Читать книгу Der geheimnisvolle Fremde - Mark Twain, ReadOn Classics, Charles Dudley Warner - Страница 6
Kapitel III
ОглавлениеDer Fremde hatte schon alles gesehen, war überall gewesen, wusste alles und vergaß nichts. Was andere mühsam studieren mussten, lernte er in einem einzigen Moment; und so etwas wie Schwierigkeiten gab es für ihn nicht. Und alles, wovon er uns erzählte, erweckte er vor unseren Augen zum Leben. Er hatte zugesehen, als die Welt erschaffen wurde; er war bei der Schöpfung Adams dabei gewesen; er sah, wie Samson sich gegen die Säulen stemmte und der Tempel über ihm zusammenstürzte; er war Zeuge von Caesars Tod; er berichtete vom Alltagsleben im Himmel; er hatte mit angesehen, wie die Verdammten sich in den roten Wogen der Hölle krümmten; und all das ließ er uns wie mit eigenen Augen sehen, als hätten wir uns selbst am Ort des Geschehens befunden. Trotzdem hatten wir das Gefühl, für ihn sei das alles nur ein Zeitvertreib. Diese Visionen von der Hölle, diese armen Säuglinge und Frauen und Mädchen und Burschen und Männer, die kreischten und angesichts ihrer Qualen um Gnade bettelten – nun, wir konnten es kaum ertragen, aber er war so abgestumpft dagegen, als wäre es nur um Spielzeugratten in einem bengalischen Feuer gegangen.
Und immer, wenn er über die Männer und Frauen auf dieser Erde und über ihre Taten sprach – selbst wenn es die großartigsten und erhabensten waren – schämten wir uns heimlich, denn alles an ihm deutete darauf hin, dass ihre Taten für ihn auf jämmerliche Weise bedeutungslos waren; hätten wir es nicht besser gewusst, so wären wir manchmal der Meinung gewesen, er spreche über Mücken. Einmal sagte er sogar, unsere Spezies hier unten sei für ihn ziemlich interessant, auch wenn sie stumpfsinnig und unwissend und nichtssagend und aufgeblasen wäre, ja, krank und gebrechlich, und – wohin man auch blicke – sich als schäbiger, armseliger und wertloser Haufen erweise. Er sagte es auf ganz selbstverständliche Art, ohne Verbitterung, einfach so, wie jemand über Ziegelsteine oder Düngemittel oder irgendetwas anderes spricht, das ohne Belang ist und keine Gefühle hat. Mir war klar, dass er es nicht böse meinte, doch in meinen Gedanken setzte es sich als etwas fest, das nicht gerade von gutem Betragen zeugte.
„Betragen!“ sagte er. „Was ich sage, ist eben die Wahrheit, und die Wahrheit zu sagen zeugt immer von gutem Betragen. Gute Manieren sind nur ein Hirngespinst. Die Burg ist fertig. Gefällt sie euch?“
Wir alle fühlten uns verpflichtet, sie zu mögen. Sie war entzückend anzusehen, wohlgestaltet und schön und in all ihren Einzelheiten so durchdacht und vollkommen, bis hin zu den kleinen Fahnen, die auf den Geschütztürmen wehten. Satan sagte, es sei nun an der Zeit, die Artillerie in Stellung zu bringen, die Hellebardisten aufmarschieren zu lassen und die Kavallerie zu präsentieren. Es war ein echtes Schauspiel, unsere Männer und Pferde zu sehen, die überhaupt nicht dem entsprachen, was wir uns vorgestellt hatten, da es uns für die Herstellung solcher Dinge natürlich an Übung mangelte.
Satan sagte, es seien die missratensten Exemplare, die er je gesehen habe; dann berührte er sie und erweckte sie zum Leben, und ihre Bewegungen wirkten richtig lächerlich, da ihre Beine unterschiedlich lang waren. Sie taumelten und stolperten herum, als wären sie betrunken, und waren eine Gefahr für alles Lebende ringsum, und schließlich fielen sie um und lagen hilflos und strampelnd vor uns. Darüber mussten wir alle lachen, auch wenn es eigentlich ein beschämender Anblick war. Die Kanonen wurden mit Erde geladen, um eine Salutsalve abzufeuern, aber sie waren so krumm und schlecht gefertigt, dass sie beim Abfeuern alle explodierten, und einige der Kanoniere kamen ums Leben, andere wurden verstümmelt. Satan sagte, falls wir Lust hätten, könne er uns auch einen Sturm und ein Erdbeben schicken; er bat uns aber, aus Sicherheitsgründen ein wenig Abstand zu halten. Wir wollten auch die kleinen Menschen warnen, doch er sagte, wir sollten uns um die keine Gedanken machen; sie seien belanglos, und wir könnten uns ja irgendwann neue erschaffen, falls wir welche bräuchten.
