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Auch wenn wir es nicht immer wahrhaben wollen, so unterliegen auch wir Menschen einem ständigen Selektionsdruck und müssen uns als Lebensform behaupten. Wir leben meist in Gruppen, haben eine hohe Sozialkompetenz und unser Gehirn schätzen wir als leistungsstark ein und dies ermöglicht uns einiges. Füße schützen wir mit Schuhen, gegen Wind und Wetter bauen wir Häuser, vereinen uns in Dörfern und Städten und betreuen unsere Kinder über einen langen Zeitraum. Waren früher Familien mit 10-15 Kindern nichts Ungewöhnliches, so hat eine Familie heutzutage meist nur mehr eines. In mehr als der Hälfte aller Haushalte gibt es überhaupt keine Kinder mehr. Entsprechend hoch ist unser Schutzbedürfnis ihnen gegenüber und der Verlust eines Kindes erschüttert nicht nur die Eltern, sondern auch das ganze Umfeld.
Dieser Erfolg hat aber auch seinen Preis. Blicken wir zurück, so hat die zunehmende Aneignung und Urbarmachung von Land, die Urbanisierung und der Handel über Grenzen hinweg, sowie die Völkerwanderungsbewegungen um 500 auch die Verbreitung von Infektionskrankheiten gefördert. Traten vor dem Jahr 200 nur vereinzelt lokal begrenzte Seuchen auf (für diesen Zeitraum gibt es nur wenig Aufzeichnungen, sodass nicht alles erfasst sein muss), so nahm deren Ausbreitung und Ausmaß hernach kontinuierlich zu (Antoninische Pest um 180 vermutlich Pocken oder Masern, Cyprianische Pest um 260 vermutlich Pocken, Justinianische Pest um 600 vermutlich die echte Pest) und fand ihren Höhepunkt in der großen Pest von 1346 bis 1353, die in Europa noch bis in das Jahr 1700 von Zeit zur Zeit wütete und an der insgesamt gesehen mehr als ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung verstarb (über 25 Millionen Todesfälle).
Abbildung 1: Bevölkerungsentwicklung Europas inkl. Russland vom Jahr 0 bis 2015. Links (rote Kurve) logarithmiert, rechts (blaue Kurve) normale Skala. Datenquelle [1], [2]. Die Angaben vor 1800 beruhen meist nur auf Schätzungen und sind somit als Größenordnung zu verstehen. Zudem wird bis 1900 für Zählungen eine Schrittweite von 50 Jahren verwendet, hernach 5 Jahre, sodass Schwankungen dazwischen nicht abgebildet sind.
Klima, Bewirtschaftungsmethoden, Fruchtfolge, Kriege, das Aufkommen der empirischen Wissenschaften (um 1600), Hygiene (um 1800) die Industrialisierung (um 1850) und noch zahlreiche weitere Faktoren ließen die Bevölkerung wachsen, brachten sie aber immer wieder an ihre Wachstumsgrenze - zahlreiche Hungersnöte zeugen davon (Abbildung 1). Erst mit der Aufklärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als das Feudalsystem zunehmend an Bedeutung verlor und Land in den direkten Besitz der Bauern übergehen konnte, gepaart mit verbesserten Anbaumethoden und einem gesteigerten Ertrag, zog das Bevölkerungswachstum merklich an. Lag der Ertrag an Weizen pro Hektar bis 1500 noch bei 0,5 Tonnen, so stieg dieser bis 1800 auf 1 (Egge, Düngung), bis 1900 auf 1,85 (erste Maschinen), war 1950 noch bei 2,73 (Kunstdünger) und liegt nun um die 7,5 Tonnen [3]. Zudem verbesserte sich das Wissen über Erkrankungen, deren Behandlungsmöglichkeiten und die medizinische Versorgung insgesamt. Auch gewann man langsam bedeutendes Wissen über Ursache und Ursprung von Erkrankungen (Bakterien um 1850, Viren um 1900). Noch vor hundert Jahren lag der Anteil infektionsbedingter Todesursachen bei 40%. Dieser nahm erst ab 1950 merklich ab und liegt mittlerweile bei knappen 3% [4], [3]. Es kann sein, dass wir mittlerweile eine weitere Wachstumsgrenze erreicht haben. Seit 1990 wächst Europa nur mehr langsam und man vermutet, dass in den nächsten 30 Jahren sich die Bevölkerung, durch den Wegfall der starken 50er und 60er Jahrgänge, von derzeit 741 auf etwa 700 Millionen reduzieren wird. Zudem kann man noch nicht abschätzen welche Rolle antibiotikaresistente Keime künftig spielen werden. Derzeit ist jedenfalls ein Anstieg von Todesfällen durch Infektionskrankheiten in der älteren Bevölkerung festzustellen.
