma ihnen Geschichten erzählte. Unheimliche, gruselige Stories manchmal, aber, wie die alte Dame hoch und heilig schwor, wahre Geschichten. Oft erzählte sie auch von ihren Visionen, die sie gelegentlich heimsuchten und sie Ereignisse voraussehen ließen.
Anfangs hielten die Kinder diese Erzählungen für übertrieben und neigten fast dazu, dem Gerede der Leute von einer verwirrten, etwas irren alten Lady, Glauben zu schenken.
Bis die Sache mit Mr. Studebaker passierte ...
Mr. Studebaker verunglückte vor einem halben Jahr auf einer seiner Geschäftsreisen – er jobbte als Handelsvertreter einer Staubsaugerfirma – tödlich. Er wohnte nur zwei Straßen von den Wilders entfernt und galt als äußerst hilfsbereiter und höflicher Mensch, der für jeden seiner Nachbarn stets ein nettes Wort bereithielt.
Tom und Judy erschraken damals sehr, als ihr Dad Mom beim Frühstück den Artikel aus der Zeitung vorlas. Studebakers Wagen kam bei nasser Fahrbahn von der Straße ab und stürzte einen steilen Abhang hinunter, wobei sich das Fahrzeug mehrmals überschlug. Das Entsetzliche an dem Unfall lag in dem verhängnisvollen Zufall, dass der Fahrer von der Windschutzscheibe seines Wagens geköpft wurde. Die zuständigen Behörden verbrachten einige Zeit mit der Suche nach dem Kopf des Verunglückten. Sie fanden ihn am Ende des Abhangs in einem Gebüsch.
Und Grandma wusste, dass es geschehen würde.
In einer ihrer Visionen erlebte sie den Unfall in aller Deutlichkeit mit. Immer und immer wieder nervte die sonst so kontaktarme Frau die Studebakers mit ihren Warnungen. Und immer und immer wieder klagte sie den Kindern ihr Leid, von dem Ehepaar nicht nur missachtet zu werden, sondern dieses ihr sogar drohte, Anzeige wegen Hausfriedensbruch zu erstatten.
Als das Unglück dann geschah, machten einige Bürger Tretmonds, darunter Mrs. Studebaker, Grandma insgeheim für die Tragödie verantwortlich. Hinter vorgehaltener Hand schimpfte man sie eine Hexe, die den Teufel beschwor und das Unheil magisch anziehe. Vor allem die älteren Herrschaften der Gemeinde wurden zu eifrigen Verfechter jener Theorie. Ein älteres Ehepaar, das sich ein Grundstück neben Grandmas Haus gemietet hatte, packte seine Koffer und zog zurück in die Stadt.
Die Mehrzahl der Bewohner des kleinen Städtchens hielten den Vorfall jedoch für puren Zufall. Für sie galt Dorothea weiterhin als eine alte, wirre Frau, die zwar nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, aber in jedem Fall harmlos blieb. An Übernatürliches wollte man nicht glauben. Man belächelte nur still ihre Visionen.
Doch die Wilderkinder wussten es besser.
Grandma verfügte über das zweite Gesicht. Sie stellte einen Magneten dar, der Übersinnliches, Geheimnisvolles und Mystisches anzog. Die beiden fanden das alles unheimlich aufregend und interessant. Nie wären sie aber auf die Idee gekommen, so etwas wie Furcht vor der alten Lady zu empfinden. Dazu hatten sie sie viel zu tief in ihre kleinen Herzen geschlossen.
So trotteten die zwei Kinder frohgelaunt die Stufen zu Grandmas Haus hinauf, mit der Vorfreude auf etwas Süßem, welches ihnen Grandma sicher wieder anbieten würde.
Tom legte seinen Finger gerade auf den Klingelknopf, unter dem in Großbuchstaben der Name Dorothea Wilson auf einem Messingschild gestanzt prangte, als sich die Tür langsam vor ihnen auftat. Ein mit unzähligen Fältchen und Runzeln bedecktes Gesicht lächelte den beiden entgegen.