Eine kleine schwarze Gewitterwolke ballte sich über der Burg, und schon setzte ein winziges Spiel aus Blitz und Donner ein, und das Erdreich bebte, und der Wind orgelte und keuchte, und Regen fiel, und all die kleinen Menschen suchten Unterschlupf in der Burg. Die Wolke über ihnen wurde immer schwärzer, und hinter ihr konnte man die Burg nur noch schemenhaft erkennen. Ein Blitz nach dem anderen zuckte auf, bis schließlich einer davon in die Burg einschlug und sie in Brand setzte. Die Flammen färbten die Wolke blutrot, und die Leute strömten aus der Burg und kreischten, doch Satan drängte sie mit der Hand zurück und achtete nicht auf ihr Bitten und Weinen und Flehen; und während der Wind heulte und der Donner hallte, explodierte das Pulverarsenal, das Erdbeben ließ den Boden auseinander bersten, und die Trümmer der Burg bröckelten herab und verschwanden in dem Spalt, der sie verschluckte und sich sofort wieder über ihnen schloss. Keiner dieser unschuldigen Menschen, keine diese fünfhundert armen Kreaturen kam mit dem Leben davon. Es brach uns das Herz; und wir konnten unsere Tränen nicht zurückhalten.
„Was weint ihr denn?“ fragte Satan. „Sie waren wertlos.“
„Aber jetzt sind sie alle zur Hölle gefahren.“
„Ach, das spielt keine Rolle. Wir können uns jede Menge neuer davon erschaffen.“
Es war sinnlos, ihn zu einer Gefühlsregung hinreißen zu wollen. Offenbar waren ihm so etwas wie Gefühle völlig fremd, und er begriff unsere Anteilnahme nicht. Im Gegenteil: Er sprühte, er strömte über vor guter Laune – als wäre dies eine Hochzeit gewesen anstelle eines teuflischen Blutbads. Und er war so richtig darauf erpicht, dass wir dasselbe empfanden wie er, und mit Hilfe seiner Magie gelang ihm das natürlich. Für ihn war es kein Problem; er machte mit uns, was er wollte. Schon kurze Zeit später tanzten wir auf diesem Grab, und er spielte dazu auf einem merkwürdigen, lieblich klingenden Instrument, das er aus seiner Tasche zog; und die Musik ... aber eine solche Musik gibt es eigentlich gar nicht, außer vielleicht im Himmel, und genau von dort habe er sie auch mitgebracht, sagte er. Sie machte einen wahnsinnig vor Freude; und wir konnten unsere Augen nicht von ihm abwenden, und unsere Blicke kamen tief aus unseren Herzen, und was sie auf stumme Weise ausdrückten, war nichts als Verehrung. Auch den Tanz hatte er vom Himmel mitgebracht, und in ihm lebte die Glückseligkeit des Paradieses.
Wenig später sagte er, er habe nun einen Auftrag auszuführen. Doch wir konnten den Gedanken nicht ertragen und klammerten uns an ihm fest und flehten ihn an, zu bleiben. Das gefiel ihm, und das sagte er uns auch und ließ uns wissen, dass er noch ein wenig warten werde – wir könnten uns wieder hinsetzen und noch eine Weile mit ihm reden. Dann verriet er uns, dass Satan zwar sein richtiger Name sei, den nur wir kannten, doch für den Fall, dass er mit weiteren Personen zusammen sei, habe er sich einen anderen Namen ausgesucht – einen ganz gewöhnlichen Namen, wie er unter Menschen geläufig sei: Philipp Traum.
Der Name klang so sonderbar und gewöhnlich für ein solches Wesen! Aber es war seine Entscheidung, und wir sagten nichts; es genügte, dass er es so entschieden hatte.
