Читать книгу Der Himmel ist blau - Markus Draxler - Страница 8
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Wenn einer viel Geld hat, dann baut der sich die schicken Häuser. Fährt die schnelleren Autos. Der muss sich bei der Arbeit vermutlich nicht schmutzig machen und duftet immer nach Frühling. Der bekommt eher die Frauen, die so zart sind, dass man sie kaum anfassen kann, ohne sie zu zerbrechen. So einer bringt die ganzen hübschen überflüssigen Dinge in seinen Besitz, um die irgendein anderer ihn sicher beneidet. Der sagt nicht Bitte und Danke, es sei denn er hat was davon. Wenn einer viel Geld hat, dann steht ihm die Welt offen. Der holt sich die Profis, wenn was zu tun ist. Und wenn das Schweine sind, Grenzdebile, halbseidene Stricher – da ist man halt auf einem Auge blind. Das Ergebnis zählt. Was auch sonst.
Ich erinnere mich an keine Saison, in der ein gewisser Verein aus dem Süden keine Mannschaft voller Halsabschneider, Nachtreter, Schauspieler aufs Feld geschickt hätte. Ein egomanischer Torwart, der auf dem Spielfeld Menschen beißt. Absurd hässliche Typen. Trainer, die sich von ihren eigenen Kindern Herr Vater nennen lassen, wie die bemitleidenswerten Großgrundbesitzer vergangener Jahrhunderte. Schwer geschädigte Leute. Kreaturen. Mein Gott, was flog denen schon um die Ohren, die in rot-weißen Trikots unter dem Wappen des Freistaats auf Gelsenkirchener Rasen aufliefen! Das ist eine Verachtung, ein Ausspucken, was dann von den Rängen hinabschlägt. Und wenn es irgendetwas gibt, das man diesen Halbaffen zugestehen muss, dann die Tatsache, dass sie unter diesem Gewitter nicht weinend zusammenbrechen und nach ihren vermutlich fetten, vermutlich ekelerregenden Müttern rufen.
Wir hatten nie besonders viel Geld. Kohle, irgendwann mal, aber das ist auch fast vorbei. Unsere Häuser sind grau, wenn wir welche besitzen, die Wohnungen gerade groß genug. Die Autos sparen wir uns vom Mund ab, wir schwitzen bei der Arbeit und riechen nach Erde oder Benzin. Unsere großen, festen Frauen wissen das zu schätzen, wenn es ihnen auch manches Mal nicht gefällt. Unsere Nächte sind laut und gehen erst mit den Sternen. Wir haben unsere Sachen, im Winter drehen wir die Heizungen auf, die Kinder haben zu essen und alles. Sommerurlaub ist fast jedes Jahr drin. Es gibt immer irgendwo einen Garten, in dem man sich treffen und in der Sonne liegen kann. Es ist Verlass aufeinander. Und samstags stehen wir zusammen in der Kurve, singend, schreiend, halbnackt.
Es ist der 26. Januar. 60.600 Menschen im Stadion. Sechs Grad. Stille ist nicht einmal vorstellbar. Dieser wahnsinnige Zeiger, der zwischen Sieg und Niederlage zappelt. Dass wir schreien können, wenn er sich in eine Richtung entscheidet. Die Erlaubnis, ja das Gebot, die Kontrolle zu verlieren, wenn in unseren Augen Unrecht geschieht oder eine Chance verpasst wird, oder wenn der Gegner dann geschlagen ist. Die bitteren, doch leicht vergossenen Tränen nach einer Niederlage. Dann die Hoffnung auf bessere Tage. Analyse. Wissenschaft. Ein fröhlicher Krieg ohne Tote und Verletzte. Immer das Gleiche. Doch immer auch anders und neu.
