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MONTAG, 29. JUNI, FEIERTAG „PETER UND PAUL“

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„Schon wieder Verwicklungen mit Serbien!“ Der Gedanke, der immer wieder durch seinen Kopf geistert, klingt fast verzweifelt. Während er sich erschöpft auf die Rückbank des Automobils sinken lässt, fährt der Fahrer mit dem Wagen langsam die Schlossallee hinunter und biegt nach kurzem Stopp in die Straße Richtung Karlsbad. Von dort geht es weiter nach Wien, das sie nach drei Stunden Fahrzeit erreichen werden.

Graf Leopold Berchtold, der k. u. k. Minister des Äußeren, sitzt im Fond und versucht, seine Gedanken zu ordnen. Die bevorstehenden Stunden der Fahrt werden die ersten ungestörten sein, seit gestern am frühen Nachmittag die unfassbare Nachricht aus Sarajevo eingetroffen ist. Der Graf neigt seinen Kopf und blickt aus dem Fenster, lässt die Landschaft vorbeiziehen. Wieder schießt ein Gedanke durch seinen Kopf, der seinen Magen verkrampfen und die Atmung schwer werden lässt: „Ich muss mich jetzt endlich diesem Problem stellen …!?“ Obwohl er, seit er im Februar 1912 die Nachfolge des Grafen Aehrenthal als Leiter des Auswärtigen Amtes angetreten hat, schon einige schwierige Phasen bewältigt hat, scheinen nun die schwersten Tage seiner Amtsführung auf ihn zuzukommen. Der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin, die Herzogin von Hohenberg, sind in Sarajevo von einem jungen Fanatiker ermordet worden. Immer wieder zieht diese Schreckensmeldung vor seinem geistigen Auge vorbei. Beim Gedanken an die letzten Stunden spürt Graf Berchtold, wie seine Schläfen pulsieren und ihn gleichzeitig die Müdigkeit übermannt. Die unruhige Fahrt wird durch die hohe Geschwindigkeit des Wagens noch verstärkt, denn er hat seinem Fahrer Anweisung gegeben, bis spätestens 17:30 Uhr das Ministerium in Wien zu erreichen. Immer wieder schreckt er aus seinen Gedanken hoch und erinnert sich an die Bürde seines Amtes. Seine Ausbildung und die Erfahrungen der letzten Jahre in Russland haben ihn gelehrt, auf katastrophale Ereignisse dieser Art vorbereitet zu sein. Mit der Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers ist nun das bei Weitem Schlimmste eingetreten. „Dieses Mal muss ich Stärke zeigen!“ Sein Gesicht spiegelt sich fahl im Fenster des Automobils. „Ein weiteres Anzeichen politischer Schwäche kann ich mir in meiner Position nicht mehr leisten“, murmelt er vor sich hin, während er versucht, seine Gedanken zu sammeln. Er richtet sich auf, öffnet seine Aktentasche und beginnt, sich auf die bevorstehenden Treffen in Wien vorzubereiten.

***

Er saß gerade im Arbeitszimmer im 2. Stock seines Schlosses in Buchlau und wollte sich auf den planmäßigen Ministerrat in der kommenden Woche vorbereiten. Die Stimmen der Kinder, die vom Garten zu ihm heraufdrangen, stellten seine Konzentrationsfähigkeit immer wieder hart auf die Probe und lassen nun im Rückblick ein Lächeln in seinem Gesicht erscheinen. Am frühen Nachmittag schließlich rang er sich dazu durch, das Fenster zu schließen, um sich voll auf seine Arbeit konzentrieren zu können. Als er gerade am Fenster stand, fiel sein Blick auf eine Staubwolke, die durch ein heranrasendes Automobil verursacht wurde. Den Blick nicht davon abwendend, spürte er Unheil heraufziehen. Durch die abgelegene Lage seines ehemals als Jagdschloss erbauten Anwesens konnte die Notwendigkeit für eine derart lebensbedrohende Geschwindigkeit nur mit ihm und seiner Funktion als Minister des Äußeren in Verbindung stehen. Als der Wagen für einen Moment hinter einer Baumgruppe verschwand, schloss er die Fenster und ging die Treppen hinunter in die Empfangshalle.

