Читать книгу Der Himmel ist blau - Markus Draxler - Страница 9
ОглавлениеZWEI
Kurz vor der Stadtgrenze zu Essen, nördlich des Rhein-Herne-Kanals, zur einen Seite von einem kleinen Waldstück, zur anderen von einer stillgelegten Kokerei begrenzt, liegt der Fußballplatz „Antons Feld“. Anton Sterger war seinerzeit Besitzer der Kokerei gewesen, bis er Ende der 80er Jahre den Betrieb einstellen musste. Sterger hatte sich das Unternehmen, aus einfachsten Verhältnissen kommend, selbst aufgebaut und war so ein ziemlich wohlhabender Mann geworden. Erfreulicherweise ist er sich seiner Herkunft immer bewusst geblieben und hat nie vergessen, was er den Männern verdankte, die für ihn arbeiteten. Spendabel, wie er in guten Zeiten war, ließ er Anfang der 70er Jahre ein paar Planierraupen anrücken, ein rechteckiges Feld von der Größe eines ernstzunehmenden Schwimmbeckens auf dem Gelände platt walzen, mehrere Tonnen roter Asche darauf verteilen, setzte an die kurzen Enden zwei selbst gezimmerte Tore und erklärte der Belegschaft – nebenbei, wie es seine Art war –, hier könnte ab sofort jeder Fußball spielen, so viel er wollte. Er hob halb im Spaß den Zeigefinger: außerhalb der Arbeitszeit, verstände sich.
Bobbel und Gerd arbeiteten damals schon seit ungefähr zwei Jahren als Einfeger in Stergers Kokerei. Sie hatten nach der Schule beide keine rechte Vorstellung davon gehabt, wie sie ihr Geld verdienen sollten, und anschließend zusammen die Ausbildung gemacht. Das mit dem Bolzplatz war natürlich ein Glücksfall gewesen. Sie nahmen mich bald mit, und da ich als Fernfahrer arbeitete, was einen einigermaßen geachteten Beruf unter den Arbeitern darstellte, und da Männer, die körperliche Arbeit verrichteten, damals sowieso zusammenhielten, wurde ich sehr freundlich empfangen und aufgenommen.
Wir bauten uns aus Resten selbst ein kleines Vereinsheim mit Tresen, hängten Stergers Bild als Zeichen unserer Dankbarkeit und einen S04-Wimpel aus nicht weiter zu erläuternden Gründen an die Wand. Über die Jahre kamen dann noch unzählige Fotografien, Zeitungsartikel und Zeichnungen dazu, so dass es alles in allem ganz gemütlich wurde. Im Sommer saßen wir bei Auswärtsspielen um das Radio herum, süppelten unsere Biere und sprangen anschließend in den nahe gelegenen Kanal. Sonntags spielten wir selbst, wobei wir so viele geworden waren, dass mehrere Mannschaften gebildet werden konnten, die, durch die Platzverhältnisse bedingt, jedoch auf je sechs Spieler reduziert wurden. Es gab mehrere Spiele nacheinander, bis jeder mal an der Reihe gewesen war. So konnte man den ganzen Tag im Schatten der großen Fabrik zubringen, immer einem rollenden Ball hinterhersehen, fachsimpeln, Biere trinken und die Zeit unter anständigen Menschen verbringen.
Nachdem die Kokerei dichtgemacht hatte, zerbröselte unsere Gemeinschaft. Erst langsam, dann immer schneller. Es kamen keine Jungen mehr nach, die Alteingesessenen wurden müde, gesetzter, krank oder verließen die Gegend. Eine nicht unerhebliche Zahl guter Freunde starb, gerade vierzig, fünfzig Jahre alt. Schließlich, Ende der 90er, waren wir noch so viele, dass es gerade mal für eine Mannschaft mit vielleicht fünf bis acht unregelmäßigen Ersatzspielern reichte. Zum Glück hatten wir über die Jahre Kontakte zu anderen Hobbymannschaften aus den umliegenden Städten aufgebaut, so dass wir mit ihnen – denen es ähnlich ergangen war – eine kleine private Liga organisieren konnten.