»Tag, Grandma«, grüßte Tom freudig. Judy nickte nur in ihrer stillen, schüchternen Art.
»Hallo, ihr zwei Hübschen. Das freut mich aber, dass ihr mal wieder vorbeischaut, um einer einsamen alten Frau ein wenig Gesellschaft zu leisten. Wie komisch, irgendwie muss ich geahnt haben, dass ihr vorbeikommt. Limonade und Schokoplätzchen stehen schon bereit. Kommt rein, vor der Tür erzählt sich's schlecht. Setzen wir uns auf die Veranda, dort ist es schön schattig. Es ist zwar fast etwas zu heiß für mein Alter, aber drinnen halt ich es einfach nicht aus.«
Judy fiel sofort auf, dass Grandma, die ihr volles graues Haar sonst offen über ihre Schultern fallen ließ, es heute zu einem Knoten zusammengebunden trug. Dadurch wirkte sie noch um einiges älter. Sie fragten sich oft, wie alt Grandma sein möge, denn über ihr Alter sprach Dorothea Wilson nie. Einmal, als Tom sie danach fragte, erklärte sie nur, sie sei schon viel zu lange auf dieser Welt. Dad vermutete, sie hätte die Achtzig sicher um einiges überschritten, wobei Gerüchte behaupteten, sie müsse über hundert Jahre alt sein. Wie alt Grandma wirklich war, schien niemand zu wissen. Ihr Gesicht war durchsetzt von Falten und tiefen Furchen, ihre grauen Augen lagen tief in den Höhlen, aber sahen klar und wachen Verstandes in diese Welt. Die etwas zu lang geratene Nase erweckte auf den ersten Blick den Eindruck von Strenge, der aber in kürzester Zeit von Grandmas freundlichem Wesen verdrängt wurde.
Durch den im rustikalen Wohnstil eingerichteten Wohnraum hindurch traten sie auf die Veranda. Die Sonne stand genau an ihrem höchsten Punkt. Zum Glück spendete das Vordach reichlich Schatten.
Tatsächlich standen bereits Schokoplätzchen und Limogläser mit Eiswürfeln darin auf dem Tisch. So als hätte Grandma ihr Kommen vorausgeahnt. Solche Dinge verwunderten die Kinder schon gar nicht mehr, sie erlebten Derartiges öfter. Die Geschwister nahmen Platz und griffen eifrig nach den Süßigkeiten, die sich langsam aber stetig in der Hitze verflüssigten. Grandma ging zurück ins Wohnzimmer und kam mit einem Spielekoffer in der Hand wieder zum Vorschein.
»Erzählst du uns denn heute keine von deinen gruseligen Geschichten, Grandma?«, fragte Tom enttäuscht.
»Doch nicht bei diesem strahlenden Wetter. Seid mir nicht böse, aber bei dieser Schwüle fiele es mir schwer in die passende Stimmung zu kommen. Sie kämen nie recht zur Geltung«, erklärte Grandma lächelnd.
»Hattest du wieder mal eine Vision, Grandma?«, fragte Judy neugierig. Die alte Dame schaute dem Mädchen in die eindrucksvollen blauen Augen. Die blonden Haare und das milde Gesicht verliehen ihr das Aussehen eines Engels.
Sie ist noch so jung, dachte die alte Frau, aber auf eine seltsame Art wirkt sie schon sehr weise. Dieses Kind ist so anders.
»Au ja, vielleicht passiert in Tretmond schon bald etwas Aufregendes, oder Dad hat Glück im Lotto und wir werden alle steinreich.«
Dorothea lachte laut auf und fuhr Tom wild durch seine wirre Lockenpracht.