Immer wieder musste er das Telegramm lesen und zwei Mal befragte er den Überbringer zur Richtigkeit. Mit voller Wucht traf ihn die Tragweite des Gelesenen. Einen Moment lang brach eine Gedankenflut über ihn herein, ließ ihn zweifeln und ob des Bevorstehenden Ratlosigkeit aufkommen, aber er fasste sich bewundernswert schnell. Seine Erziehung, die Ausbildung und die langjährige Erfahrung im diplomatischen Korps hatten dazu geführt, dass er diesmal schnell und umsichtig handelte.

***

Ruckartig bewegt sich das Automobil über die Straße, sodass Graf Berchtold immer wieder seine Notizen korrigieren muss. Er sieht hinaus und erkennt, dass sie bereits auf Pressburg zufahren. Mit Blick auf seine Uhr stellt er beruhigt fest, dass noch genügend Zeit bis zu seinem ersten Termin verbleibt. „Anton, ich danke dir für die zügige Fahrt bis hierher, aber nun ist die Raserei nicht mehr erforderlich. Bis Wien ist es nicht mehr weit und wir können es geruhsamer angehen. Bitte, bring mich direkt zum Ballhausplatz, die Fahrt in die Wohnung, wie ursprünglich vorgesehen, kann entfallen.“

Anton Brauer ist seit seiner Kindheit bei der Familie Berchtold und genießt daher ganz besonderes Vertrauen. Er hat als Stallknecht beim Vater des jetzigen Grafen Berchtold begonnen, und als die ersten Automobile ins Schloss gekommen sind, hat er sich dafür sofort begeistern können – entgegen dem Wunsch seines Vaters, wie er stets betont. Seit nunmehr fünf Jahren ist er der Fahrer des Grafen, wann immer er im Schloss ist. Das ist freilich selten genug, denn seit der Graf aus St. Petersburg wieder zurück ist, verbringt er zwar mehr Zeit als zuvor zu Hause, aber die Aufgaben als Minister des Äußeren schränken seine karge Freizeit stark ein. Die meiste Zeit des Jahres kümmert sich Anton daher um die Fahrzeuge des Grafen, ohne dass sie jemand wirklich benötigen würde.

„Jawohl, Herr Graf, ganz wie Sie wünschen“, antwortet Brauer und fragt nach: „Belieben der Graf vor der Ankunft im Ministerium noch was zu essen?“ „Danke der Nachfrage“, gibt Berchtold zurück und blickt von seiner Arbeit auf. Den Hintergedanken der Frage erkennend, beugt er sich vor und fährt fort: „Sobald du mich abgesetzt hast, kannst du dir den restlichen Abend freinehmen. Ich erwarte dich morgen um zehn Minuten vor neun vor der Wohnung.“ Einen Moment innehaltend, fügt Berchtold hinzu: „Und bitte bring mir die Morgenzeitungen mit!“ Erleichtert darüber, dass der Graf seine Andeutung wieder einmal richtig verstanden hat, reduziert Brauer die Geschwindigkeit des Wagens und steuert, Unebenheiten auf der Fahrbahn geschickt ausweichend, Wien entgegen. Leopold Berchtold vertieft sich wieder in die Unterlagen für seine abendlichen Termine. Um 18 Uhr soll der Chef des Generalstabes ins Ministerium kommen. Der Gedanke daran lässt Berchtold unruhig werden. Er legt den Stift beiseite und wischt sich eine imaginäre Haarsträhne aus der Stirn. Franz Conrad von Hötzendorf ist der Erste gewesen, der auf seine Telegramme nach Wien reagiert hat. Er, Berchtold, hätte es wissen müssen. Conrad, von der Haarspitze bis zu den Fußsohlen pflichtbewusster Soldat, hat ihn in seiner umgehenden Telegrammantwort wissen lassen, dass er jederzeit für eine Aussprache verfügbar sei. Conrad hat Franz Ferdinand zu den Manövern in Bosnien begleitet und ist der Letzte gewesen, der den Erzherzog vor dessen Aufbruch nach Sarajevo am 28. Juni gesehen hat. Jetzt ist ihm natürlich daran gelegen, dass man auf die Situation angemessen reagiert. Ihm, Berchtold, wäre in dieser angespannten Lage ein einfacherer Beginn der Unterredungen lieber, aber nun heißt es, sich darauf entsprechend vorzubereiten. Die Gedanken wandern einmal mehr zum gestrigen Nachmittag.