Es ist nicht mehr wie früher. Weniger groß, weniger lang, ohne das schöne Gefühl, wirklich was auf die Beine zu stellen. Selbst die Fabrik haben sie zu großen Teilen schon abgerissen. Der Kohlenturm steht noch. Aber er steht schon ziemlich verlassen da. Es ist ruhiger. Kleiner. Weniger berauschend. Doch auch wenn wir manches Mal mit Wehmut zurückblicken und uns die Zeiten wieder herbeiwünschen – die heißen, grünen und grauen Sommer, in denen wir unsere Freunde und Tore nicht hätten zählen können – auch wenn wir ab und an sentimental werden beim Anblick der an allen Ecken geflickten Hütte, die unser Vereinsheim ist. Oder wenn der Ball in einem der Löcher, die der Platz überall hat, verspringt: Wir lamentieren doch nicht groß rum, sondern sind froh, dass uns wenigstens das hier geblieben ist, dass wir Übrigen unsere Beine, ein bisschen Puste und einander noch haben.
„Ingo?“
„Kommt.“
„Freddi?“
„Dabei.“
„Murat?“
„Ja.“
„Heinzi?“
„Auf Geburtstag.“
„Hm. Schlecht. Theo?“
„Krank.“
„Krank, krank … Der hätte gestern Abend eben mit uns abhauen sollen.“
„Na ja. Erstens findet der nie ein Ende, und zweitens ist er eine Memme. Als wären wir nicht krank.“
Manni hat recht. Unter den vier Köpfen, die in seinem Auto hin und her wippen, ist keiner, der nicht Gefahr liefe, in die Luft zu fliegen, sollte der Wagen versehentlich eins der Schlaglöcher erwischen, die die Straße zum Bolzplatz übersäen. Wir lassen Bobbels beste Morgenmischung kreisen, ein hauptsächlich aus Orangensaft, Vitamintabletten, Aspirin und Korn bestehendes Getränk, das Bobbel jeden Sonntag in rauen Mengen zubereitet und der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Während wir trinken, den Vorabend Revue passieren lassen und den Kader für das kommende Spiel durchgehen, gesunden wir langsam. Wenn wir den Platz erreichen, hat uns das Ritual in der Regel so weit zurück auf die Beine gebracht, dass wir die Gegner erhobenen Hauptes begrüßen und umgehend mit dem Aufwärmen beginnen können. Es hat sich die Regel etabliert, als Heimmannschaft drei Kästen zu stellen, als Gast zwei mitzubringen. Das ist meistens ein bisschen zu viel. Aber lieber zu viel als zu wenig. Weiß ja jeder.
Die Herner warten schon und drücken jedem von uns zur Begrüßung eine Flasche in die Hand. Aus irgendeinem Grund besteht zwischen ihnen und uns ein besonders herzliches Verhältnis. Wir schätzen sie aufgrund ihrer Pünktlichkeit, Fairness und weil sie nach dem Spiel auch schon mal länger bleiben. Wir finden, sie haben die richtige Einstellung zum Sport. Warum sie uns so gut leiden können, wissen wir auch nicht genau. Wir sind nicht immer pünktlich, und im Eifer des Gefechts nehmen wir Aus und Abseits gelegentlich nicht ganz so ernst. Nun, gesellig sind wir wohl. Das wohl.
Frido, der Herner Kapitän, will sofort alles über das gestrige Spiel hören. Er hat das Ganze natürlich selbst am Fernseher verfolgt, aber die Atmosphäre, sagt er, die komme da ja doch nicht hundertprozentig rüber. Außerdem habe er sich über weite Strecken so über Marcel Reif aufregen müssen, dass seine Erinnerung an das Geschehen auf dem Rasen nicht ganz lückenlos geblieben sei. Wir erzählen ihm, was uns einfällt, malen die Kulisse knallbunt und pathetisch vor ihm aus, berichten auch von Bobbels Knappenkartenaktion und Mannis zwischenzeitlicher Gleichgewichtsstörung, die Schnösel und das missglückte Angelmanöver samt Folgen. Unter der Plauderei vergehen anderthalb Stunden. Der erste Kasten ist geleert, traditionell das Zeichen für uns, die Stollenschuhe anzuziehen und ein bisschen die Gelenke zu ölen.