An diesem Tag hatten wir viele Wunder gesehen; und in Gedanken war ich schon zu Hause und überlegte mir, was für ein Spaß es sein würde, den anderen davon zu erzählen, aber er erriet meine Gedanken und sagte:
„Nein, all jene Dinge sollen ein Geheimnis zwischen uns vieren bleiben. Ich bin euch nicht böse, wenn ihr den Drang habt, davon zu erzählen, aber ich werde eure Zungen davor bewahren, etwas von unserem Geheimnis auszuplaudern.“
Das war natürlich eine Enttäuschung, aber was sollten wir dagegen tun? Der eine oder andere Seufzer entfuhr uns. Wir sprachen munter weiter, und stets konnte er unsere Gedanken lesen und darauf eingehen, und für mich war es das Wunderbarste von allem, was er tat, doch er unterbrach meine Träumereien und sagte:
„Ja, dir erscheint es vielleicht wunderbar, mir aber nicht. Für mich gibt es keine Grenzen wie für euch. Die Gesetze der Menschen gelten für mich nicht. Ich kann eure menschlichen Schwächen ermessen und verstehen, da ich sie studiert habe; ich selbst jedoch habe keine davon. Mein Fleisch ist nicht wirklich, auch wenn es sich für euch ganz fest und real anfühlen würde; meine Kleider sind nicht wirklich; ich bin ein Geist. Oh, Pater Petrus kommt.“ Wir blickten um uns, konnten aber niemanden sehen. „Man kann ihn noch nicht sehen, aber gleich wird er auftauchen.“
„Kennst du ihn, Satan?“
„Nein.“
„Vielleicht hast du ja Lust, mit ihm zu sprechen, wenn er kommt? Er ist nicht so ahnungslos und dumm wie wir, und er würde sich bestimmt gern mit dir unterhalten. Hast du Lust?“
„Ein andermal, ja, aber nicht jetzt. Ich muss wirklich gleich los, um meinen Auftrag zu erfüllen. Da ist er ja schon. Seht ihr ihn? Am besten, ihr bleibt sitzen und sagt gar nichts.“
Wir blickten hoch und sahen Pater Petrus, wie er zwischen den Kastanienbäumen auf uns zukam. Wir hockten alle drei zusammen im Gras, und Satan saß vor uns auf dem Feldweg. Pater Petrus kam nur langsam näher, mit gesenktem Kopf und in Gedanken versunken, blieb ein paar Meter weit vor uns stehen, nahm den Hut ab und zog sein seidenes Taschentuch hervor, stand da, wischte sich übers Gesicht und sah aus, als wolle er uns ansprechen, tat es aber nicht. Dann murmelte er: „Ich weiß gar nicht, wie ich hierhergekommen bin; mir ist, als wäre ich vor ein paar Minuten noch in meine Studien vertieft gewesen – aber anscheinend habe ich nur eine Stunde lang vor mich hingeträumt und bin den ganzen Weg hierher gelaufen, ohne es zu merken. Ich bin völlig neben mir in diesen Kummertagen.“
Dann lief er weiter, nuschelte immer noch vor sich hin und lief direkt durch Satan hindurch, als wäre da niemand gewesen. Uns stockte der Atem, als wir das sahen. Wir verspürten den Drang, laut aufzuschreien, wie immer, wenn einem etwas Erschreckendes widerfährt, doch eine geheimnisvolle Kraft hinderte uns daran, und wir blieben ganz still, nur unser Atem ging schneller. Nach einer Weile verschwand Pater Petrus hinter den Bäumen, und Satan meinte:
„Wie ich euch schon gesagt habe – ich bin nur ein Geist.“
„Das leuchtet uns ja ein“, sagte Nikolaus. „Aber wir sind doch keine Geister. Dass er dich nicht sehen konnte, ist klar, aber wir waren für ihn ja auch unsichtbar, oder? Er hat zu uns hergesehen, aber er schien uns nicht zu bemerken.“
„Nein, keiner von uns war für ihn sichtbar. Weil ich es so wollte.“
Eigentlich zu schön, um wahr zu sein, dass wir all diese romanhaften und wundervollen Dinge zu sehen bekamen, und dass sie nicht nur ein Traum waren. Und da saß er vor uns, sah aus wie jeder andere auch – ganz natürlich, schlicht und bezaubernd – und plauderte mit uns wie gewohnt, und – nein, es lässt sich nicht in Worten ausdrücken, was wir empfanden. Es war eine Art von Ekstase – und Ekstase ist etwas, das sich nicht in Sprache fassen lässt; es ist wie Musik. Keiner kann jemandem erklären, was Musik ist, so dass der andere es auch wirklich empfindet. Er war zurückgekehrt in die alten Zeiten, und erweckte sie vor uns zu neuem Leben. Er hatte so viel gesehen, so viel! Es war einfach ein Wunder, ihn anzusehen und darüber nachzudenken, wie es war, wenn man so viele Erfahrungen gemacht hatte.