Wie stark sich die Lebenserwartung in Europa verändert hat, kann man sehr gut an den schwedischen Daten ablesen (Abbildung 2). Sämtliche skandinavischen Staaten haben bereits sehr früh zentrale Krankheitsregister eingerichtet und zudem wurden deren Staatsgrenzen kaum durch Kriege verändert, sodass man über diese Register sich einen guten Überblick verschaffen kann. Erreichten 1885 nur 75% der im Jahr 1870 geborenen Frauen das Alter von 15 Jahren, so waren dies für den Jahrgang 1900 bereits 84%, 1930 93% und 1990 99%. Eine Familie in Schweden hat somit vor 1900 mindestens ein Viertel aller Kinder verloren.
Was hat sich seitdem alles verändert?
Abbildung 2: Schweden. Entwicklung der Überlebensraten der Geburtsjahrgänge 1870 bis 1990 dargestellt an Frauen. Datenquelle: Statistics Sweden [3].
Um zu verstehen unter welchen Bedingungen man damals aufwuchs, hier einige Textabschnitte (in Originalabschrift) aus einer medizinischen Zeitschrift (Journal) der damaligen Zeit [6]:
„Dem Zwillings - Kind des Tagelöhners Conrad Utzel dahier, ein Mädchen 21 Wochen alt (das Brüderchen starb 9 Tage nach der Geburt an allgemeiner Schwäche; die Kinder wurden nach Aussage der Mutter, die schon einmal Zwillinge, und zwar auch zu früh geboren hatte, von denen auch das eine starb), 6 Wochen zu früh geboren, ohne dass die Frau eine Ursache hiervon hätte angeben können, war sehr klein und schwach, so zwar, dass man schon gleich nach der Geburt durchaus an dem Aufkommen desselben verzweifelte.“
„Patientin hat noch 4 Kinder am Leben, eben so viele starben in der Jugend, der jüngste noch lebende Sohn ist 32 Jahr alt; sie verlor im 52sten Jahre ihre Menstruation und war weder vor der Cessation der Catamenien, die im 69sten Jahre mehrmals doch unregelmässig wieder erschien, noch nachher bedeutend krank, hatte auch nie über andere Beschwerden geklagt, als über Neigung zu Obstruktionen, wogegen sie abführende Pillen zu nehmen gewohnt war.“
„Der Kreisphysikus Dr. Comes wurde von seinem Kreiswundarzte gebeten, ihm bei einer schweren Zangengeburt beizustehn; beide mit der Hebamme und mehreren Umstehenden hörten das Kind in der Zange während einer Viertelstunde ungefähr sechsmal laut weinen. Mutter und Kind blieben gesund. (1833)“
„Brown 1824 berichtet von einem Kinde, dem 206 Spulwürmer abgegangen waren und welches starb. Bei der Section fand man noch 17 im Darmcanal.“
„Ulrich 1826 zu Coblenz berichtet von einem 12jährigen scrofulösen Mädchen, die in 4 Wochen 900 Stück Spulwürmer durch den Stuhl ausgeleert habe.“
„Die Ehefrau des Friedrich Becker zu Veckerhagen kam mit ihrer 5 Jahr alten Tochter Karoline zu mir, um gegen die vor 5 Wochen begonnene, sich immer mehr verschlimmernde Krankheit derselben, bei mir Hülfe zu suchen. Ein alter Empiriker hatte das Uebel anfänglich für ein Nervenfieber erklärt und dagegen einige Arzneien verabreicht. Als diese keine wohlthätige Wirkung thaten, hielt er das Uebel für Erkältung und gab wahrscheinlich Schweiss treibende Mittel dagegen. Doch auch diese hatten keinen günstigen Erfolg. Desshalb gingen die Eltern nicht weiter zu ihm, und gaben dem Kinde, auf den Rath anderer Leute, Wurmmittel, durch welche auch einige Würmer abgetrieben wurden; ohne dass jedoch- der Gang der Krankheit dadurch gebessert wurde. Denn es stellte sich bald darauf ein Durchfall ein und gegen die 5te Woche der Krankheit Erbrechen. Der Durchfall hielt Tag und Nacht an. Das Erbrechen erfolgte, so oft das Kind etwas zu sich nahm, besonders nach dem Genusse von Kaffee. Das Aussehen des Kindes war blass, das Angesicht eingefallen, der ganze Körper abgezehrt; um die Augen zogen sich blaue Kreise. Der Bauch war hart und gespannt. Das Kind hatte Schmerz am ganzen Körper, doch vorzüglich im Unterleibe, in den