»Ich würde es euch wirklich gönnen, doch leider habe ich auf derartige Dinge keinen Einfluss. Was durchaus gut ist so. Geld alleine macht nicht glücklich, Kinder. Aber wenn ihr mich schon fragt ... mir ist gestern Nacht wirklich etwas Seltsames passiert. Es war eine Vision, glaube ich, bin mir aber nicht sicher. Etwas derart Merkwürdiges habe ich noch nie erlebt. Es war irgendwie ... schlimm.«
Grandmas Stimme begann ein wenig zu zittern, ebenso ihre Hände. Die Erinnerung schien sie zu übermannen. Die Kinder überraschte das plötzliche Verhalten ihrer alten Freundin, denn ansonsten erwies sich Grandma als harter Brocken, den scheinbar nichts aus der Fassung brachte. Seit dem Tod Mr. Studebakers hatten sie sie nie mehr so innerlich aufgewühlt erlebt.
Judy empfand Mitleid für die alte Frau, die so einsam und allein hier wohnte und niemanden außer den Kindern hatte, der sich um sie kümmerte. Das Mädchen war überzeugt, dass Grandma die beste Oma aller Zeiten abgeben würde. Mit etwas Traurigkeit dachte sie daran, dass ihre Großeltern so früh sterben mussten.
Judy griff nach Grandmas Händen, drückte sie und sagte:
»Erzähl nur, Grandma, wir sind doch bei dir.«
Dorothea rührte Judys Verhalten sehr. Sie zwang sich, ein paar aufsteigende Tränen zurückzuhalten.
Es ist wahr, dachte sie, dieses Kind ist wirklich etwas Besonderes.
»Ja, Grandma, keine Angst. Egal, was ist, wir beschützen dich«, verkündete Tom heroisch. Er fühlte sich mal wieder superstark.
»Na gut, Kinder. Es tut ganz gut mit euch darüber zu reden. Mit wem könnte ich es denn auch sonst tun.«
Da zeigte er sich erneut, der traurige Glanz ihrer tief liegenden Augen, den Judy so oft an ihr bemerkte. Ihr Bruder Tommy erwies sich solchen Dingen gegenüber für blind. Er lauschte nur immer interessiert Grandmas Geschichten und fand alles toll und aufregend. So wie jetzt auch.
»Ich lag wach in meinem Bett«, begann Grandma. »Diese Hitze lässt mich immer sehr schlecht einschlafen. Auf einmal war sie da, übergangslos, vor meinen geistigen Augen. Eine Schwärze, dunkler als die dunkelste Nacht. In Gegensatz zu früheren Visionen, in denen die Bilder wie im Schelldurchlauf an mir vorbei rasten, erkannte ich diesmal absolut ... nichts. Meine Sinne vernahmen ein lautes Schreien, Wimmern und Kreischen, so als ob Millionen von Todesangst gepeinigt würden. Dann ... urplötzlich ... war alles weg. Ausgelöscht. Totenstille. Nur die Finsternis blieb. Mein erster Gedanke erschreckte mich zutiefst. Ein Atomkrieg, dachte ich. Die Welt wird sich selber vernichten. Ich glaubte, meine Vision zeigte mir den Untergang, den Sieg der Dummheit des Menschen über seiner Selbst.«
Grandma stockte. Durfte sie den Kleinen überhaupt derartig entsetzliche Dinge erzählen? Doch sie konnte nicht anders, musste unbedingt weitererzählen, die Sache zu Ende bringen.
»Mit einemmal erkannte ich inmitten der Schwärze unzählige winzig kleine Pünktchen, die rasend schnell hin- und herflitzten. Ich hatte keine Ahnung, was es sein konnte. Mir ist jetzt alles noch so unbegreiflich. Plötzlich durchstießen Blitze, Feuer und ein gewaltiger Donner die Finsternis, in der ich mich inzwischen gefangen fühlte.