Dann Anpfiff. Tunnelblick. Wer jetzt hier ist, weiß nichts mehr von der Welt da draußen. Es gibt nur noch diesen grünen Rasen, zwei Tore, einen Ball, die Zweiundzwanzig, die ihn bewegen, und einen mit Pfeife. Und uns. 60.600 Menschen, die ungefähr das Gleiche fühlen. Eine halbe Stunde Zittern. Dann die Sensation durch Mpenza in der 34. Man überschlägt sich. Nur eine Minute später, noch bevor man sich wieder halbwegs sammeln kann, setzt Ebbe Sand nach. Irrenhausatmosphäre. Nach der Halbzeit trifft Scholl zum 2:1-Anschluss. Wieder Zähneklappern. Lauter schreien. Aber in der 54. gibt Jörg Böhme mit dem 3:1 Grund zur Beruhigung. Von Ruhe dabei natürlich keine Spur. Als der lange van Hoogdalem eine Viertelstunde vor Schluss das 4:1 macht, kippt neben mir einer um. Unten, im Graben zwischen Tribüne und Spielfeld, misst jemand den Lärmpegel und redet dann aufgeregt mit irgendwem anders. Es ist jetzt sehr, sehr laut. Oude Kamphuis macht in der 90. die Demütigung perfekt. 5:1. Und dann ist das Spiel aus. Das Spiel ist aus.
Wir sind wie in Trance, als sie das Vereinslied bringen. Manni ist so weggetreten, dass er den Text nicht mehr zusammenbringt. Er reckt mit beiden Händen den Schal in die Höhe, wie alle anderen auch, aber statt mitzusingen, grölt er nur unaufhörlich „Schalkeschalke“, eingepuppt in diesen Singsang wie ein buddhistischer Mönch oder so was. Das heißt, von Grölen kann eigentlich keine Rede mehr sein. Wir haben alle unsere Stimmen so gut wie verloren. Wenn wir einander was sagen wollen, dann sieht man den Gesichtern zwar an, dass geschrien wird. Aber es kommen nur noch dünne, verrauchte Tönchen aus den Mündern, die keinen Sinn ergeben. Egal. Wir verstehen uns eh. Und zu sagen gibt es im Moment auch nicht viel. Wir haben alle das Fieber, wissen für eine ganze Weile nicht, was als Nächstes kommen könnte, was genau passiert ist und wer wir überhaupt sind. Letzteres gilt besonders für Manni. Er ist jenseits. Zwischendurch hat er den Blick vom letzten Spieltag 2001. Diesen leeren, in unendliche Ferne gerichteten Blick. Wahnsinn. Man kann sehen, dass er was verarbeitet, und wir stören ihn nicht.
Die Spieler kommen. Tosender Applaus, La Ola, ein bisschen Tanzen. Oli Reck lässt sich von einem der Fahnenschwenker die Fahne geben und schwenkt sie. Im Augenwinkel erkenne ich eine Träne in Gerds grinsendem Gesicht. Er klatscht und heult, ich haue ihm auf die schmale Schulter und drücke ihn an mich. Lieber, sensibler Gerd. Eigentlich ist dieser Verein die meiste Zeit zu aufregend für ihn. Manchmal kann man sich direkt Sorgen machen um sein kleines Herz. Er raucht ja noch viel dabei. Und mit seiner Frau und den Freundinnen, das ist wohl auch nicht mehr so. Da dreht sich gerade nicht alles um Fußball bei ihm. Klar. Aber jetzt denkt er: Es läuft. Alles ist möglich. Es läuft. Lieber, bisschen naiver Gerd. Das Lied ist immer noch nicht zu Ende. Ich drücke ihn und schreie – so laut ich kann – ein paar Textbrocken in sein Ohr. Er grinst mich an und drückt zurück.