***

Nachdem er das Telegramm in seiner umfassenden Konsequenz erfasst hatte, ging er zu seiner Frau und teilte ihr die Tragödie mit. Sie fiel ihm um den Hals und beide gaben sich für einen Moment der Trauer und dem Mitleid mit den hinterbliebenen Kinder des Thronfolgerpaares hin. Sie waren gute Bekannte des Erzherzoges und seiner Gattin. Ganz anders als sein Vorgänger hatte Berchtold ein gutes Einvernehmen mit Franz Ferdinand und die beiden Damen verstanden sich vorzüglich. Leopold Berchtold hatte sich am Tag zuvor extra Zeit für seine Frau genommen, denn die Familie war trotz seiner Karriere immer der wichtigste Bestandteil seines Lebens. Seine Gattin unterstützte ihn immer, so gut sie es vermochte, und die vier Kinder waren ihrer beider ganzer Stolz. Jetzt, so erkannte er, musste er ihr klarmachen, was bevorstand. Wenn die erschütternden Nachrichten stimmten, wenn sich die Gerüchte verdichteten, wenn noch Weiteres ans Tageslicht kommen sollte, dann, das wusste er von der ersten Sekunde an, dann stand das Schicksal der Monarchie auf dem Spiel. Und diesmal, dessen war er sich sofort im Klaren, durfte er nicht zaudern.

***

Der 51-Jährige blickt wieder nach vorn und atmet tief ein. Beim Gedanken an seine Frau und die Kinder erfüllt Wärme sein Herz. Nur mit ihrer Liebe und Treue, da ist er sich sicher, wird er das Bevorstehende durchhalten und Entscheidungen fällen können, von denen er jetzt schon weiß, dass sie getroffen werden müssen, auch wenn sie weitreichende Konsequenzen haben werden. Wenn er die Lage richtig einschätzt, dann wird der gestrige Moment mit seiner Frau der letzte innige für einen langen Zeitraum gewesen sein.

***

Für geraume Zeit standen sie wortlos, eng umschlungen im Salon des Schlosses, und als Leopold Berchtold seiner Frau schließlich einen zarten Kuss auf die Stirn gab, um in sein Arbeitszimmer zu gehen, wo ihn seine Pflicht erwartete, flüsterte sie ihm zu: „Vergiss die Kinder nicht …“

In seinem Arbeitszimmer schrieb er dann eine Vielzahl von Telegrammen an die unterschiedlichsten Verantwortungsträger im Lande, unter anderem an den Kaiser, den neuen Thronfolger Erzherzog Karl, den Ministerpräsidenten und eben an Conrad. Dieser antwortete umgehend, sodass bereits für den folgenden Abend ein Treffen vereinbart wurde.

***

Graf Berchtold macht sich Notizen über Conrad und das bevorstehende Gespräch. Als Botschafter in St. Petersburg hat Berchtold gelernt, sich auf seine Termine gewissenhaft vorzubereiten. Er hasst nichts mehr als unliebsame Überraschungen. Insofern ist das bevorstehende Gespräch mit dem Chef des Generalstabes ein leichtes Spiel, denn wenn man eines bei Conrad nicht befürchten muss, dann sind es Überraschungen. Seit seinem Amtsantritt im Jahre 1906 weiß die ganze Monarchie, wofür Conrad steht. Er hat seine Wertvorstellungen, Überlegungen und Ziele eins ums andere Mal in Denkschriften und Memoranden in aller Öffentlichkeit klargestellt. Nur mit Mühe und allerhöchsten Verfügungen hat Conrad immer wieder im Zaum gehalten werden können. „Nun, so wie es aussieht“, schlussfolgert Berchtold still in sich hinein, „hätten wir wohl besser auf ihn hören sollen …!“

