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Nacht über Grantown
Оглавление»Doch es muss auch dem seichtesten Verstand einleuchten, dass das Böse dieser Welt … einfach zu meisterhaft geordnet, zu genau geplant, zu geschickt ausgerichtet und zu absichtsvoll und gnadenlos ist. Es steckt ein Plan dahinter, eine Diplomatie, Verschlagenheit, Kriegslist, ein Kampf.«
Montague Summers, Hexen & schwarze Magie
Das schlanke Absinthglas war bis zu seinem Reservoir geleert; der milchig schimmernde Rest seines Inhalts ergoss sich, hervorgerufen durch das hypnotische Flackern einer schwarzen Stumpenkerze, in trüben Schatten auf brüchig vergilbte Buchseiten. Tief über sie gebeugt, ja begierig den Staub und den Moder von unbestimmten Jahrhunderten einsaugend, rezitierte Marinus Janssen mit geölter Stimme, vor einer hinter löchrigen Vorhängen verborgenen Zuhörerschaft, folgende belehrende Worte, welche da tönten, als ob sie für die Ewigkeit in Stein gemeißelt wären: »So sei was du herbeigerufen habest denn auch bereit Beizeit zu bannen, so denn der Nachtgewalt verfallen dein schmählich Geist solch noch vermag, denn wisse ewiglich da waltet das Böse hin zum jüngsten Tag ….«
Das Publikum begann sich prustend vor der Bühne zu regen und brach alsbald in durchdringendes hohles Gelächter aus.
Janssen schüttete sich den letzten Rest der Grünen Fee in den Hals, streute mit einem kupfernen Löffel betörendes Räucherwerk in eine tönende Glutschale; dann lachte er selbst dem von ihm Vorgetragenen erstickend Hohn, während gelber Qualm sein jugendhaftes Antlitz einhüllte und dessen Gesichtszüge Anzeichen einer gewissen ghoulischen Besessenheit verlieh.
Seit nunmehr elf Jahren war der junge Privatgelehrte unermüdlich in den ländlichen Gegenden Schottlands unterwegs gewesen, nachdem es ihn aus seiner Heimatstadt Neustrelitz in Deutschland über Irland hierher in den hohen Norden Europas verschlagen hatte. An der Universität Edinburgh war es ihm schwerlich gelungen, recht viel mehr über das rätselhafte Volk der Pikten, denen sein Anliegen galt, herauszufinden, als dass es sich bei dessen Stammesmitgliedern lediglich um ein unzivilisiertes Vormenschentum aus edlen Wilden gehandelt haben müsse. Janssen seinerseits vermutete indes weit ehr als das. Schon im fernen Dublin hatten die Poscheen trinkenden Seeleute in den Spelunken hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, es hausten auf den verlassenen Inseln der Orkneys und Hebryden seltsame Wesen, deren einzige Bestimmung darin bestehe, den Menschen Sinn und Verstand zu rauben, auf dass die vorherrschende Ordnung der Welt zerbräche und sich neu formiere. Aus diesem Grunde mieden die alten Kapitäne der grünen Insel diese Gewässer wie der Teufel das Taufbecken, ist es doch seit jeher der Menschheit ein Graus, den alten Gewohnheiten zu entsagen in deren lieb gewonnenen Fesseln sie sich behäbig wiegt.
Beseelt davon, Wissen über Dinge erlangen zu wollen, deren Existenz er sich nicht auszureden vermochte, hatte Marinus Janssen nach und nach die megalithischen Zeugen jener verschrobenen Pikten aufgesucht, um sie unter dem Aspekt neuerlicher Erkenntnisse auf Herz und Nieren zu untersuchen. Dabei war er auf Erstaunliches gestoßen, denn mithilfe von Auswertungen abweichender Feldlinien nach der alten Methode Mesmers, gelang es ihm erstmalig im Jahre 1876 das Innere des Adlersteines von Grantown mit einer eigens dafür entwickelten Apparatur grafisch auf eine Daguerreotypie zu übertragen. Das war vor über drei Jahren gewesen. Seitdem hatte er Grantown nicht mehr verlassen und sich in sein Laboratorium in der Upper Highstreet zurückgezogen, von wo aus er sämtliche alltäglichen Geschäfte zur zuverlässigen Erledigung seinem livrierten Butler Jakobus überließ. Jener Betagte hatte bereits unter den Vorbesitzern gedient und kannte jeden Winkel des alten Anwesens wie seine Westentasche; doch war er bar jeglicher Ahnung, welche rezenten Schrecken sich ihm innerhalb des bröckeligen Gemäuers unter dem wurmstichigen viktorianischen Gebälk anzubahnen gedachten.