Da kommt Bobbel vom Einkauf zurück. Er ist gereizt, zeigt sich ein paar Minuten lang wortkarg. Schließlich stellt sich heraus, dass ihm beim Bierkauf Folgendes passiert ist: Er wollte ungefähr seinen halben Monatslohn auf die Knappenkarte laden lassen. Man eröffnete ihm daraufhin, dass der maximale Aufladebetrag bei 150 € liegt. Infolgedessen stand Bobbel wohl ungefähr eine Viertelstunde an dem Stand und hat dem armen Mann darin einen Vortrag darüber gehalten, wie astrein der FC Schalke, dass das neue Stadion ja auch schön wäre, dass man aber wirklich aufpassen müsste, mit der Kommerzialisierung und so. Denn die Kommerzialisierung, das wäre so eine Sache, die mit Schalke nun wirklich nichts zu tun hätte. Und dann hat er so lange „Blau und Weiß ein Leben lang“ in das kleine Häuschen von dem Knappenkartenauflademann hineingeschmettert, bis dieser ihm schließlich drei Karten zu je 150 € verkaufte. Eine dieser Karten hat er, Bobbel, dann auf dem Weg zur Schenke sofort verloren. Vom restlichen Geld hat er anschließend zwanzig Biere geordert, von denen er auf dem Weg zurück in die Kurve wiederum die Hälfte verschüttete. Er verteilt also die halb leeren Becher und erzählt uns seine jüngsten Erlebnisse, und weil wir – trotz aller Tragik der Geschichte – nicht anders können, als uns halb totzulachen, und weil die Spieler sich immer noch feiern lassen, und weil noch einmal „Ob ich verroste und verkalke“ angestimmt wird, kann Bobbel schon sehr bald seine grimmige Stimmung nicht mehr aufrechterhalten, trinkt drei halbe Becher in drei Schlücken aus, fällt uns in die Arme und stimmt in das Lied ein.
Ungefähr zwei Stunden vergehen in diesem Zustand glückseliger Singerei. Die Mannschaft ist längst verschwunden. Wir stehen da, auf die Metalllehnen gestützt wie an Bord eines Schiffes, und glotzen das grüne Meer an. Ruhig, ziemlich benebelt, versonnen und warm rekapitulieren wir das Spiel. Das Stadion ist fast leer. Gerd kommt von der Schenke zurück und überbringt die schlechte Nachricht, dass kein Bier mehr verkauft wird. Wir fassen den Entschluss zu gehen. Es wird auch Zeit. Besonders für Manni.
„Ich schlage vor, wir wecken ihn mal“, sagt Bobbel. Manni steht immer noch da wie vor Stunden, wankt um seinen eigenen Körpermittelpunkt herum und bewegt die Lippen: „Schalke, Schalke.“ Die Augen geschlossen.
„Wie machen wir’s?“, frage ich.
„Kurz und schmerzlos am besten“, meint Bobbel.
„Nee, lass mich das mal machen. Da darf man jetzt nicht zu rabiat sein. Wie bei Schlafwandlern musst du da vorgehen. Ich mach das schon.“ Gerd geht zum Manni rüber, fasst sanft seinen Arm und spricht ihn leise an. Ich verstehe nicht, was er sagt, aber tatsächlich öffnet Manni die Augen. Alles scheint ganz glatt zu verlaufen. Er guckt in die Runde, steht dann kurz gerade und still. Ein fragendes „Hm?“ geht ihm über die Lippen. Gerd sagt: „Komm, Manni, es gibt kein Bier mehr. Wir gehen in die Kneipe.“ „Mja, klar“, entgegnet Manni, und ich sehe genau, dass er in seinem Kopf den Entschluss fasst, ein Bein vor das andere zu stellen. Leider gehorcht der Körper des Manni dem Kopf des Manni nicht, so dass er der Länge nach auf den harten Betonboden klatscht. Gerd hat ihn nicht halten können vor Überraschung. „Ajajaj“, kommentiert Bobbel das Ereignis. Wir gehen zum Manni hin, drehen ihn um und reden auf ihn ein, fragen, ob er uns hören könne, etc. Er hat eine kleine Platzwunde an der Stirn, aus der ein dünner Blutfaden läuft. Wir sehen gleich, dass es nicht schlimm ist und nicht genäht werden muss. „Das gibt’n Horn“, sagt Bobbel und tätschelt ihm die Wange. Dann schlägt Manni wieder die Augen auf. Er ist prompt ganz klar und spricht fest, in seiner berühmten gestelzten Manier, die folgenden Worte: „Wenn ich heute Nacht sterbe, meine Freunde, dann lasst nur S04 in meinen Grabstein gravieren und erzählt den Leuten, dass ich starb als ein glücklicher Mann. Jetzt stellt mich auf meine zwei Beine und bringt mich zu der Kneipe, die da heißt: „Zur blanken Laterne“. Wir wollen dem Alkohol zusprechen, und zwar aufs Allergemeinste.“
Gesagt, getan.