Gegen halb zwei kündigt ein die Luft zerfetzendes Geknatter die Ankunft unseres Trainers Willy an. Er stellt seine ungefähr vierzig Jahre alte Vespa hinter dem Vereinsheim ab, wackelt zu uns herüber uns klatscht in die Hände. Der Alte schielt in die Runde. Er ist geschrumpft die letzten Jahre. Aber er kauft sich keine neuen Klamotten. Er versinkt in seinem beigefarbenen Trenchcoat. Die Ärmel reichen bis zu den Fingerspitzen. Ständig muss er sie hochschieben. Die rote Wollmütze in den Augenbrauen. An den Seiten hängen riesenhaft die Ohrläppchen heraus, die nicht mitgeschrumpft sind. Milchschleier auf den Augen. Buckel. Dünne Beine zeichnen sich in der Stoffhose ab. Bügelfalten. Immer so ein Gesicht, als wäre absolut alles zweifelhaft.
„Tach, Jungs.“
„Tach, Trainer.“
„Ich weiß, ihr habt schon wieder gesoffen wie die Blöden. Und ich kann’s euch nicht verbieten. Müsst ja selbst wissen, was ihr euren Körpern antut.“
Er greift in die Innentasche seines Mantels, holt den Flachmann hervor und genehmigt sich einen Schluck.
„Da Theo und Heinzi nicht dabei sein können, wird Murat zwischen die Pfosten gehen. Ich weiß, das ist nicht deine stärkste Position, aber du schaffst das schon. Mach einfach ein böses Gesicht, wenn der Stürmer kommt, das kannst du gut. Ansonsten 3-2-1 wie immer. Linker Verteidiger Ingo, rechter Freddi, dazwischen Bobbel. Bobbel, greif hart durch, wie üblich, aber brich keinem was. Wir sind alle zum Spaß hier. Rechts außen Acki, links mit Ausrichtung ins Zentrum als halber Spielmacher Manni. Im Sturm Gerd. Gerd: Ich sehe, dass deine Frau heute hier ist. Und diese andere Uschi, die dir von da hinten so verloren auf den Arsch glotzt, gehört vermutlich auch zu deinem Fanklub. Wir wissen alle, dass du deinen Schwengel nicht ganz unter Kontrolle hast. Aber ich will, dass du das heute mal vergisst und dich auf den Fußball konzentrierst. Schaffst du das?“
„Ja, Trainer.“ Gerds Antwort kommt ziemlich kleinlaut daher, und es ist wohl keiner da, der sie ihm so recht abnimmt.
Wir waren ungefähr zwölf oder dreizehn Jahre alt. Bobbel und ich verbrachten die meisten Nachmittage zusammen mit einer Horde anderer Kinder in irgendeinem Hinterhof, in dem wir zum Leidwesen der Anliegerschaft die Wäscheständer zu Toren umfunktionierten. Am Tag, an dem wir Gerd kennenlernen sollten, waren wir allerdings nur zu zweit. Wir standen abwechselnd im Tor und arbeiteten an unserer Schusstechnik. Bobbel hatte auf diesem Gebiet die größeren Defizite. Seine Stärken lagen eher im Bereich der Befreiungsaktionen.
Irgendwann deutete er auf ein Fenster im Erdgeschoss, in dem man das schmale, fein geschnittene Gesicht eines Jungen erkennen konnte. Der blickte aus seinen tiefen, dunklen Augen schüchtern zu uns rüber. Wir kannten ihn aus der Schule.
Bobbel: „Guck mal, der schöne Gerd.“
Ich: „Der hat’s auf dich abgesehen, wie’s scheint.“
Bobbel: „Klappe.“
Er zimmerte das Leder mit solcher Gewalt an die Latte, dass das improvisierte Tor ungefähr drei Minuten lang zitterte.