„Herr Graf“, Brauer reißt Berchtold mit einer Frage aus den Gedanken, „in der Zeitung steht, dass der Attentäter ein Serbe ist. Diese Schandtat dürfen wir uns doch nicht gefallen lassen, viele sind in Aufruhr. Werden wir gegen Serbien zurückschlagen?“ Leopold Berchtold klappt die Mappe zu, sieht seinen Fahrer an und entgegnet: „Lieber Anton, Entscheidungen mit dieser Tragweite sind nicht durch Einzelpersonen zu fällen, sondern erfordern krisengerechte Abläufe in den dafür geschaffenen Gremien. Und schließlich entscheidet zuletzt Seine Majestät, unser Kaiser. Nicht alles, was in den Zeitungen steht, kann man für bare Münze nehmen und ich bitte dich, ab jetzt mit deinen Aussagen ganz besonders vorsichtig zu sein. Besonders in Gegenwart anderer Personen.“

Berchtold hält kurz inne und überlegt, wie weit er seinen Chauffeur ins Vertrauen ziehen soll. Intuitiv entscheidet er sich dagegen und fährt mit einer allgemein gehaltenen Warnung fort: „Anton, eine neuerliche Balkankrise ist bei den Machtverhältnissen, wie sie in Europa derzeit vorliegen, eine sehr gefährliche Angelegenheit.“ Der Minister blickt gespannt über den Rückspiegel in Antons Augen. Wilde Entschlossenheit und die tiefe Furcht vor möglichen Konsequenzen lassen seine Stimme erzittern, als er fortfährt: „Durch die gegenwertigen Bündnisse, die die Großmächte in Europa eingegangen sind, kann unsere Reaktion auf diese abscheuliche Tat zu einer europäischen Krise führen. Und nur Gott allein weiß, wohin das führt!“

Brauer ist verunsichert. So emotional hat er seinen Chef schon lange nicht mehr erlebt. Die weitere Fahrt bis zum Ministerium, so überlegt er, wird er wohl besser schweigen. Mittlerweile haben sie die Stadtgrenze von Wien passiert und Brauer fährt mit gedrosseltem Tempo durch die Straßen der Stadt. Die Hitze an diesem Feiertag lässt die Temperatur im Fahrzeug rasch ansteigen, sodass Berchtold im Fond das Fenster öffnet und sich durch die Zugluft ein wenig Kühlung im Wageninneren erhofft. Das Treiben auf den Straßen, in den Cafés sowie auf den Plätzen, an denen sie vorbeifahren, lässt ihn keinen Unterschied zu anderen Tagen erkennen. Nichts deutet auf die Katastrophe von Sarajevo hin. Im Gegenteil. Als sie am Prater vorbeifahren, lässt Berchtold den Wagen anhalten. Er steigt aus, geht einige Schritte um den Wagen herum und stellt verwundert fest, dass selbst hier alles seinen gewohnten Gang nimmt. Keine Spur von Trauer und Fassungslosigkeit. Die Belustigungen und Vergnügungen werden dem Feiertag entsprechend ausführlich konsumiert und das schöne Wetter trägt das seinige zur allgemeinen Heiterkeit bei. Gedankenschwer steigt der Minister wieder in den Wagen. Es ist allgemein bekannt, dass Franz Ferdinand in der Bevölkerung nicht sehr beliebt gewesen ist, aber eine derartig geringe Resonanz auf seinen Tod hat er nicht erwartet.

Um 17:18 Uhr biegt Brauer vom Ring in Richtung Ballhausplatz ab, fährt am Hofburgtheater vorbei und erreicht kurz darauf das Ministerium des Äußeren. Die Ankunft des Ministers wird bereits erwartet, denn kaum hält das Automobil, stürmt ein Adjutant vor das Haus und öffnet die Wagentür, um Berchtold herauszuhelfen. Dieser nimmt seine Aktentasche mit den Notizen und verabschiedet sich von Brauer, nicht ohne diesen nochmals an die morgige Abholzeit und die zu besorgenden Morgenzeitungen zu erinnern. Als der Wagen abfährt, bleibt Berchtold am Straßenrand stehen und hält inne. Er blickt hinüber zur Hofburg. Die Hitze der Abendsonne lässt die Luft zittern, ein Windstoß wirbelt Staub und etwas Laub auf und lässt beides in kreisförmigen Bewegungen höher steigen, um alles schließlich in einer Hausecke sanft abzulegen. Sein Blick fällt auf die Fahnenmasten der Hofburg, wo seit gestern schwarze Flaggen auf Halbmast wehen. Tief durchatmend wendet sich Berchtold um und geht zügigen Schrittes ins Haus.