Kurz bevor wir besagtes Etablissement erreichen, brechen die Wolken auseinander. Wir geraten für fünf Minuten in einen apokalyptischen Sturm und sind nass bis auf die Knochen, als wir uns am Tresen einfinden. Der Laden ist zum Bersten voll. Brütend heiß hier. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei ungefähr siebenhundert Prozent. Uwe schenkt gerade aus und grüßt vergnügt zu uns rüber: „Mensch, Jungs, wie seht ihr denn aus? Das muss wohl mit dem Wetter zusammenhängen, was? Manni, im Block geirrt?“ Und er lacht. Lustiger Uwe. Bobbel tut gefährlich und raunt mit seinem brachialen Organ zurück: „Uwe. Schwatz kein Blech. Gib das Bier her.“
„Na, na, mein Großer. An so einem schönen Tag wird dir das bisschen Feuchtigkeit doch nicht die Laune verderben!?“
„Ich sag’s nicht noch mal.“
Uwe stellt vier große Biere vor uns ab, wischt sich die Flossen auf Uweart an seinem Lappen ab, stützt sich mit beiden Händen breit auf seine Arbeitsfläche und sieht uns verstohlen lächelnd, ein bisschen von unten an.
„Noch was Warmes dazu?“
Ohne die Antwort abzuwarten, drapiert er vier Pinnchen vor uns hin und geht höchst professionell ein Mal mit dem Klaren darüber hinweg. Bobbel erfindet Einwände: „Ich trink doch keinen Schnaps mehr.“ Spricht’s, hebt das Glas und trinkt aus.
„Mach nur nichts kaputt, du, ich warne dich.“
Das sagt Uwe jedes Mal. Nicht ganz grundlos.
„Ja, Mutti.“
Bobbel überwindet sich zu einem spitzen Lächeln im Mundwinkel. Uwe verschwindet wieder hinter seinem Zapfhahn.
Ich war Jahrgangskleinster, die gesamte Grundschulzeit hindurch. Noch in der Vierten ließ das Wachstum auf sich warten, und es gab zwei oder drei Kinder in der ersten Klasse, die mir schon auf den Kopf spucken konnten. Heute käme man nicht auf die Idee, ich bin ganz normal. Damals jedoch war ich für jedes aufmüpfige Balg, das sich selbst oder seinen Freunden was beweisen wollte, eine willkommene Gelegenheit. Es gab da zwei äußerst grobe Burschen, eine Klasse über mir, die gar nicht mehr aufhören konnten, sich was zu beweisen und mich beinahe täglich über die Mauer warfen.