Der schöne Gerd hatte alle Eigenschaften, von denen wir glaubten, dass sie einen Schwulen auszeichneten. Er war schön, schmal, hatte einen aufrechten Gang und lange, dünne Finger, mit denen er Dinge behutsam berühren konnte. Sein volles, schwarzes Haar fiel ihm manchmal verwegen in die Stirn, woraufhin er es mit großer Geste hinter sein eines Ohr streichen konnte. Er ging schon in die Tanzschule, und seine Kleidung schien, obwohl sie nicht teurer, sauberer oder sonst wie hochwertiger war als unsere, immer auf unerklärliche Weise besser zu passen. Seine Stimme war fest und sanft zugleich. Er wurde selten laut oder nahm sonderlich obszöne Worte in den Mund. Wir wollten ihn so gerne als warmen Bruder abstempeln. Da war nur diese eine Sache: Gerd war ein leidenschaftlicher Schürzenjäger. Er hatte immer ein oder mehrere Mädchen gehabt, solange wir ihn kannten. In dem Alter war es noch keine so große Sache, wir wussten ja nicht mal, warum es vorteilhaft sein sollte, mit einer weiblichen Person engeren Kontakt zu pflegen. Aber wir spürten doch einen seltsamen, kleinen Neid in der Brust, wenn wir sahen, wie die Mädchen ihm nachsahen, oder wie sie an seinen Lippen hingen, wenn er von Banalem sprach, oder wie ihm die Herzen zuflogen von überallher, egal, was er tat oder nicht tat.
Plötzlich, Bobbel hatte die Pille soeben sagenhaft weit daneben gehauen, stand er, Gerd, den Ball in der Hand, neben dem Tor, reichte ihn mir und fragte, grauenvoll charmant, ob er mitspielen dürfte.
„Tja, weißt du, also das ist so eine Übung, die man nur zu zweit machen kann, also …“
„Ach so.“
„Tschuldige.“
Wir spielten weiter, Gerd blieb in der Nähe und sah uns zu. Als Bobbel und ich Positionen tauschten, berieten wir uns.
„Der fasst uns bestimmt komisch an.“
„Am Ende machen wir den versehentlich kaputt.“
„Hm.“
„Hm.“
Wir glaubten selbst nicht, was wir sagten, und so beschlossen wir nach einer Weile, ihn ins Tor zu stellen.
„Du kannst ins Tor, wenn du willst. Dann können wir auch mal gegeneinander spielen, der Bobbel und ich.“
„Als Torwart musst du aber auch die Bälle holen, das ist klar. Ich hab mir da was gezerrt und verzieh ihn heute öfter mal.“
Gerd lächelte.
„Schon klar.“
Er war eine Niete im Tor. Nicht nur, dass er vor jedem zweiten Schuss die Flucht ergriff. Selbst wenn er den Mut aufbrachte, die Hand nach einem nicht ganz so hart geschossenen Ball auszustrecken, fasste er doch meistens ins Leere und betätigte sich so die meiste Zeit als Ballholer. Da ich natürlich wesentlich weitere Wege gehen konnte als mein Freund Bobbel, dem das Laufen eine eher unangenehme Begleiterscheinung dieses Sports war, meldete er, Bobbel, bald den Wunsch an, doch auch noch mal ins Tor zu gehen. Er musste verschnaufen.
Gerd behauptete, erst wenige Male vor einen Fußball getreten zu haben. Wir glaubten es ihm auch, hatten wir ihn doch noch nie dabei beobachtet. Es wurde zu unserem Topthema in den darauffolgenden Wochen: Ob es an seiner schmalen Körperform und einer daraus resultierenden Wendigkeit lag? Ob seine Tanzstunden ihm eine universelle Kontrolle über die Füße verliehen hatten, die ihn in die Lage versetzten, damit zu tun, was er wollte? Ob er über eine wundersame Begabung verfügte, ob er schlicht ein Naturtalent war? Gab es erblich bedingte Faktoren? Wir rätselten. Fakt war jedenfalls, dass der schöne Gerd vom ersten Moment an dribbelte wie ein Weltmeister, einen Übersteiger nach dem anderen vollführte und mich, der ich mir doch immerhin ein bisschen was auf mein Können einbildete, aussehen ließ wie einen blutigen Anfänger, der gerade mal wusste, wie man geradeaus lief, ohne sich zu überschlagen.
Diese ungeahnten Fähigkeiten ließen ihn in unserer Achtung natürlich ungefähr drei Kilometer steigen. Dass er dabei bescheiden blieb, sich abseits des Platzes als unterhaltsam und verlässlich erwies und nicht zuletzt das andere Geschlecht an den Spielfeldrand lockte – auf diese Weise kamen übrigens auch Bobbel und ich letztlich in den Genuss unserer ersten Freundinnen –, machte ihn schließlich zum dritten, fest installierten Mann in unserem Bunde.