Aber wenn man ihm lauschte, fühlte man sich auf traurige Weise belanglos, wie eine Eintagsfliege, deren Tag auch nur kurz und armselig war. Und keines seiner Worte eignete sich dazu, dir deinen schwindenden Stolz zurück zu verleihen. Wenn er von Menschen sprach, dann in seiner gewohnt gleichgültigen Weise – so wie man von einem Ziegelstein spricht oder einem Misthaufen. Man spürte, dass sie für ihn völlig bedeutungslos waren, egal in welcher Hinsicht. Er wollte uns nicht verletzen, das spürten wir; schließlich wollen wir ja auch einen Ziegelstein nicht verletzen, wenn wir über ihn herziehen; für uns hat der Ziegelstein einfach keine Gefühle.
Dann, als er wieder einmal die glanzvollsten Könige und Eroberer und Dichter und Propheten mit Piraten und Bettlern über einen Kamm scherte – alles nur ein Haufen Ziegelsteine – wagte ich es, eine Lanze für die Menschheit zu brechen. Ich fragte ihn, weshalb er zwischen ihr und sich einen so großen Unterschied mache. Einen Moment lang fiel es ihm schwer, zu antworten; so als gehe es ihm nicht in den Kopf, wie ich eine so merkwürdige Frage stellen konnte. Dann sagte er:
„Der Unterschied zwischen den Menschen und mir? Der Unterschied zwischen einem Sterblichen und einem Unsterblichen? Zwischen einer Wolke und einem Geist?“ Er nahm eine Blattlaus auf, die an einem Stück Baumrinde entlang krabbelte. „Was ist der Unterschied zwischen der hier und Caesar?“
Ich sagte: „Man kann Dinge nicht vergleichen, die auf Grund ihrer Natur und der Kluft, die zwischen ihnen herrscht, nicht vergleichbar sind.“
„Damit hast du deine Frage selbst beantwortet“, sagte er. „Ich will es etwas näher ausführen. Der Mensch ist aus Dreck gemacht – ich war dabei, als er erschaffen wurde. Ich bin nicht aus Dreck gemacht. Der Mensch ist ein Museum aus Krankheiten, die Wohnstätte aller Verunreinigungen. Heute erscheint er, und morgen ist er schon wieder verschwunden. Als Dreck kommt er, als Gestank geht er. Ich entstamme der Aristokratie der Unvergänglichen. Und der Mensch hat ein moralisches Bewusstsein. Versteht ihr das? Er hat ein moralisches Bewusstsein. Das allein reicht schon aus, um ihn von mir zu unterscheiden.“
Er schwieg, als hätte sich das Thema damit erledigt. Es tat mir leid, denn damals hatte ich nur eine vage Vorstellung von dem, was moralisches Bewusstsein bedeutet. Ich wusste nur, dass wir stolz darauf waren, über ein solches Bewusstsein zu verfügen, und wenn er so darüber sprach, verletzte mich das, und ich fühlte mich wie ein Mädchen, das glaubte, sein teuerster Schmuck werde von jedermann bewundert, dann aber hören musste, wie Fremde sich darüber lustig machten. Eine Zeit lang schwiegen wir alle, und zumindest ich war bedrückt. Dann begann Satan erneut zu plaudern, und schon bald hatte er sich in eine so fröhliche und lebhafte Stimmung hineingesteigert, dass meine Laune wieder stieg. Er berichtete von lustigen Streichen, so dass wir aus dem Lachen nicht mehr herauskamen; und wenn er von den Tagen erzählte, als Samson den Füchsen brennende Fackeln an die Schwänze band und sie auf die Getreidefelder der Philister trieb, oder wie Samson auf dem Zaun saß, sich auf die Schenkel schlug und Tränen lachte, bis er das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel, musste er bei der Erinnerung an diesen Anblick ebenfalls lachen, und wir verbrachten eine herrliche und sorglose Zeit miteinander. Irgendwann aber sagte er:
„Ich muss jetzt meinem Auftrag nachkommen.“
„Ach, bitte nicht!“ riefen wir alle. „Geh nicht weg; bleib bei uns. Du kommst sonst nicht wieder.“
„Natürlich komme ich wieder. Ihr habt mein Wort.“
„Und wann? Heute Nacht noch? Sag schon.“
„Ich bleibe nicht lange weg. Ihr werdet es ja sehen.“
„Wir haben dich gern.“
„Ich euch auch. Und als Beweis dafür will ich euch etwas ganz Tolles zeigen. Normalerweise verschwinde ich einfach, wenn ich gehe; aber diesmal werde ich mich auflösen – und zwar vor euren Augen.“
Er stand auf, und dann ging alles sehr schnell. Er wurde immer kleiner und kleiner, bis er nur noch eine Seifenblase war, die aber noch immer seine Gestalt hatte. Man konnte die Sträucher durch ihn hindurch sehen wie durch eine richtige Seifenblase, und alles an ihm war ein Spiel und Funkeln mit den schillernden Farben der Blase, und da war auch das kleine Fensterchen, das auf der Oberfläche einer jeden Seifenblase zu sehen ist. Kennt ihr das, dass eine Seifenblase auf dem Teppich landet und noch zwei- oder dreimal hochhüpft, bevor sie platzt? Genau das geschah mit ihm. Er sprang, kam auf dem Gras auf, hüpfte wieder hoch, schwebte ein Stück weiter, kam wieder auf, und so weiter, bis er schließlich – puff! – zerplatzte und nichts als Leere zurückließ.