Da war nämlich ein Friedhof direkt neben der Schule. Und dazwischen verlief ebendiese Mauer. Es war ein alter Friedhof, mit großen, brüchigen, teilweise umgestürzten Steinen, auf den nur sehr selten jemand kam, um etwa Blumen auf einem Grab abzulegen oder irgendwelche Pflege zu betreiben. Ein insgesamt ziemlich toter Ort also. Und dementsprechend für Gruselgeschichten wie gemacht. Bei so was hörte ich meistens weg. Hatte schon immer so ein bisschen Schiss. Jedenfalls war mir der Ort alles andere als geheuer. Und meine Phantasie, mit der ich gut ausgestattet war, tat ihr Übriges als Verstärker. Die beiden Fleischsäcke, die mich triezten, verfügten zwar kaum über die intellektuellen Fähigkeiten einer Gurke. Mein Verhältnis zu beschriebenem Ort jedoch hatten sie offenkundig durchschaut. Und so flog ich eben, ungefähr zwei Jahre lang, tagtäglich über die Mauer. Immerhin, direkt dahinter waren Büsche, so dass es nicht wehtat. Da der gesamte Friedhof aber von Mauern umgeben war, musste ich immer bis zum nächsten Ausgang laufen, der schätzungsweise am anderen Ende des Geländes lag. Besonders im späten Herbst, wenn es kaum richtig hell wurde, ein strenger Wind ging und die dunklen Pflanzen sich krude bewegten, war das natürlich ein Problem. Dazu kam der Faktor Zeit: Ich schaffte es selten pünktlich zurück in den Klassenraum. Immerhin absolvierte ich auf diese Weise schon früh ein regelmäßiges Laufprogramm, was mir auf dem Bolzplatz durchaus zugutekommen sollte.
Eines Tages jedenfalls, der Winter ging gerade zu Ende, ein paar besonders wagemutige Kinder liefen schon ohne Jacken auf dem Schulhof rum, machte ich endlich Bekanntschaft mit einem gewissen Bernhard, der später nur noch Bobbel genannt und mein bester Freund werden sollte. Ich kannte den Erstklässler vom Sehen. Das war unvermeidlich, denn der Junge war ein echter Hüne für sein Alter und schon fast so groß wie unser Religionslehrer Herr Posen – der wiederum für sein Alter natürlich lächerlich kurz geraten war.
Als die beiden Heinis mich also an jenem Tag zur Mauer führten – sie mussten mich gar nicht mehr zwingen, ich ging einfach mit –, stand am üblichen Abflugort Bobbel. Die lockigen Haare wie immer wild durcheinandergewürfelt, die langen, fleischigen Arme schwer links und rechts an seinen Schultern baumelnd, mit den tief hängenden Lidern, dem halb offenen Mund, diesem äußerst furchteinflößenden Blick, den ich bald so lieben lernen sollte, erwartete er uns.
„Lasst den in Ruhe.“
Die beiden wussten nicht, wie verfahren. Bobbel war natürlich auch ein kleines Stück größer als sie, aber er war schließlich allein. Mich zählten sie sicher gar nicht erst mit.
„Was willst du, Riesenbaby? Weißt wohl nicht, was gut für dich ist?“
Der eine ging – betont lässig – auf Bobbel zu, fuchtelte ein bisschen mit seinen Händen herum und grinste. Als er gerade handgreiflich werden wollte, machte Bobbel einen für alle so überraschend schnellen Schritt zur Seite, wobei er sich ein halbes Mal um die eigene Achse drehte und schräg hinter dem Angreifer zum Stehen kam, dass dieser vor Erstaunen für einen Augenblick wie gelähmt war. Bobbel schien den Moment kurz wirken lassen zu wollen, bevor er den Hinterkopf des anderen fasste und ihn mit erheblicher Wucht, die Stirn voran, gegen die Mauer schleuderte. Das Geräusch klang ziemlich brutal, und als der Körper des Unruhestifters nach hinten wegsackte, war bereits sein ganzes Gesicht blutüberströmt. Der zweite, höchst irritiert durch die jüngsten Geschehnisse, guckte nach links und rechts, wippte auf den Füßen hin und her, entschloss sich aber einen Moment zu spät zum Rückzug. Bobbel hatte ihn schon am Arm zu fassen gekriegt, drehte ihn sich zurecht und zog ihm einmal mit voller Wucht die Faust quer durchs Gesicht. Der Geschlagene stand noch kurz, machte zwei unkoordinierte Schritte und erreichte die Horizontale nur wenige Meter von seinem immer noch bewusstlosen Kumpanen entfernt.