In einer mondlosen Nacht nun hatte Janssen seinen kurzsichtigen Diener zu überreden vermocht, mit ihm das windschiefe Gebäude zu verlassen, um sich vorgeblich von jenem den Weg zu dem unvordenklich alten Stein der Pikten leuchten zu lassen, welcher sich oberhalb eines nahen Hügels in ein feuchtes schwer zugängliches Gebüsch drückte.
Unbehende schlich der Alte zaghaft voraus, wollte er doch nach eigener Aussage das unheimliche vorkulturelle Denkmal seit seiner Kindheit nicht mehr erblickt haben. Als sie sich unter regentriefendem Geäst dem Ort bis auf wenige Schritte genähert hatten, bat Janssen Jakobus die Laterne auf einem Baumstumpf abzustellen und sich nicht zu bewegen. Dann trat er hinter ihn, packte fest zu und schnitt seinem Diener mit einem scharfen Jagdmesser blitzschnell die Kehle auf, aus der sogleich eine zähe Blutfontäne austrat, die zielgerichtet auf den Adlerstein auftraf, bis seine narbige Oberfläche mit dem schwächlichen Lebenssafte des Greises durchtränkt war. Nachdem jener ausgeblutet war, schleifte ihn Janssen ins nahe Unterholz, um die Leiche dort zu verscharren. Danach baute er hastig eine Vorrichtung um den Megalithen herum auf, welche es erlauben sollte, in einer Art Kondensator dessen magnetische Abströme zu speichern, um sie hernach im Labor auf besagten Photoplatten sichtbar machen zu können.
Was Marinus Janssen später dort auf ihnen entdeckte, hatte bald seine kühnsten Erwartungen übertroffen. Die Entwicklung der silberbeschichteten Bildträger brachte nach und nach feinste Linien zum Vorschein, die nach der Fixierung mit Kochsalzlösung etwa ein Dutzend fremdartige dunkle Gesichter erkennen ließen. Sie schienen mit Tätowierungen bedeckt zu sein, wie sie auf ähnliche Art in animistischen Kulturkreisen verbreitet sind und ein jeder ihrer Münder zeigte ein unterschiedliches Öffnungsverhältnis, als ob sie jeweils einen unterschiedlichen Laut oder Buchstaben formierten.
Erst dachte Janssen an einen Zufall und begann mit der Reproduktion und Neubelichtung des Plattenmaterials. Als sich jedoch die Gesichter erneut zeigten, diesmal jedoch mit anderen Zeichen auf ihren Häuptern und anderen stummen Lauten auf ihren Lippen, erkannte er, dass er sich nicht geirrt haben konnte. In wochenlanger Arbeit fertigte er mehrere hundert Stück der Aufnahmen an, bis er bemerkte, dass die Münder der abgebildeten Köpfe sich nun immer mehr schlossen und die seltsamen Zeichen auf ihnen regelrecht verblassten. Da die Nachbarn Janssens schon zu reden begannen ob der Unmengen Chemikalien sowie weiterer Lieferungen, welche er nun schon beinahe täglich erhielt, zog er sich alsdann zur Auswertung seiner photographischen Ergebnisse hinter verrammelte Fenster und Türen in sein Laboratorium zurück, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen. Weitere Wochen später war es ihm annähernd gelungen, die Abbildungen in Relation zueinander zu setzen; wobei Marinus Janssen erkannte, dass sich schleichend zur Realität formierte, was nur in derben Legenden mancherorts erhalten geblieben war. Die Zeichen und Münder schienen ein regelrechtes Eigenleben zu besitzen; sie erzählten Geschichten ruheloser Seelen aus ferner Zeit, die darauf warteten wieder in der realen Welt fußen zu können. Ohne Zweifel war es das Blut von Jakobus gewesen, das ihre schlafenden Geister in Schwingung versetzt hatte.