Es war seltsam und wundervoll anzusehen. Wir sagten keine Silbe, wir saßen nur da und staunten und träumten und zwinkerten. Irgendwann schreckte Seppi hoch, seufzte betrübt und sagte:
„Ich glaube, das haben wir uns alle nur eingebildet.“
Nikolaus seufzte auch und sagte ungefähr dasselbe.
Ich litt sehr unter ihren Worten, denn sie zeugten von der gleichen kalten Angst, die auch in mir vorherrschte. Dann sahen wir den armen alten Pater Petrus auf seinem Rückweg, mit gebeugtem Haupt, als würde er auf dem Boden nach etwas suchen. Als er bereits dicht in unserer Nähe war und uns sah, fragte er: „Wie lange seid ihr schon hier, Jungs?“
„Schon eine ganze Weile, Pater.“
„Dann wart ihr ja schon hier, als ich das erste Mal vorbeigelaufen bin. Vielleicht könnt ihr mir dann helfen. Seid ihr über den Fußweg hierher gekommen?“
„Ja, Pater.“
„Das ist gut. Denselben Weg bin ich nämlich auch gegangen. Ich habe meine Brieftasche verloren. Es war nicht viel drin, aber für mich ist schon wenig eine ganze Menge – es war alles, was ich hatte. Ihr habt nicht zufällig so was Ähnliches gesehen?“
„Nein, Pater, aber wir helfen Ihnen gerne suchen.“
„Genau das wollte ich euch fragen. Aber Moment – hier ist sie ja!“
Wir hatten es nicht bemerkt – aber da lag die Brieftasche, genau an dem Ort, wo Satan gestanden hatte, als er geschmolzen war – falls er überhaupt geschmolzen war und wir es uns nicht nur eingebildet hatten. Pater Petrus hob die Brieftasche auf und sah äußerst verblüfft drein.
„Das ist sie“, sagte er. „Aber ich weiß nicht ... sie ist so dick, und meine war doch so flach. Und sie fühlt sich so schwer an ... meine war eher leicht.“ Er öffnete sie, und wir sahen, dass sie überquoll vor Goldmünzen. Der Pater zeigte sie uns fassungslos vor, und natürlich fielen uns fast die Augen aus dem Kopf, denn so viel Geld auf einen Haufen hatten wir nie zuvor gesehen. Es lag uns auf den Lippen, zu sagen: „Das war Satan!“, aber wir kriegten kein Wort hervor. Da zeigte es sich wieder – wir waren nicht in der Lage, das auszusprechen, was Satan nicht ausgesprochen haben wollte; er hatte es uns ja selbst gesagt.
„Sagt mal, Jungs, wart ihr das?“
Über diese Frage konnten wir nur lachen. Und der Pater lachte auch mit, sobald ihm klar wurde, was für eine dämliche Frage es gewesen war.
„War hier sonst noch irgendjemand?“
Darüber mussten wir lachen. Und als er merkte, was für eine idiotische Frage es gewesen war, lachte er sofort mit.
