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Mit fliegenden Schritten nahm Professor Kriszeck die letzten Stufen der Treppe und lief mit weit ausholenden Schritten den langgestreckten Gang entlang. Seine hagere, gereckte Gestalt schien nicht nur die Höhe, sondern eigenartigerweise auch die ganze Breite des immer gleich grauen Flures einzunehmen. Unwillkürlich gingen ihm die Studenten aus dem Weg und grüßten ihn zurückhaltend, darauf bedacht, den Abstand zu ihm möglichst groß zu halten. Aber nichts deutete darauf hin, dass er die im Flur stehenden Figuren überhaupt wahrgenommen hätte. Für ihn waren es Zwerge. Gut, das eine Gesicht dort, kannte er es nicht? Max Haas, richtig? Und daneben? Ralf-Roland Sowieso. Egal! Doch schon kurz darauf verschwammen die blassen, scheuen Gesichter für Kriszeck zusammen mit den anderen Gesichtern im fahlen Spätnachmittagslicht des Flures zu einer eigenartigen milchig-trüben Masse, die ihm meist nur im Weg stand, die ihn störte, die es im Grunde aber auch nicht wert war, eingehender beachtet zu werden. Er war froh, wenn er sich aus dieser milchigen Trübe in sein Büro flüchten konnte.

Er blieb vor der Türe zu seinem Büro stehen, kramte in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel, die dünne Aktentasche zusammen mit dem Fahrradhelm unter den anderen Arm geklemmt. Er schloss umständlich die Türe auf, ging hinein, gab der Türe einen heftigen Stoß, dass sie knapp vor Max’ Nase zuknallte und stellte die Tasche auf dem mit Büchern, Papieren und dem Bildschirm bereits übervollen Schreibtisch ab. Sein Blick fiel auf die Post. Sein Blick verengte sich, seine Züge wurden kantig, die Falten tiefer als üblich. Sein Gesicht, ohnehin spitz durch die große, weit nach vorn ragende Nase, wurde scharf. Er blätterte die Umschläge schnell durch. Heute war der erhoffte Brief immer noch nicht gekommen!

Kriszeck ging zu den Fenstern und riss eines davon weit auf. Er sah über den Campus hinweg in den klaren Himmel hinaus, hinten weit die Silhouette der Stadt mit ihren markanten Hochhäusern, den kleinen Kirchtürmen und hier und da den hoch aufstrebenden Pfeilern der großen Brücken. Seit Tagen, ach, was, seit Wochen schon wartete er auf die Einladung, die Einladung zu der Ehrung, die er erhalten sollte und von der er durch eine kleine Indiskretion seines Freundes Burkhardt erfahren hatte. Nein, nicht der Carl-Erdmann-Preis. Den hatte er ja schon verliehen bekommen. Nein, auch nicht den Konrad-Adenauer-Preis. Besser! Die Ehrung durch das Bundesverdienstkreuz! Seit Jahren hätte ihm die schon zugestanden. Für sein Werk! Ja! Für den friedenstiftenden und völkerverbindenden Gedanken, der dahinter stehe. Nun gut, da musste man sich wohl gedulden. Lange, viel zu lange schon hatte er schon auf eine diese Ehrung warten müssen! Kleingeister brauchen nun eben ihre Zeit, um zu erkennen, was er zustande gebracht hatte. Ach! Wozu sich noch länger darüber grämen, wo es endlich in Erfüllung gehen würde. Die angemessene Würdigung seiner Arbeit! Ein bisschen Abwechslung braucht man halt. Viel zu sehr war der alltägliche Vorlesungskram schon zur Routine geworden. Die Universität mit ihrer lästigen Bürokratie. Schwerfällige Studenten. Bornierte Kollegen. Und die vielen Veröffentlichungen hatten ihren Reiz noch länger schon verloren. Tagungen, Vorträge auf Empfängen, Eröffnungen und Preisverleihungen waren da noch Höhepunkte. Seine glänzenden Auftritte, bei denen er die Stimmung in einem Saal derart sensibel führen konnte, die nötigen Worte mit der dazu passenden Verve in den Raum werfen konnte und die Zuhörer so zu fesseln vermochte, dass niemand widerstehen konnte, ihm zu Füßen zu fallen, der es sogleich erspürte, wie die Aufmerksamkeit der Menschen um sie herum sich ihm zuwandte, der aber auch genau dieses Gefühl brauchte, danach gierte, es aufsog.