Seltsame, reglose Körper glitten durch die Schwärze. Ihre genaue Form konnte ich nicht erkennen, war mir aber sicher, dass diese Körper kein Leben mehr in sich trugen. Dann ein greller Blitz, darauf erneut Dunkelheit. Doch diesmal war es die Dunkelheit meines Zimmers, die mich umgab. Ich war noch sehr verwirrt, und wie ich sagte, mir ist bis jetzt unklar, was ich eigentlich erlebt habe. Aber es macht mir angst, wenn ich an diese Schreie zurückdenke, an dieses letzte Aufbäumen und die entsetzliche Stille danach. Etwas Furchtbares muss geschehen sein, doch fragt mich nicht was, ich weiß es nicht.«
Eine Zeitlang herrschte bedrücktes Schweigen. Grandma musterte die Kinder unauffällig. Tom schien regelrecht enttäuscht von der Geschichte, man sah es ihm an. Judy machte ebenfalls diesen Eindruck. Doch glaubte sie in den Augen des Mädchens noch anderes zu erkennen.
»Ist etwas, Judy? Möchtest du mir etwas sagen?«
»Nein, Grandma«, erwiderte sie zögernd. »Diese Geschichte, sie ist nur so ... komisch.«
In Wirklichkeit erinnerte sich das Mädchen an ihren Traum der vergangenen Nacht, den Gedankentraum, wie sie ihn nannte. Der Traum ohne Bilder. Hatte Grandma Ähnliches erlebt?
Dorothea bemerkte schnell, dass die Kinder ihre Lust auf Geschichten verloren hatten, nahm es ihnen aber keineswegs übel. Sie waren zu jung für Mystik und unbegreifliche Dinge. Sie lebten in ihrer, der Kinderwelt. Und dies war gut so.
Dennoch blieben die beiden länger zu Besuch als geplant. Sie spielten Backgammon und Mikado, wobei viel gemogelt und noch mehr gelacht wurde. Grandmas düstere Vision geriet bald in Vergessenheit. Es dämmerte bereits, als Judy ihren Bruder am Arm zupfte.
»Mom und Dad sind bestimmt schon sauer und machen sich Sorgen. Wir müssen nach Hause, Grandma, tut uns leid. Wir kommen bald wieder.«
»Hoffentlich, ihr Süßen«, bemerkte diese lächelnd und führte die beiden zur Haustür. »Es hat mich sehr gefreut, dass ihr mich mal wieder besuchen kamt. Und wartet nicht zulange bis zum nächsten Mal, in Ordnung?«
»Okay, Grandma«, erwiderte Tom keck.
»Schöne Grüße an eure Eltern, sie sollen nicht zu streng sein mit euch, weil ihr solange fort wart. Tom, lern' schön in der Schule, ja?«
»Noch sind Ferien, Grandma«, gab Tommy mit breitem Grinsen zurück. Nachdem sich die Kinder verabschiedet hatten und die Tür sich hinter den beiden schloss, nahmen sie sich an den Händen und liefen schnellen Schrittes die Straße hinunter. Sie verspürten ein recht flaues Gefühl im Magen, da sie ihren Eltern nicht Bescheid gegeben hatten. Mom und Dad konnten sich denken, wo sich ihre Kinder aufhielten, und sie wussten ebenso, dass Grandma sie nach Hause schicken würde, sobald es dunkel wurde.
Hoffentlich waren ihre Eltern guter Laune, so hofften sie, insbesondere Dad. Sie liebten ihren Vater über alles, aber ebenso respektierten sie ihn. Dan Wilder konnte sehr streng sein, wenn es darauf ankam. Ihre Gedanken drehten sich auf dem Weg nach Hause allein darum, wie sie sich am geschicktesten aus der Affäre zogen. An Grandmas Vision dachte keiner mehr von ihnen.
Gänzlich anders erging es in diesem Augenblick Dorothea Wilson. Jetzt, nachdem sie den Kindern von ihrer Vision erzählt hatte – mittlerweile war sie der Meinung, sie hätte besser geschwiegen – dachte sie fortlaufend daran. Dieser Vision oder was immer es gewesen sein mochte, haftete etwas Bedrohliches, Gefährliches an.
Zwei Stunden nach dem Besuch der beiden Kinder brach sie vor ihrem Badezimmer zusammen.