Wie gesagt, er war leidenschaftlich in der Liebe. Hatte er sich eine Frau in den Kopf gesetzt, konnte er schmachten wie ein Italiener, bis sie ihm hold war – zum Beispiel ist ein auf Fußballer versessenes Weibchen der genaue Grund dafür gewesen, dass er damals überhaupt mit uns hatte spielen wollen. Nach höchstens vier Wochen lief er dann einer anderen über den Weg, in die er sich auf der Stelle unsterblich verliebte, so dass er die andere – der zwischenzeitlich das Blaue vom Himmel versprochen worden war – möglichst menschenfreundlich, möglichst schnell abservieren musste. Gerds Liebesleben wurde zum Dauerbrenner in unserer kleinen Truppe, und wir genossen es, an seinen Höhen und Tiefen, an seinen Verwicklungen und Leidenschaften teilzuhaben, ohne sie selbst so ernsthaft zu empfinden, wie er es tat.
Als er einundzwanzig Jahre alt war, begegnete er auf der Cranger Kirmes seiner späteren Frau Carmen. Sie war wirklich eine Fackel. Voller Lebensfreude und klug dazu. Zu Gerds Verhängnis wollte sie lange nichts von ihm wissen. Zumindest hatte sie kein Interesse an einer ernsthaften Verbindung, während Gerd sich schon die Hochzeit ausmalte und für immer mit ihr zusammenbleiben wollte. Wenn er uns Freunden davon erzählte, aufgelöst wie er war in solchen Fällen, nickten wir einander anfangs noch wissend zu, ahnten wir doch den weiteren Verlauf der Geschichte mit Höhenflug und Absturz bereits voraus. Als Gerd nach einem halben Jahr jedoch immer noch vergeblich um ihre Gunst buhlte, merklich abgenommen hatte und anfing, sich beim Fußball Unkonzentriertheiten zu leisten, wurde uns klar, dass es anders war.
Um es abzukürzen: Natürlich bekam Gerd schließlich seine Carmen. Sie heirateten tatsächlich. Und natürlich geschah nach wenigen Jahren, die die beiden durchaus glücklich zusammen verbrachten, das Unvermeidliche. Gerd wurde es langweilig. Er entdeckte Kleinigkeiten an ihrem Aussehen und Verhalten, die ihm die ganze Frau verleideten. Am Ende lief er irgendeiner gerade volljährig gewordenen, großbusigen Uschi über den Weg, der er hinterherstelzte wie ein Esel der Möhre.
Seither gibt es immer irgendeine Gespielin neben seiner Frau Carmen, die er doch nicht verlassen kann. Gerds Leben ist ein einziges Geschichtenspinnen geworden, mit dem Ziel, stets die Existenz der einen vor der anderen zu verbergen, sich selbst als jemanden zu zeichnen, der er nicht ist und nie war, und das Ganze noch irgendwie als eine Freude zu erleben.
„Ernsthaft, Gerd. Für die nächsten zwei Stunden ist deine einzige Freundin kugelrund und hat eine Haut aus Leder.“
„Ist doch genau mein Typ.“
„Werd bloß nicht frech, Bürschchen.“
Wir nehmen noch etwas Flüssigkeit zu uns, losen die Seiten aus und halten die standesgemäße Begrüßung an der Mittellinie ab. Manni und Gerd stoßen an. Wir lassen den Ball erst mal laufen und sehen, was der Gegner macht, wie die Herner drauf sind, konditionell und motivationsmäßig. Sie haben zwei Schwergewichte in der Abwehr, die mit einfachen Doppelpässen leicht auszuhebeln wäre. Im Mittelfeld ist es schon schwieriger. Friddo hat einen guten Tag und ackert zentral wie ein Wilder. Er ist mal auf der einen, mal auf der anderen Seite, hilft hinten aus, wenn wir in die Nähe des Sechzehners kommen, und bemüht sich nach vorne hin Druck aufzubauen, was ihm seine schwerfälligen Mitstreiter allerdings nicht gerade leicht machen. Nach vielleicht zwanzig Minuten hat er schon drei Steilpässe gespielt, die uns sicher den Rückstand eingebracht hätten, wäre einer der Stürmer im richtigen Moment losgelaufen. Oder überhaupt losgelaufen. Friddo ist ein bisschen sauer über die Leistungsbereitschaft seiner Kameraden, aber er schimpft nicht. Er weiß, dass das sowieso nichts besser machen würde. Eher im Gegenteil. Er handelt genau richtig, indem er gegen Ende der ersten Halbzeit seinen Frust sammelt, in die Füße verschiebt, und mit der gewonnenen Energie einen Alleingang über das ganze Feld antritt, auf dem er sämtliche Gegenspieler aussteigen lässt. Und an dessen Ende er die Kugel mit der Abgeklärtheit eines Profis ins rechte untere Eck einschiebt.