„Wer ist hier gewesen?“
Wir öffneten den Mund, um zu antworten, doch dann erstarrten wir in dieser Pose, denn „Niemand“ konnten wir ja nicht sagen, das wäre eine Lüge gewesen, und eine richtige Antwort fiel uns nicht ein. Dann aber kam mir doch ein brauchbarer Gedanke, und ich sagte:
„Kein Mensch.“
„Das stimmt“, sagten die anderen, dann schwiegen sie sofort wieder.
„Das stimmt nicht“, sagte Pater Petrus und sah uns sehr streng an. „Ich bin hier vorhin schon vorbei gekommen, und es war niemand da, aber das spielt keine Rolle. Es muss inzwischen jemand hier gewesen sein. Das soll nicht heißen, dass ihr hier wart, als diese Person vorbei ging, und es soll auch nicht heißen, dass ihr sie gesehen habt. Aber es ist jemand vorbeigekommen, so viel weiß ich. Und jetzt mal ganz ehrlich – ihr habt niemanden gesehen?“
„Keinen Menschen.“
„Das reicht; ich weiß jetzt, dass ihr die Wahrheit sprecht.“
Er begann das Geld vom Weg aufzulesen, und wir knieten uns sofort nieder, um ihm zu helfen, und stapelten die Münzen aufeinander.
„Es sind etwa elfhundert Dukaten“, sagte er. „Mein Gott! Wäre so schön, wenn sie mir gehören würden – ich könnte sie so gut gebrauchen!“ Seine Stimme stockte, und seine Lippen bebten.
„Aber sie gehören Ihnen doch!“ riefen wir alle gleichzeitig.
„Jeder einzelne Groschen!“
„Nein, sie gehören mir nicht. Mir gehören nur vier Dukaten – aber der Rest ...!“ Er fing an zu träumen, die gute alte Seele, und liebkoste einige der Münzen in seiner Hand und vergaß, wo er war, saß einfach nur da, auf die Fersen gestützt, mit seinem alten grauen Kopf. Es tat uns allen weh, ihn so zu sehen. „Nein“, sagte er und erwachte wieder. „Es gehört mir nicht. Ich kann es nicht für mich beanspruchen. Ich glaube, irgendein Feind ... es muss eine Falle sein.“
Nikolaus sagte: „Pater Petrus, mal abgesehen vom Astrologen haben Sie doch eigentlich gar keine Feinde hier im Dorf. Und Margit auch nicht. Und welcher Feind oder auch nur Halbfeind würde schon elfhundert Dukaten opfern, nur um Ihnen einen Streich zu spielen? Sagen Sie doch mal ehrlich!“
Diesem Argument musste er sich natürlich stellen, und es schien ihn aufzuheitern. „Aber es gehört mir nicht, das wisst ihr ja auch – es ist nicht mein Geld. Unter keinen Umständen.“
Er brachte es in sehnsüchtigem Tonfall vor, wie jemand, dem es lieber wäre, dass man ihm widerspräche anstatt ihm zuzustimmen.
„Es gehört Ihnen, Pater Petrus, und wir können es bezeugen. Oder etwa nicht, Kumpels?“
„Klar können wir das. Und dazu werden wir auch stehen.“
„Gott segne euch. Ihr könntet mich fast schon überreden – ach, eigentlich habt ihr mich schon überredet. Wenn nur hundert Dukaten davon mir gehören würden! So hoch ist die Hypothek, die auf unserem Haus liegt, und wenn wir morgen nicht zahlen, bleibt uns kein Dach über dem Kopf. Und diese vier Dukaten sind alles, was wir in letzter Zeit ...“
„Es gehört Ihnen, jede einzelne Münze! Und Sie sollten es sich nehmen – wir bürgen dafür, dass alles seine Ordnung hatte. Tun wir doch, Theodor? Oder etwa nicht, Seppi?“
Wir sagten beide Ja, und Nikolaus stopfte das Geld zurück in die schäbige alte Brieftasche und reichte sie ihrem Besitzer. Der Pater sagte, er wolle sich zunächst nur zweihundert Dukaten davon nehmen, da sein Haus ihm eine gute Sicherheit böte, und den Rest erst einmal zinsbringend anlegen, bis der rechtmäßige Besitzer sich melden würde. Und uns bat er darum, ein Dokument zu unterschreiben, in dem stand, wie er zu dem Geld gekommen sei – ein Dokument, das den Dorfbewohnern als Beweis dienen sollte, dass er seinen Geldsorgen nicht auf unehrliche Weise entkommen sei.