In diesem Moment kam der Rektor bereits schreiend über den Schulhof geflogen. Die zweite Attacke hatte er sogar noch selbst mit angesehen, die erste ließ er sich schildern. Eigentlich überflüssig. Die blutenden Fakten sprachen für sich. Bobbel wurde abgeführt, jedoch nicht ohne dass ich ihm ein dankendes Lächeln mit auf den Weg geben konnte. Er verzog seinerseits auch ein wenig das Gesicht. Lächeln konnte er damals ja leider noch nicht.
Mein neuer Freund Bobbel wurde für vier Wochen suspendiert. Ich ging schon zwei Tage später zu ihm nach Hause, meinen Fußball im Gepäck. Die Drehung war mir besonders in Erinnerung geblieben. Der Junge, dachte ich, gäbe doch sicher einen astreinen Verteidiger ab.
„Das schaffst du nicht.“
„Was?!“
„Ich sag dir, das schaffst du nicht.“
„Sag das noch mal.“
„Du schaffst es nicht.“
„Oh! Pass bloß auf, du. Dann sieh mal genau hin. Siehst du auch hin?“
Ja, Manni sieht hin. Er hat seine zwei Augen zwar nicht mehr hundertprozentig im Griff, man kann erkennen, wie sein Blick zwischendurch ausbricht und erst wieder durch Mannis schier übermenschliche Willenskraft zurück auf Kurs gebracht werden muss. Aber er sieht hin. Was er sieht: einen knapp 2,20 m großen Mann mit hochrotem, aufgedunsenem Gesicht schräg, ein bisschen schwankend auf seinem Barhocker sitzen. In den Händen hält dieser Mann eine selbstgebaute Angel, bestehend aus einem Billardqueue und einer Schnur unbekannter Herkunft. Der Riese unternimmt soeben den niedlichen Versuch, das alles andere als unauffällige Gerät gleichzeitig auszuwerfen und versteckt zu halten.
Bobbel: „Der Trick ist, dass du sie mit einem Ruck einholst …“
Am Ende der Schnur hat er eine Schlaufe angebracht, die sich, um einen Gegenstand geschlungen, tatsächlich zuziehen ließe. Manni, Gerd und ich beobachten die Unternehmung dennoch mit einiger Skepsis. Dabei natürlich schwer vergnügt und neugierig. Mit gelegentlichen Seitenblicken stellen wir sicher, dass Uwe, dem die ganze Sache kaum gefallen würde, nichts davon mitbekommt.
Der Fisch, auf den es Bobbel abgesehen hat, steht auf dem Tisch direkt beim Eingang und ist kein Fisch, sondern ein Rotwein. Geordert wurde die Flasche von zwei Gestalten in Anzügen, die offenkundig schon seit längerer Zeit dort sitzen und die Entwicklung, die das Ambiente im Laufe des Abends machen sollte, wohl kaum vorhergesehen hatten. Sie zeigen sich ein bisschen irritiert durch den Lärmpegel, das stetig anwachsende Publikum und gelegentlich herumfliegende Biergläser. Nein, das hatten sie so nicht erwartet. Ganz klein sitzen sie an ihrem Tisch, nippen fast ein bisschen ängstlich an ihren Getränken und verstecken ihre Nasen in irgendwelchen Dokumenten, die ausgebreitet vor ihnen liegen.