Armen und Beinen. Dazu gesellte sich ein schlafsüchtiger Zustand und eine solche Unempfindlichkeit, dass das Kind die Fliegen, welche sich auf das Angesicht setzten, ruhig sitzen liess. Die Schmerzen waren des Abends am stärksten. Meine Heilbemühungen begannen mit zwei Clystiren aus einem Aufgusse von Chamillenblumen, worin Stärkemehl aufgelöst worden war. Schon hiernach verminderte sich der Durchfall. Einige Pulver aus gleichen Theilen Ipecacuanha, Calomel und Opium wurden dem Kinde schwer beigebracht, und wenn sie ihm auch glücklich beigebracht worden waren, wieder weg gebrochen. Zum Getränk wurde ihm Haferschleim gereicht; welcher gewöhnlich bei ihm blieb. … Aber das Erbrechen wollte sich noch nicht verlieren. Auch wurden einige Mal sehr lange, dicke Spuhlwürmer ausgebrochen. Dessen ungeachtet liess das Erbrechen noch nicht ganz nach, obwohl das Kind wieder munterer und zugleich unartiger wurde. Beiläufig erzählte mir die Mutter, dass sie dem Töchterchen während dieser Krankheit zuweilen einen Theelöffel voll Branntwein gegeben hätte, wonach es sich alle Mal etwas besser befunden habe. Jetzt verlange es wieder nach Branntwein, indem es unaufhörlich spräche, ob sie noch keinen Branntwein geholt hätte. Ich rieth ihr, ohne Bedenken dem Verlangen des Kindes Genüge zu leisten, um so mehr, als man ihm keine Arzneien beibringen konnte, und liess ihm alle zwei Stunden einen Theelöffel voll geben. … Nach der Zeit erholte es sich über die Massen, bekam wieder runde Glieder und volle Backen, und lebt noch.“
Echte nutzbare Erkenntnisse zu Medizin und Hygiene gab es erst ab dem 18. Jahrhundert. Zu jener Zeit wurde noch in Ärzte und Wundärzte (Chirurgen) unterschieden. Ärzte hatten ein Uni-Studium zu absolvieren, Wundärzte hingegen wurden handwerklich ausgebildet; Barbier (heute Friseur), Bader (heute Bademeister). Wusste der eine theoretisch Bescheid, so legte der andere Hand an und flickte Verwundete, riss Zähne oder kümmerte sich um Aderlässe. Grund für diese Trennung um 1200 war die klerikale Angehörigkeit vieler Ärzte. Diese hatten moralische Bedenken, da chirurgische Eingriffe oft tödlich endeten und es galt das Verbot chirurgischer Praktiken für Ärzte. So kam es, dass bei einem operativen Eingriff der Arzt die Aufsicht hatte und der Chirurg auf dessen Anweisung den Eingriff vornahm. Auch Impfungen wurden zunächst fast ausschließlich von Wundärzten vorgenommen. Diese konnten sich hierdurch ein gutes Zubrot verdienen.
Die wesentlichen Errungenschaften in Zusammenhang mit Infektionskrankheiten lassen sich chronologisch wie folgt skizzieren: 1663 erste intravenöse Injektion, 1721 erste öffentliche Inokulation in England (Pocken), 1774 erste kontrollierte Vergleichsstudie (Skorbut und Zitrusfrüchte), 1796 erste Impfung mit Nachweis der Wirksamkeit, 1800 Aufkommen des Hygienebewusstseins, 1842 Hygiene (Kanalisation New York), 1854 Entdeckung Cholera-Erreger, 1861 medizinische Hygiene (Prophylaxe des Kindbettfiebers), 1879 erster gezielt hergestellter Totimpfstoff (Cholera), 1893 Entdeckung Penicillin (Wert blieb unerkannt, wiederentdeckt 1928, erste Behandlung 1941), 1897 erste hergestellte Arzneimittelsubstanz (Acetylsalicylsäure, Aspirin), 1906 Entdeckung Pockenvirus, 1910 erstes Antibiotikum (Arsphenamin), 1927 Vitamin C, 1935 Sulfonamide gegen bakterielle Infektionen, 1941 erste Penicillin Behandlung, 1948 erster starker Entzündungshemmer (naturidentisches Cortison), 1953 DNS, 1956 Einwegspritze, 1957 Interferone, 1958 Erstes Glycopeptid-Antibiotikum, 1960 erstes Immunsuppressivum (Azathioprin), 1973 erster genetisch modifizierter Organismus (Bakterium), 1979 erstes antivirales Arzneimittel, 1980 Welt pockenfrei, erstes Medikament gegen die tropische Wurmerkrankung Bilharziose.