Kurz vor Ende der Auswertungen drängte sich Janssen das unangenehme Gefühl auf, die Botschaften auf den Photoplatten würden fortweg fordernder, obschon er ihren genauen Wortlaut nicht zu entschlüsseln vermochte.
Da brachte ihm ein Traum, den er in einer der folgenden Nächte hatte den Schlüssel zu sämtlichen grotesken Andeutungen und auf einmal verstand er das, was die Gesichter ihm mitteilen wollten von Anfang an. Schweißgebadet erwachte er, ließ jedoch nicht zu, dass der Traum verflog, von dem er alles, an das er sich erinnerte, unverzüglich zu Papier brachte. Als der Inhalt dessen wenig später in sein Wachbewusstsein eingedrungen war, erschauderte er ob der ungeschönten Rede, welche der alte Häuptling aus dem Traumgesichte ihm, Marinus Janssen, gewidmet hatte; glasklar und unmissverständliche war seine Sprache gewesen; aus bleiernen Tiefen war die Macht seines archaischen Gedankengutes heraufgestiegen. Das sei seine erste flüchtige Offenbarung an Janssen hatte er gesagt. Die zweite bleibende sollte sich dieser ein weiteres Mal mit Blut erkaufen; ansonsten könne ihm die allumfassende Weisheit der Pikten über das gesamte Universum nicht Zuteil werden.
Janssen erbebte vor Zorn, sah sich aber schnell in der durchaus schlechteren Position. Wollte er nämlich die Früchte seiner langjährigen Arbeit jetzt einholen, musste ihm hierbei jenes Mittel wohl oder übel recht sein. Jedoch, so dachte er, könnte eine List einer allzu schnellen Forderungserfüllung durchaus ebenbürtig sein, nicht zuletzt um sich von der unverschämten Dominanz jenes Geistes zu distanzieren. Wie gesagt, so dachte er bei sich: nämlich das Böse gegen das Böse auszuspielen. Und so ließ er den Geist des Häuptlings zunächst für geraume Zeit in seinem schicksalhaften Urzustande verharren. Nacht für Nacht sah er jenen in seinen Träumen, doch vernahm er nicht mehr ein Wort von ihm. Schließlich war es Janssen, der nachgab, stand ihm doch nur die verbleibende Zeit seines Lebens zur Verfügung, dem Anderen aber unendlich mehr. Um den geplanten Schachzug dennoch zum Gelingen zu führen, zwang er eines Nachts durch ein spätmittelalterliches Beschwörungsritual sämtliche zwölf Geister aus den photographischen Platten sich ihm zu zeigen und vollbrachte es, sie zu materialisieren. Wie sie ihm noch zu gleicher Stunde berichteten, hatten sie dem Häuptling aus Janssens Traum ihr Lebtag in sklavischer Knechtschaft gedient, denn sie waren selbst noch Kinder gewesen, als jener angeblich ihre Sippe unterworfen hatte, um seinen eigenen Stamm zu stärken. Janssen vertraute den Wesen auf naive Art, deren Körper amorphen Massen gleich sich in beliebigen Formgebungen zu zeigen vermochten, nur an ihren relativ gleichbleibenden Köpfen waren sie voneinander zu unterscheiden. Es mussten ähnliche Gestalten gewesen sein, von denen die trunkenen Seebären in den Spelunken einst berichtet hatten. Der Reihe nach erwiesen sie Janssen ihre Reverenzen, nannten ihm jeweils Namen und Absicht eines jeden, dann gelobten sie in Treue und Ergebenheit ihm immerfort zu unterstehen sowie alle Fragen zu beantworten nach denen die Welt giert, wenn er doch nur daran festhielte, dem verhassten Häuptling niemals den Blutzoll zu zahlen. So wurde also ein Pakt geschmiedet zwischen einem lebenden Menschen und den Gestaden des Jenseits; zu welchem Preis - zumindest Marinus Janssen wusste es nicht. Jedoch sollte er bald viel erfahren über das Wesen der Dinge, viel mehr als im beizeiten recht erschien und kleinliche Fragen verloren sich alsbald in abgrundtiefen Einsichten. Es war ihm, als ob sich in fremden Dimensionen Raum und Zeit vor Geburtsschmerzen krümmten um dann den gordischen Knoten der Erkenntnis mit dem Hervorbringen einer Totgeburt lösen zu wollen: das Absolute schien tatsächlich nicht neben dem Lebendigen existieren zu können; die belebte Welt verkam zur schieren Illusion - ein Traum unter den Myriaden von Träumen dort draußen hinter den Planeten.