„Das ist doch kein Zustand!“, hatte Bobbel befunden. „Die sollen feiern. Alle feiern. Der FC Schalke ist der größte Fußballverein aller Zeiten. Das müssen die doch jetzt auch mal langsam verstehen. Dass man das auch mal feiern muss.“
Da konnten wir ihm nur zustimmen, und deshalb war der Riese vor einer halben Stunde an die Fremden herangetreten. Sie hatten seine Einladung an den Tresen jedoch kleinlaut abgelehnt, lächelten entschuldigend, vielleicht sogar ein wenig herablassend. Bobbels Ausführungen über die Großartigkeit des FC Schalke nahmen sie zur Kenntnis, mehr aber auch nicht. Unser Freund kehrte sichtlich enttäuscht zu uns zurück und stellte fest: „Die trauen sich nicht. Die sind so ein bisschen verklemmt.“ Traurig schwiegen wir eine Minute. Dann wieder Bobbel: „Schluss jetzt. Die werden hier integriert, ob sie wollen oder nicht.“ Manni, bemüht: „Ja, ja … Integration ist ein wichtiges Thema. Find ich gut. Aber wie?“ Antwort: „Spielerisch. Ganz spielerisch.“
Bobbel verschwand dann für eine Weile und kehrte schließlich mit ebenjener Angel zurück. Er erklärte die Funktionsweise seines Apparates und malte die kommenden Ereignisse vor uns in die Luft: Unter den gegebenen Umständen sollte es doch ein Leichtes sein, die Schnur von den beiden unbemerkt über ihrem Fläschchen herabsinken zu lassen. Anschließend bräuchte man nur mit einem Ruck die Schlaufe festziehen und das Getränk zu uns an den Tresen herüberfliegen lassen. Es würde lautlos in unsere Hände schweben. Dann würde er, Bobbel, jedem von uns großzügig ein Glas kredenzen. Gleich viel, wie er meinte. Klein-Klein wohne hier nicht. Die beiden Auswärtigen wären von dem raffinierten Manöver so beeindruckt und belustigt, dass sie nicht anders können würden, als sich uns doch noch anzuschließen. Das Eis wäre gebrochen, man würde Bruderschaft trinken und den beiden alles über Fußball beibringen, außerdem später noch einen Ausflug auf die Schalker Meile unternehmen. Die Nacht würde nie zu Ende gehen. Man hätte neue Freunde gefunden. Freunde fürs Leben.
„Das schaffst du nie.“
„Manni, Ruhe jetzt. Konzentration.“
„Du könntest das nicht mal zu Fuß, du Blauwal.“
„Na, dann pass mal auf.“
Wir lehnen uns also zurück, Bobbel lässt die Schnur zum Tisch hinüberschweben. Auf seiner Stirn bilden sich einige äußerst fette Schweißperlen, die in seine linke Augenbraue laufen und ihn blinzeln lassen. Ich tupfe sie weg wie der Trainer des Boxers. Die Anzugträger haben tatsächlich noch nichts mitbekommen, als sich die Schnur um ihren Flaschenhals legt. Dann folgt der riskante Teil der Aktion. Bobbel atmet tief ein, tief aus, und reißt den Queue mit solcher Wucht in die Höhe, dass nicht nur die Flasche nicht an der Schnur hängen bleibt, umkippt und ihren Inhalt über den Tisch der Fremden, ihre Papiere und Anzüge verteilt, sondern der Queue selbst in die Lampe an der Decke rasselt, dort eine Birne zerschlägt und den Schauplatz der Ereignisse verdunkelt. Wir Beobachter brechen sofort in schallendes Gelächter aus. Bobbel hingegen lässt seine Konstruktion einfach fallen, dreht sich wieselflink auf dem Hocker um, stützt einen Arm auf den Tresen und nippt an seinem Bier, wobei er gedankenverloren die Schnapsflaschen an der Wand betrachtet. Als die beiden Begossenen sich vom ersten Schrecken erholt haben, fluchen sie, schütteln ihre Papiere und Anzüge aus. Dann fixieren sie uns. Der klare Sachverhalt hat ihnen offensichtlich Mut eingeflößt. Eine Grenze wurde übertreten. Sie sind im Recht. Und da ist man dann nämlich plötzlich groß. Weil wir hier letztendlich immer noch in Deutschland sind und nicht bei den Hottentotten!
Es ist plötzlich still geworden, Westernstimmung, die ohnehin dicke Luft im Raum riecht nach Gewitter. Der ganze Laden verfolgt jetzt gespannt das Geschehen. Alle kennen uns hier, besonders Bobbel. Der ist natürlich berüchtigt für seine laute Art. Aber er hat auch schon jedem Zweiten hier irgendwann mal aus der Patsche geholfen und ist nie geizig mit seiner Körperkraft, seiner Zeit oder seinem Geld, wenn er welches hat. Kurzum: Alle mögen Bobbel, er hat nichts zu befürchten. Die beiden Clowns haben davon natürlich nicht den leisesten Schimmer. Der eine tippt Bobbel auf die Schulter.