Die Auswirkungen von verbesserter Hygiene und hygienischen Verhältnissen, wie beispielsweise Kanalisationen, die zunehmend besser werdende medizinische Versorgung, das Wissen über Infektionskrankheiten, Schutzmaßnahmen, Impfungen, sowie die Entwicklung von Arzneimitteln hat die Bevölkerungsentwicklung nachhaltig beeinflusst. Auch hierzu kann man an den schwedischen Daten einiges ablesen, die nachfolgend kurz dargestellt werden. Hierbei ist anzumerken, dass die Entwicklung in anderen Ländern zwar ähnlich aber nicht zwangsläufig gleich war.
Zeitreihen sind nicht jedermanns Sache. Enthalten sie zudem Periodizitäten (regelmäßige zeitliche Wiederholungen), dann haben selbst Fachleute Schwierigkeiten diese vernünftig zu lesen. Aus Abbildung 3 kann man beispielsweise noch recht einfach ablesen, dass sich die Bevölkerung über einen Zeitraum von etwa 250 Jahren mehr als verfünffacht hat (1750 2 Millionen, 2017 10 Millionen). Dieses Wachstum zusammen mit der Geburts- und Sterberate zu beurteilen, ist schon wesentlich schwieriger. Man kann noch leicht erkennen, dass die Sterberate vor 1850 sehr variabel war mit sporadischen Ausreißern nach oben. Hernach beginnt sie abzunehmen und verliert gleichzeitig auch an Variabilität. Die Geburtsrate war bis 1875 mehr oder weniger gleichbleibend, war zwar ebenfalls variabel aber anders.
Abbildung 3: Die Bevölkerungsentwicklung Schwedens von 1750 bis 2017 mit Geburts- (rot) und Sterberate (grau) auf 1.000 Einwohner (Rohraten). Der Rückgang der Sterblichkeitsrate um etwa 30% zwischen 1750 und 1850 hat bei mehr oder weniger gleichbleibender Geburtenrate bereits zu einer Verdoppelung der Bevölkerung geführt. Einzelne Epidemien führten vor 1850 noch zu einer großen Anzahl an Todesfällen und waren hauptsächlich der Ruhr (Durchfall durch Bakterien), den Pocken und Typhusinfektionen (Bakterien der Gattung Salmonella Typhi) geschuldet. Datenquelle: Statistics Sweden.
Abbildung 4 ist für die Beurteilung hilfreicher. Sie zeigt die Geburten im Verhältnis zu den Todesfällen. Durch diesen relativen Vergleich kann man die Dynamik besser beurteilen, verliert jedoch die Orientierung am absoluten Niveau. Deshalb sind beide Darstellungen wichtig.
An der relativen Darstellung erkennt man, dass vor 1800 bei einer Epidemie (Ausbruch einer Infektionskrankheit, die weite Teile der Bevölkerung trifft) die Anzahl an Todesopfern in einem Jahr oft größer als jene der Geburten war (Zacken nach unten). In solchen Jahren wurde die Bevölkerung somit deutlich dezimiert. Das wohl schlimmste Jahr für Schweden (seit den Aufzeichnungen) muss das Jahr 1773 gewesen sein. Die Ruhr hatte bereits seit 1772 gewütet und zu den Todesfällen aus diesem Jahr kamen dann 1773 nochmals über 105.000 hinzu, sodass schlussendlich mehr als 70.000 Personen fehlten (Geburten mit eingerechnet). Stockholm hatte um diese Zeit ebenfalls ca. 70.000 Einwohner. Daran erkennt man die Tragweite von Infektionskrankheiten. Schweden wurde oft von Pocken, der Ruhr (Dysenterie) und Typhus heimgesucht, sodass der Bevölkerungszuwachs zwar positiv aber rückläufig war. Dieser Zeitraum wurde in der Abbildung - zur besseren Sichtbarkeit - rötlich hinterlegt.