Willy steht am Rand und tobt. Er gibt während des Spiels eigentlich nie Anweisungen, abgesehen davon, dass er mit einem Feuerzeug herumfuchtelt, mit dem er uns vermitteln will, er werde uns schon Feuer unterm Hintern machen. „Acki! Acki!“, ruft er dann. Und wenn man hinsieht, zündet er es an und sieht einem fest in die Augen. „Jetzt mach aber mal los!“
In der Halbzeit wird er dann ausführlicher. Während wir auftanken, geht er sämtliche Positionen durch: „Gerd, katastrophal. Ich will nicht wissen, wo du mit den Gedanken bist. Aber ich weiß es. Und das macht mich wahnsinnig. Was hab ich dir vor dem Spiel gesagt, Mensch? Du Spatzenhirn! Mach dich mal frei! Manni, zwei, drei ganz passable Ansätze. Versuch’s ruhig mal mit langen Bällen in die Spitze. Die beiden Fleischklöppse dahinten sind doch lahme Enten. Aber dann muss natürlich auch einer starten und vorne drin sein. Acki, Gerd, ihr seid gemeint! Bobbel, hast ziemlich alt ausgesehen, wie der Spielführer dich da ausgetanzt hat, das hab ich schon besser von dir gesehen. Ingo und Freddi, ihr sucht mir in der zweiten Hälfte jetzt mal die Wege nach vorne, ihr Schlaftabletten. Da kommt ja nix von denen über die Flügel. Da könnt ihr doch mal was probieren! Murat, gut, bis auf das Gegentor. Den hätt wahrscheinlich meine Oma noch rausgefischt. Und die ist längst hinüber. So. Austrinken, weitermachen.“
In der zweiten Halbzeit neutralisieren sich die Mannschaften weitgehend im Mittelfeld. Friddo ist ziemlich im Eimer, auch von ihm kommt jetzt nicht mehr viel. Eine erwähnenswerte Szene findet noch statt, als Bobbel beim Versuch, den Ball nach vorne zu schlagen, ungünstig mit der Pieke in den Boden drischt und im Anschluss daran für einige Minuten behandelt werden muss. Das heißt, ein Bier trinken. Wir überstehen das Unterzahlspiel jedoch ohne weiteren Gegentreffer.
Als die Partie schon fast gelaufen ist, passiert doch noch das Unerwartete. Nach kurzem Abstoß von Murat spielt Bobbel den Ball zu Manni in die Mitte, der dort völlig unbedrängt einige Meter gehen kann, bevor er den Pass Richtung Eckfahne spitzelt, genau zwischen den Verteidigern hindurch. Ich habe zwar den exakten Moment verpasst und hätte das Nachsehen hinter jedem Spieler unter hundert Kilo gehabt. Doch obwohl ich viel zu spät starte, erreiche ich das Leder vor dem unsagbar langsamen Verteidiger und lege den Ball auf Gerd zurück, der am kurzen Pfosten bereitsteht und nur noch den Schlappen hinhalten muss. Ein Aufschrei geht über das Feld, der auch ein bisschen so klingt, als wären sechs Leute gerade eben aufgewacht. Gerd zieht einen ausgedehnten Jubel ab, wir springen auf ihn drauf, der Schiri pfeift. Schluss. Ein glückliches Ergebnis. Wir können zufrieden sein. Wir alle.