Jetzt endlich also seine eigene Ehrung! Er drehte sich um, lehnte sich an die Fensterbank und ließ den Blick über sein Reich gleiten, das er sich erst kürzlich neu hatte einrichten lassen, hell, modern, er brauchte diese frische, unverbrauchte Atmosphäre, um seinen Geist weiten zu können, den die milchige Trübe in den Fluren draußen verengte. Sein Blick, fast verträumt, blieb an den violett eingebundenen Buchrücken hängen, die auf Augenhöhe einen großen Teil des hellen neuen Regals einnahmen. Seine Reihe! War es nicht empörend, dass man ihm die Nachricht über die Entscheidung zu seiner Ehrung so lange vorenthielt?

Plötzlich stieß er sich von der Fensterbank ab, schritt weit aus, zur Türe, war mit zwei Schritten durch das Milchige des Flures wieder an der Türe des Sekretariats, riss sie auf, Frau Decker, seine Sekretärin, zuckte leise grüßend zusammen.

„So? Ja! Sind keine weiteren Beiträge für den nächsten Band da?“, herrschte er sie an. Frau Decker, auch wenn sie noch nicht lange seine Sekretärin war, hatte schnell lernen müssen, dass es für Kriszeck neben seinen öffentlichen Auftritten nur noch ein weiteres, liebstes Kind gab, seine Bände gab, seine Reihe, die er seit Jahren veröffentlichte und die Teil gerade desjenigen Werkes war, für das er jetzt geehrt werden sollte. Wenn man so etwas nicht am ersten Tag am Lehrstuhl von Herrn Professor Doktor Kriszeck lernte, war man bereits wieder entlassen, bevor man sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch gesetzt hatte. Aber sie kam gar nicht dazu, ihm auch nur eine Silbe zu erwidern.

„Na, das war ja zu erwarten. Ja! Hier tanzt mir ja mittlerweile jeder auf der Nase herum. Aber das wird sich demnächst ändern! Ja! So geht das nicht weiter, wenn ich etwas brauche, und ich habe gestern gesagt, ja, dass ich diese Beiträge brauche, dann sage ich das nicht, weil ich es irgendwann brauche, sondern weil ich es dringend brauche, verstehen Sie, schnell, wenn das in Ihrem Wortschatz vorhanden ist, ja, so schnell wie möglich! Wenn ich mich immer nur mit Nebensächlichkeiten befassen muss, dann ist es ja kein Wunder, wenn die Veröffentlichungen immer länger brauchen, ja, dann läuft der ganze Lehrstuhl ja nicht richtig, ja!“

Kriszeck drehte sich auf dem Absatz um, wollte gerade wieder über den Flur in sein Büro zurückstürmen, nahm die Klinke der Türe in die Hand und riss die Türe auf, als er sich plötzlich einem dieser hageren, blassen Zwerge gegenübersah, der in das Sekretariat kommen wollte, einer dieser Zwerge mit ihrem stets unrasierten Gesicht, der viel zu blassen Haut, die auf dem schwarzen, abgestoßenen Jackett noch fahler wurde. Kriszeck hätte ihn fast umgerannt. Doch der Zwerg war sein Assistent. Von oben herab bohrte er ihm nun seine spitze Nase direkt ins müde Gesicht.

„Gut, dass Sie gerade kommen, das trifft sich wirklich gut, ja, Haas, ja!“

„Guten Morgen, Herr Professor“, entgegnete Max.

„Wie? Was? Was haben Sie gesagt?“, rief Kriszeck ihm zu.

„Nichts, gar nichts“, antwortete er. Er hatte sofort verstanden, in welcher Stimmung Kriszeck war. So etwas war wichtig, wollte man in diesem Treibhaus der Eitelkeiten und Begehrlichkeiten überleben.

„Ist ja auch egal“, fuhr Kriszeck unbeirrt weiter. Was er seinem Doktoranden nun zu sagen hatte, sagte er über den halben Flur hinweg, Kriszeck kannte da genauso wenig Zurückhaltung wie bei allem anderen auch. „Ich brauche Ihre Arbeit, jetzt, ja! So schnell wie möglich, die Veröffentlichung muss ja schon viel zu lange auf die säumigen Mitarbeiter warten, ich hätte nie gedacht, dass Sie dazu gehören, ja, ich habe Ihnen allen gegenüber immer wieder betont, dass Sie dankbar sein müssen für die Chance, die sich Ihnen bietet, wenn Sie bei mir veröffentlichen dürfen! Und doch kommen Ihre Arbeiten immer wieder verspätet bei mir an, ja, also, turnen Sie nicht so viel privat herum, setzten Sie sich auch mal hin und schreiben Sie Ihren Beitrag, so schwer kann das doch nicht sein, wenn Sie Ihre Fähigkeit zum Schreiben nicht schon im Bier der Studentenpartys ertränkt haben sollten! Bis wann hatte ich Ihnen eigentlich die Frist gesetzt, ja?“

„Gar nicht, Sie hatten gar keine Frist gesetzt, Herr Professor.“

Die Studenten auf dem Flur warfen die ersten, verstohlenen Blicke in das Büro hinein. Robert machte sich aus dem Staub.