Ein Blick auf seine Taschenuhr zeigt ihm, dass bis zur Ankunft des Chefs des Generalstabes noch circa eine halbe Stunde verbleibt. Auf dem Weg zu seinem Büro eilt ihm bereits ein weiterer Mitarbeiter des Außenamtes entgegen, um ihn, während sie die Treppen und Gänge entlangschreiten, über die Ereignisse der vergangenen Stunden zu informieren. Trotz des Feiertags seien bereits die meisten Mitarbeiter im Haus und verrichteten, dem traurigen Anlass entsprechend, ihren Dienst. Unzählige Telegramme seien eingegangen, unter anderem vom deutschen Ministerpräsident und vom deutschen Außenminister, von allen in Wien ansässigen Botschaftern und auch vom serbischen Geschäftsträger, wie der Assistent sich hinzuzufügen beeilt. Darüber hinaus kämen immer neue Nachrichten aus Sarajevo, die als Urheber der Tat immer stärker Belgrad ausweisen. Mittlerweile seien sechs Personen verhaftet worden. „Sechs!“, entfährt es Berchtold, während er überrascht stehen bleibt. „Aber das ist ja dann eine Verschwörung und nicht das Attentat eines Einzelgängers!“ Für einen kurzen Moment entweicht die Farbe aus seinem Gesicht und Berchtold sieht seinen Mitarbeiter fassungslos an. „Für sechs Personen braucht es Organisation, Koordination und einen Plan! Wehe uns, wenn dieser tatsächlich aus …“ Er spricht seine Gedanken nicht zu Ende, sondern hastet, gefolgt von seinen Mitarbeitern, ins Büro.

Hinter seinen Schreibtisch sitzend und auf die Uhr blickend, instruiert er seinen engsten Beraterstab: „Meine Herren, in 17 Minuten, Sie wissen, Conrad erscheint immer fünf Minuten vor der Zeit, wird dieser hier sein. Bis dahin wünsche ich einen präzisen Überblick!“ Berchtold schlägt seine Mappe auf und greift nach einem Stift. Der Reihe nach berichten seine Mitarbeiter über die Ereignisse in Sarajevo, die wichtigsten Meldungen aus den europäischen Hauptstädten sowie die Reaktionen in der Monarchie. Er hört dabei von der Festnahme eines gewissen Gavrilo Princip und weiterer fünf Personen. Zudem wird erläutert, dass man die Leichname von Franz Ferdinand und seiner Gattin von Sarajevo per Eisenbahn an die Küste transportiert und diese von dort mit der Viribus Unitis, dem Flaggschiff der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine, nach Triest überführen wird. Von dort werden sie, abermals mit der Eisenbahn, nach Wien gebracht. „Erwarteter Ankunftstag in Wien ist der 2. Juli“, stellt ein Mitarbeiter abschließend fest. Leopold Berchtold stellt einige Fragen zu den Attentätern, die von seinen Mitarbeitern nur ungenügend beantwortet werden können. Man verweist auf die laufenden Untersuchungen und die stündlich eintreffenden Telegramme aus Sarajevo.