„Entschuldige mal!“
Der dreht sich um, tut überrascht.
„Mein Herr?“
„Lass mal mein Herr. Das wirst du wohl ersetzen müssen!“
Er deutet auf seinen Anzug, den seines Begleiters, die Papiere und die ganze Katastrophe. Uwe hat sich mittlerweile strategisch günstig in der Nähe positioniert, hat eine Hand in die Hüfte gestemmt und in seinem betont gelangweilten Gesicht die linke Augenbraue hochgezogen. Wie er es immer macht in solchen Situationen.
„Was wollen Sie, mein Herr? Schmeckt Ihnen Ihr Getränk nicht?“
„Hör mal zu, du, weißt du eigentlich, wer vor dir steht?“
Bei diesem Satz mischen sich in die gespannte Ruhe erste, ganz kurze unterdrückte Lacher.
„Aber mein Herr, lieber Stenz, es ist doch kein Grund, laut zu werden. Wir wollen doch lieber ganz friedlich feiern.“
„Gleich hol ich aber die Polizei!“
Jetzt können sich einige nicht mehr halten. Theo Kroll, äußerst gut drauf, sieht mich aus der Menge heraus fragend an, ob er einschreiten solle. Ich gebe dem Polizisten ein Zeichen, und er hält sich zurück.
„Das ist unerhört!“, mischt sich der andere ein. Er hat idealerweise die Stimme eines Kastraten, und jetzt kann sich eigentlich keiner mehr halten. Außer Uwe natürlich. Und Bobbel, der weiterhin in seiner Rolle bleibt.
„Meine lieben Herren. Ich würde gern einmal auf ein ganz anderes Thema zu sprechen kommen.“
Bobbel steht auf, tritt vor die beiden hin. Legt einen Arm um die Brust, stützt den anderen darauf ab. Legt einen Finger an die Unterlippe wie ein Denker und spricht, als wäre es das Ergebnis langer Grübelei:
„Wer nicht hüpft, meine Herren … der ist Borusse.“
„Was?“
„Nun ja. Sehen sie mal!“
Und auf Bobbels Zeichen hin fängt der ganze Laden zu hüpfen an und ruft: „Wer nicht hüpft, der ist Borusse, hey, hey.“ Die Auswärtigen stehen starr vor Angst da und wissen nicht weiter. Wenn um dich herum plötzlich hundert stark alkoholisierte Männer überschwänglich zu hüpfen und ohrenbetäubend zu schreien anfangen, kann dir schon mal das Herz in die Hose plumpsen. An dieser Stelle tritt Uwe wieder auf den Plan. Er nickt den beiden verständnisvoll zu, breitet die Arme zwischen ihnen aus und geleitet sie behutsam zur Tür. Wieder einmal ist die Integration leider gescheitert.
Der eine klaubt noch schnell seine nassen Zettel zusammen, die ihm aber zu großen Teilen zwischen den Händen zerfallen. Dann sind sie weg. Wir hüpfen noch ein bisschen weiter, bevor der Tresen gestürmt wird. Die Gläser sind ja alle leer jetzt. Da finde ich vor meinen Füßen eins der Papiere, das die soeben Verabschiedeten nicht mehr haben retten können. Es ist ein Plan, eine Karte. Er ist ein bisschen zerlaufen und eingerissen, schwierig zu lesen, auch aufgrund meiner eigenen Konstitution. Ich drehe das Papier in den Händen hin und her, rätsele über oben und unten, und finde mich schließlich zurecht. Da ist Antons Feld drauf. Unser Fußballplatz. Der Platz, auf dem wir sonntags immer Fußball spielen. Was soll das denn?