Max fasste sich so knapp wie irgend möglich, denn er wusste, dass er sich jetzt am besten auf das Nötigste beschränken sollte und allen Ärger möglichst ungerührt hinunterschluckte, um unbeschadet aus dieser misslichen Lage herauskommen, in die er heute hineingeschlittert war, als er in das Büro von Frau Decker gegangen war, ohne daran zu denken, dass Kriszeck ja wahrscheinlich heute auch hier war. Er wusste, dass diese Stimmung vorübergehen würde, manchmal sogar recht rasch. Aber er mochte es nicht, wenn andere diesen wenig herzlichen Umgang mitverfolgen konnten. Seine Stelle war zwar nicht so begehrt wie andere, aber auch hier warteten schon die Nachwuchswissenschaftler mit ihrer pickeligen Arroganz, die jeden Streit zwischen dem Professor und seinen Assistenten mit Genugtuung in den Augen sahen, in jedem harten Wortwechsel zwischen Kriszeck und Max ihre Chance näher kommen sahen.

„Wie bitte?“

„Gar keine!“ wiederholte er nun etwas lauter.

„Wie? So! Ja, gar keine? Sehen Sie, schon wieder so ein Fehler, den ich aus reiner Menschenfreundlichkeit immer wieder begehe, immer wieder bin ich doch einfach zu gutgläubig. Wie lange werden Sie also noch brauchen?“

„Ich denke, dass ich in zwei bis drei Monaten so weit sein werde, dass ich ...“

„So, ja“, unterbrach ihn Kriszeck bestimmt, „also dann in vier Wochen, nicht wahr, das muss reichen, wie gesagt, turnen Sie nicht so viel privat herum, dann reicht die Zeit auch. Wenn Sie wie ich jeden Morgen mit dem Gedanken an Ihre Arbeit aufwachen und abends damit ins Bett gehen, dann klappt das auch. Dann hätten Sie’s in zwei Wochen fertig. Spätestens! Also, ja! Wenn ich Ihnen vier Wochen gebe, bin ich noch großzügig. Ja! Denken Sie daran! Wenn Sie das anders angehen, dann wird das sowieso nichts mit einer Karriere, und die wollen Sie doch noch machen, nicht wahr, das will jeder, der bei mir arbeitet, und nicht bei den anderen Professoren Hasenfüßen, ja, auch wenn das im Moment ja gar nicht danach aussieht, nicht wahr? Also dann, einen schönen Tag noch und viel Erfolg bei Ihren Bemühungen.“

Kriszeck drängte sich an ihm vorbei. Die Türe des Büros knallte, als Kriszeck darin verschwunden war. Max und Frau Decker blieben im Büro zurück, sahen sich an und seufzten gegenseitig.

Auch wenn Kriszeck sich nun ein bisschen Erleichterung verschafft hatte, so schien sich doch keine rechte Entspannung einstellen zu wollen, jedenfalls warf er sich in seinen Stuhl, mit dem üblichen Schwung, der den Stuhl einmal am Tisch vorbei geradewegs in Richtung Fenster rollend drehte, er verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, aber das Gesicht war immer noch angespannt und seine Nase immer noch spitz. Er schaute über die Dächer der Stadt, wie er es so gerne tat. Aber das elende Kribbeln der Unrast im Bauch blieb.

Er musste plötzlich an Rossmann denken, diesen alten Hund. Genauso unstet wie er. Er hatte es doch tatsächlich geschafft, hier in der Stadt Fuß zu fassen. Das konnte ihm so schnell keiner vormachen. Vor einer Woche hatte er ihm die ganze Geschichte erzählt, als er ihm geholfen hatte, ein paar seiner Weinflaschen zu leeren, die noch in einigen seiner Umzugskartons lagerten. Kriszeck musste unwillkürlich lächeln, als er an Rossmann dachte. Dieser Hund empfand doch nicht den geringsten Funken Unrechtsbewusstsein, bei allem, was er tat. Ein bisschen Bewunderung rang ihm dieser kleine Widerling schon ab, dem die Niedertracht in sein Gesicht geschrieben stand. So viel Chuzpe hätte er selbst nie besessen. Seine Gesellschaft wird heute genau das Richtige sein, dachte er, ein kleiner durchzechter Abend, das würde ihn wieder verjüngen. Nach dem leidigen Vorlesungskram.

Das Telefon klingelte.

„Kriszeck?“

„Kriszeck, du alter Halunke, hier ist Burkhardt, dein alter Freund!“

Oh, dieser elende Politiker! Was wollte ausgerechnet der jetzt von ihm? Zu seiner Ehrung eingeladen werden oder was?

Schuld und Lüge

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