So kam es, dass Janssen seinem bisherigen Leben und dem menschlichen Dasein im Allgemeinen hinfort Hohn spottete. Die Geister der Pikten waren ihm schnell zu ständigen Begleitern und Weggefährten in seiner ansonsten einsamen Behausung geworden, ja man konnte sagen, diese verschrobenen Seelen waren ihm eine dauerhafte geistige Fluchtburg. Sie waren ihm bisweilen ebenda ein geneigtes Publikum, welches sich an den absonderlichen Lächerlichkeiten und bedeutungslosen Szenarien humaner Wesensart nun regelmäßig in einem kleinen improvisierten Theater zu ergötzen pflegte; und er war ihr Star, der sich genüsslich in seinem Ruhm sonnte je mehr er eben die Abstrusitäten seiner eigenen Spezies durch den Dreck ziehen konnte. Doch in unbedachter Hybris, verwarf er die Wahrheit aus den alten Schriften, konnte nicht mehr unterscheiden zwischen Rat und Warnung sondern entsagte jedem überlieferten Verstande; wurde achtlos!
»So sei was du herbeigerufen habest denn auch bereit Beizeit zu bannen, so denn der Nachtgewalt verfallen dein schmählich Geist, solch noch vermag, denn wisse ewiglich da waltet das Böse hin zum jüngsten Tag …«, las er noch einmal. Wieder begann er über den alten Text zu lachen, doch diesmal blieben seine Zuhörer stumm. Er zog den staubigen Bühnenvorhang auf, welcher gelegentlich zu einem grotesken Versteckspiel diente, und erschrak unweigerlich in seinem tiefsten Innern. Obschon er geglaubt hatte jegliche Möglichkeit des Empfindens von Furcht sei von ihm abgefallen, übermannte ihn sein Urinstinkt wie er es niemals mehr zu erleben gedacht hatte. Tausend ghoulische Augen starrten aus dem Tartarus des schwarzen Zuschauerraumes zu ihm empor; während eine Stimme sich regte und voll boshafter Ironie ein alttestamentarisches Bibelzitat vorsprach: »Glücklich der Mann, der nicht folgt dem Rat der Gottlosen, den Weg der Sünder nicht betritt und nicht im Kreis der Spötter sitzt.« Alle übrigen blieben stumm. Da begriff Marinus Janssen, dass der Spruch ihm gegolten hatte; sein Herz begann zu verkrampfen und kalter Schweiß brach ihm aus.
»Dachtest du wahrhaftig, du könntest ihnen vertrauen? Dachtest du wirklich sie würden mich tatsächlich hintergehen? Du bist ein Narr, Janssen.«
Als er den schrecklichen Häuptling der Pikten aus dem Halbdunkel auf sich zukommen sah, wusste er, dass er verloren war. Ohne Gegenwehr nahm er es hin, als sich jener mit gierigem Gaumen über ihn beugte und mit seinem Blut auch den letzten Rest überheblicher Arroganz aussaugte, bis sein ehemals so wohl geformtes Antlitz zu einer grauenerregenden Fratze erkaltet war.
Als der Vorhang in dieser Nacht zum letzten Mal fiel, hatte Marinus Janssen seinen Meister gefunden - denn er war tot.