„Wie sicher sind die Angaben über die Verbindungen nach Belgrad?“, fragt Berchtold in die Runde, spricht dabei aber keinen Mitarbeiter direkt an. Mit dem Finger auf das Porträt seines Vorgängers zeigend, fügt er mahnend hinzu: „Und ich will eine zuverlässige Auskunft!“ Niemand antwortet. Berchtold steht auf und geht zum Fenster. Während er hinausblickt, erinnert er sich an den sogenannten Friedjung-Prozess, der schließlich seinen Vorgänger das Amt kostete. Man hatte damals versucht, Aufruhrbestrebungen in Kroatien mithilfe geheimdienstlicher Beweismittel mit Serbien in Verbindung zu bringen. Im Zuge des darauffolgenden Prozesses wurde man zum Gespött der Öffentlichkeit und der europäischen Mächte, als herauskam, dass die Beweismittel Fälschungen waren. Einem Desaster solchen Ausmaßes zu entgehen, ist nun Berchtolds erster Gedanke. Seine Mitarbeiter erahnen dies zwar, können zu diesem Zeitpunkt seine Bedenken jedoch nicht zerstreuen. Die Meldungen aus Sarajevo seien noch nicht überprüft, daher wäre es wohl besser, noch keine offiziellen Verlautbarungen zu machen.

In diesem Moment erscheint ein Wagen vor dem Ministerium, ein Mann in Uniform steigt, ohne das vorgesehene Türöffnen eines Ministeriumsangestellten abzuwarten, aus und eilt ohne weitere Verzögerung ins Haus. Berchtold dreht sich zu seinen Mitarbeitern um. „Der General ist eingetroffen, ich bitte Sie, mich spätestens um 19:30 Uhr zu unterbrechen. Um 20 Uhr beginnt der Sonderministerrat, bereiten Sie dafür alles Weitere vor!“

Die Mitarbeiter verlassen das Büro. Berchtold stimmt sich auf die Unterredung ein und redet sich nochmals selbst ins Gewissen: „Ich darf diesmal keine Schwächen zeigen! Ein Feldzug, der sich womöglich zu einem europäischen Krieg auswächst, ist die letzte Option, darauf muss ich bestehen!“ Der Minister des Äußeren, stets auf sein Erscheinungsbild bedacht, rückt seinen Schlips zurecht und entnimmt aus seiner Aktentasche das Papier mit den Notizen, als es an der Tür klopft. Nach seiner Aufforderung tritt ein Mitarbeiter ein und meldet die Ankunft seines Besuchs. Graf Berchtold lässt bitten und geht einige Schritte zur Tür. Es ist 17:59 Uhr, als Franz Conrad von Hötzendorf, der Chef des Generalstabes der gemeinsamen Armee, das Büro von Leopold Berchtold betritt.

Berchtold bleibt stehen und streckt seinem Gast die Hand entgegen. Mit festem Händedruck, die Augen nicht voneinander lassend, stehen sich die beiden gegenüber. Conrad, einen Kopf kleiner als Berchtold, ist in seiner Generalsuniform erschienen, steht aufrecht und selbstbewusst vor Berchtold und blickt diesem argwöhnisch in die Augen. Berchtold, den Blickkontakt abbrechend, weist seinem Gast einen Sessel an der Besucherseite seines Schreibtisches zu, wartet, bis sich dieser gesetzt hat, und geht erst dann um seinen Schreibtisch herum. Dieses kleine taktische Geplänkel bewirkt, dass Berchtold noch steht und Conrad sitzend zum Minister des Äußeren aufschauen muss, als er, von diesen Nebensächlichkeiten unbeeindruckt, selbstbewusst das Gespräch eröffnet. Seine Stimmlage, seine Körperhaltung und sein Gesichtsausdruck weisen auf einen Mann hin, der gewohnt ist, die Führung zu übernehmen und die vollständige Verantwortung für seine Handlungen zu tragen. Conrad kommt daher gleich zu Sache: „Exzellenz, dass wir uns unter diesen Umständen wieder treffen, konnte keinesfalls erwartet werden, aber nun liegt ein Attentat auf die Monarchie vor, das den gesamten Staat in seiner Existenz bedroht. Wir müssen sofort handeln! Und …“, Conrad beugt sich nach vorne und legt seine Handschuhe auf Berchtolds Schreibtisch, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, „nach meiner Ansicht besteht dieser sofortige Schritt in der Mobilisierung gegen Serbien!“