Abbildung 4: Verhältnis der Geburten zu Todesfällen (orange) mit Glättung (rot) und Rauschen aus Wavelet-Analyse (grau). Die einzelnen Buchstaben bezeichnen die jeweiligen Epidemien: C Cholera, D Diphterie, I Influenza, M Masern, P Pocken, R Ruhr, T Typhus. Gibt es in einem Jahr gleich viele Geburten wie Todesfälle, so beträgt das Verhältnis 1 (blaue Linie). Liegt das Verhältnis darunter, so überwiegen die Todesfälle und umgekehrt. Datenquelle: Statistics Sweden und [3].
Typhus und Ruhr-Ausbrüche sind Zeichen mangelnder Hygiene und schlechter Trinkwasserqualität und das Auftreten dieser Erkrankungen hat sich nach 1810 deutlich reduziert. Auch die Pocken traten zunächst nur mehr vereinzelt auf, da man in Schweden bereits früh mit der Pockenimpfung begann (1801, verpflichtend ab 1816). Die Inokulation hingegen - Vorstufe der Impfung im 18. Jahrhundert, auf die später noch genauer eingegangen werden wird - wurde in Schweden erst seit 1766 praktiziert und sehr zögerlich eingeführt, sodass den Pocken hierdurch kaum Einhalt geboten werden konnte (Ausbrüche 1779, 1784, 1795, 1800).
Der grünlich hinterlegte Bereich zeigt einen Abschnitt verstärkten Wachstums. Zudem nimmt die Variabilität langsam ab (erkennbar auch am Rauschen im Bild unten). Nahrungsangebot und die hygienischen Verhältnisse bessern sich, sodass Ruhr und Typhus kaum mehr auftreten. Cholera, die in Europa erst ab 1830 überhaupt vermehrt auftrat, wurde in Schweden ab Mitte des 19. Jahrhunderts bemerkbar. Erst durch den Bau von Kanalisationen ab 1860 (neu errichtete Siedlungen, Sanierung Altbestände) konnte ihr dann Einhalt geboten werden.
Der zunehmende Kinderreichtum und die dichtere Besiedelung führten nun aber vermehrt zum gehäuften Auftreten von Kinderkrankheiten wie Masern, Mumps, Keuchhusten, Scharlach oder Diphterie (Tabelle 1). Die Windpocken gab es damals ebenfalls, wurden aber oft für Pocken oder Masern gehalten und zwischen Röteln und Masern wurde grundsätzlich noch nicht unterschieden. Die Poliomyelitis hingegen gab es in dieser Zeit noch nicht.
Tabelle 1: Schweden: Erkrankungs- und Todesfälle ausgewählter Jahre zwischen 1861 bis 1870, sortiert nach Letalität. Masern und Mumps galten zu jener Zeit als unproblematisch. Sie traten zwar gehäuft auf, waren aber aufgrund der niedrigen Letalität (Sterblichkeit an der Erkrankung) kaum gefürchtet. Quelle: Sveriges Officiella Statistik. Hälso- och sjukvården 1870.
Ab 1830 kam es wiederum zu Häufungen von Pockenfällen und man erkannte, dass eine Impfung keinen lebenslangen Schutz gewährt, sodass eine Zweitimpfung nötig wurde. Dies war einer der ersten Rückschläge der staatlichen Impfpflichten, da das ursprüngliche Versprechen eines lebenslangen Schutzes, somit nicht mehr haltbar war.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts, änderten sich die Lebensverhältnisse gänzlich. Die zunehmende Industrialisierung, Urbanisierung, Reduktion der Krankheitslast und die gesteigerten Einkommen förderten ein neues Bewusstsein, das jedoch durch zwei Kriege je unterbrochen wurde. Man kann aber bereits ab 1925 einen Übergang in eine neue Art von Bevölkerungswachstum erkennen (orange hinterlegt, Abbildung 4). War früher hauptsächlich das Nahrungsangebot und das Auftreten von Erkrankungen bestimmender Faktor für das Bevölkerungswachstum, so sind dies nun hauptsächlich wirtschaftliche und gesellschaftliche Faktoren. Die Babyboomer-Jahre der 50er, 60er, aber auch der 90er und 2010er zeugen davon und das Rauschen im Bild (grau) ist ab den 70ern kaum mehr feststellbar. Die periodischen Schwankungen folgen somit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren und werden kaum mehr durch das zufällige Auftreten von Krankheiten beeinflusst.