Berchtold rückt beim Hinsetzen umständlich seinen Stuhl zurecht und bemerkt, den zweiten Satzteil Conrads ignorierend, dass mit diesem Attentat wahrlich nicht zu rechnen gewesen sei. Mit der Absicht, Zeit zu gewinnen, fragt er anschließend Conrad, wie sein Kenntnisstand über das Attentat sei und was Feldzeugmeister Potiorek aus Sarajevo berichtet habe. Conrad erläutert in knappen und präzisen Ausführungen seine aktuellen Informationen zu den Untersuchungen in Sarajevo und schließt mit den Worten: „Es ist unvermeidlich, dass wir auf diese Provokation reagieren, auch wenn diese der Monarchie zum aktuellen Zeitpunkt ungelegen kommt. Aber, das füge ich nachdrücklich hinzu, eine Tat wie diese ist niemals gelegen!“ Conrad blickt Berchtold geradewegs in die Augen.

„Mein verehrter General“, beginnt Berchtold und lehnt sich dabei in seinem Sessel zurück, „wie Sie wissen, können wir gegen Serbien nicht vorgehen, ohne dass Russland, bei seinen traditionellen Beziehungen zu diesem Balkanstaat und ohne einen ungeheuren Verlust an Prestige, unserem Vorgehen tatenlos zusehen kann. Und was das bedeutet, brauchen wir nicht näher zu erläutern! Die Folgen des russischen Eingreifens liegen doch offen zutage …“ „Die Folgen des Attentates liegen ebenfalls offen zutage, Herr Minister!“, unterbricht ihn Conrad. „Die seit Langem zu beobachtenden nationalistischen Strömungen der südslawischen Rasse können auch Sie nicht wegleugnen und wir haben die Wahl, ob dieser angestrebte Zusammenschluss der Slawen innerhalb der Monarchie auf Kosten Serbiens oder außerhalb der Monarchie auf unsere Kosten erfolgen wird. Ich“, Conrad hebt seine Stimme, „habe schon oftmals betont, dass mit dem Verlust der südslawischen Länder nicht nur ein Territorial-, sondern auch ein enormer Prestigeverlust für die Monarchie entstehen könnte. Österreich würde zu einem Kleinstaat verkommen!“

Conrad ist aufgestanden, ihm schaudert bei dieser Vorstellung. Klein beizugeben, entspricht so gar nicht seinen Wesenszügen. Er ist immer Klassenbester gewesen, von der Kadettenzeit bis zur Militärakademie, immer auf ein Ziel ausgerichtet: Meister seines Faches zu sein. Jetzt, da er die für seine Begriffe verspätete Chance gekommen sieht, am Balkan endlich für klare Verhältnisse zu sorgen, will er sich nicht ein weiteres Mal von den Bürokraten vorführen lassen. Er steht auf, blickt fest entschlossen auf Berchtold hinunter und erwartet dessen Reaktion. Berchtold, ohnehin schon sorgfältig platzierte Büroutensilien zurechtrückend, lässt einige Augenblicke verstreichen, um die erhitzte Atmosphäre zu beruhigen. Dann antwortet er, Conrad mit der rechten Hand auf den Sitz zurückdeutend, mit sanfter Stimme: „Mein lieber Conrad, setzen Sie sich wieder. Natürlich kennen wir alle Ihre Denkschriften und wir haben sie oftmals erörtert, aber …“, Berchtold macht eine Gedankenpause, „Aktionen ohne Rückversicherungen können bei der aktuellen Mächtekonstellation ebenfalls das Ende der Monarchie bedeuten. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Ich gebe Ihnen allerdings recht, dass wir diesmal den nun eingetretenen Moment zur Lösung der serbischen Frage nicht ungenutzt verstreichen lassen dürfen. Seine Majestät ist ebenfalls heute aus Ischl zurückgekehrt und ich habe morgen eine Allerhöchste Audienz hierzu. Um die Gunst der Stunde in unserem Sinne und vor allem gegenüber den Mächten zu nutzen, müssen wir, verehrter General, außerdem den Ausgang der Untersuchungen in Sarajevo abwarten.“

„Die Moslems und Kroaten der Monarchie sind gegen die Serben“, entgegnet Conrad, während er sich wieder hinsetzt. „Und die Russen müsste man mit dem Hervorheben des Antimonarchischen dieser Tat beruhigen. Das ist die Aufgabe Ihrer Dienststelle, Herr Minister. Die politische und militärische Außenwirkung der Monarchie muss einheitlich sein. Wir können uns keinen Gesichtsverlust mehr leisten!“ Conrad hebt abermals seine Stimme und blickt auf das Porträt des Amtsvorgängers von Berchtold, Graf Aehrenthal. Dann fährt er fort: „Wir können am 1. Juli mobilisieren und Serbien ohne weitere Verhandlungen zur Rechenschaft ziehen. Wenn man eine giftige Natter an der Ferse hat, schlägt man ihr den Kopf ab und wartet nicht auf den tödlichen Biss!“

Den letzten Satz hat der General dem Minister voller Polemik entgegengeschleudert. Berchtold, der weiß, dass Conrad auf die nur mit Mühe abgewickelte bosnische Annexionskrise sowie seine, Berchtolds, zweifelhafte Außenpolitik während der beiden Balkankriege 1912 und 1913 anspielt, entgegnet mit Bedacht, um die Geduld nicht zu verlieren: „Wir werden angemessen reagieren. Ich habe mir ein Vorgehen zurechtgelegt, wie wir auf diesen barbarischen Akt reagieren werden. Zum einen müssen wir den Ausgang der Untersuchungen in unsere Reaktion mit einfließen lassen, zum anderen ist es unsere Pflicht, die Haltung unseres Bundesgenossen zu erfragen … Ja, bitte?“ Berchtold wird von einem vorsichtigen Klopfen unterbrochen und blickt zur Tür. Ein Mitarbeiter tritt mit dem Hinweis auf den bevorstehenden Ministerrat ein und unterbricht auf diese Weise das Gespräch. Berchtold bedankt sich bei dem Mann, der mit einer Verbeugung den Raum verlässt. Sich an Conrad wendend, fährt Berchtold fort: „In 30 Minuten beginnt ein Sonderministerrat, in dem wir die weitere Vorgehensweise erörtern werden. Ich werde auch Ihren Standpunkt einbringen, Herr General. Morgen bin ich, wie gesagt, bei Seiner Majestät zur Audienz und danach, so schlage ich vor, unterbreite ich Ihnen die Ergebnisse beider Zusammenkünfte. Ich ersuche Sie, mir ebenfalls über die Entwicklungen Ihrer Termine und vor allem bezüglich der Ereignisse in Sarajevo Bericht zu erstatten.“ Conrad und Berchtold stehen auf, verabschieden sich kurz mit höflichen Floskeln und Conrad von Hötzendorf verlässt entschlossenen Schrittes das Büro.

Nachdenklich setzt sich Leopold Berchtold wieder an seinen Schreibtisch. Der Handlungsspielraum für die Monarchie ist ausgesprochen begrenzt, denn wie auch immer die Reaktion auf diesen Mord ausfallen wird, die Konsequenzen könnten fatal sein. „Vom militärischen Standpunkt aus hat Conrad recht“, denkt sich Berchtold. „Aber trotzdem: Ein Krieg gegen Serbien, in den höchstwahrscheinlich Russland eingreifen wird, ist die letzte Alternative, bevor wir nicht wissen, wie sich Deutschland dabei verhält! Wir stehen doch mit dem Rücken zur Wand!“ Berchtold blickt auf die Uhr. Bis ins Parlament braucht er zu Fuß etwa 15 Minuten, also hat er noch einen Augenblick Zeit. Als Leiter des Auswärtigen Amtes muss er in diesem tragischen Fall die Richtung vorgeben und entsprechend selbstbewusst auftreten. Er geht zum Spiegel, richtet sich Kragen und Schlips, zupft an seinem Jackett und wirft einen Blick auf die Schuhe. Ein Taschentuch zückend, bückt er sich und entfernt die Staubschicht von seinen schwarzen Schuhen. Dann richtet er sich wieder auf und blickt prüfend in den Spiegel. Seine makellose Erscheinung entlockt ihm den Anflug eines zufriedenen Lächelns. Er dreht sich um, sortiert die Arbeitsunterlagen vom Schreibtisch in die Aktentasche und eilt raschen Schrittes die Korridore des Ministeriums entlang.

33 Tage

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