Abgesehen davon, dass man aus Verlaufsdaten einiges abgelesen kann, gibt es noch einen wichtigen Punkt. Es wird hier eine Bevölkerung beurteilt. Das Individuum spielt dabei nur insofern eine Rolle, als dass es Teil von einem Ganzen ist. Ob in einem Jahr nun 59.325 oder 59.237 Todesfälle gezählt werden (0,1% Unterschied), spielt absolut keine Rolle. Für den Einzelfall hingegen macht dies sehr wohl etwas aus, denn man könnte ja einer dieser Todesfälle gewesen sein. Es hängt also immer davon ab, aus welcher Perspektive man Dinge betrachtet und für wen Aussagen gelten sollen. Dieser Sachverhalt wird später, bei der Darstellung der Impfdebatte, nochmals aufgegriffen.
2.1. Ursprünge der Impfung
Dass man eine Pockenerkrankung durch Einritzen von Material aus den Pockenpusteln oder Einsaugen/Einschnupfen von Pockenschorf in die Nase in abgeschwächter Form vorwegnehmen kann, war laut Überlieferungen bereits in China bekannt (Song Dynastie 590 n.Chr.) [7], [35]. Die erste genauere medizinische Beschreibung der Pocken findet sich in einer persischen Schrift von Rhazes um 900 n.Chr. Wann und wie die Pocken aus Asien über den Orient nach Europa eingeschleppt wurden, ist nicht genau bekannt. Erste Berichte, die eindeutig auf die Pocken schließen lassen, gibt es ab dem frühen Mittelalter und was die Pocken alles anrichten können, sah man bereits an den Ausbrüchen in Amerika mit bis zu 8 Millionen Todesfällen 1519/1520 in Mexiko. Die ersten Pockenstatistiken wurden in Genf 1580 und London 1610 angelegt [7]. Um diese Zeit begann in Europa die flächendeckende Verbreitung der Pocken, gewannen an Intensität und wurden in den Folgejahren zunehmend zu einem Problem.
Man wusste damals noch nichts von Viren, stellte nur fest, dass die Erkrankung von Zeit zu Zeit gehäuft auftrat (je nach Besiedelungsdichte alle 5-20 Jahre), dass es schwere und mildere Verläufe gab und dass man - einmal erkrankt - nicht ein zweites Mal daran erkranken würde. Heute wissen wir, dass in Europa zwei Arten von Menschenpocken auftraten. Die gefährlicheren wurden vom Virus Variola major (echte Pocken) verursacht (Sterblichkeitsrate 10%-50% je nach Stamm). Weniger gefährlich war das Virus Variola minor, auch weiße Pocken genannt, mit einer Letalität um die 1% bis 5%.
Betroffen waren alle Gesellschaftsschichten und es gab bald auch Erkrankungen und Todesfälle unter berühmten Persönlichkeiten. Erwähnt seien lediglich die Erkrankungen von Mozart, Goethe, Kaiserin Maria Theresia und die Todesfälle von Edward VI (1553), Zar Peter II (1730) und Ludwig XV (1774). Da oft ganze Thronfolgen durch Erkrankungsfälle zunichte gemacht wurden, waren die Pocken unter Adeligen besonders gefürchtet. Zudem wurde so manches Gesicht durch Pockenarben entstellt, was bei Frauen am Hofe - aber auch sonst - nicht gerade gut ankam.
Der erste genaue Bericht über die Vorgangsweise bei der Inokulation wurde 1714 vom griechischen Arzt Timoni, der in Oxford ausgebildet wurde, publiziert („An Account or History of the Procuring the SmallPox by Incision, or Inoculation; as it has for some time been practised at Constantinople"). Er zeigte darin auf, wie in Konstantinopel bereits seit einiger Zeit Menschen mit Pocken inokuliert wurden. In einer Übersetzung ist zu lesen [7]: „Man nehme flüssigen Blatternstoff von einem Falle diskreter Pocken, mische diesen mit dem Blute einiger leichter Stichwunden, die mit einer dreikantigen chirurgischen Nadel am Ober- oder Vorderarm angelegt würden, und bände zum Schutz eine Walnussschale über die Operationsstelle. Es folge dann eine sehr leichte Erkrankung, bei der die Inokulierten sich kaum unwohl befänden.“
Erstaunlich ist, dass diese Inokulation nur eine leichte Erkrankung auslöste, denn wie man später an Masern mit dem gleichen Verfahren testete, kam es dort immer zur vollen Erkrankung. Offenbar lief bei den Pocken die Vermehrung des Virus bei Inokulation verlangsamt ab, sodass das Immunsystem ausreichend Zeit fand, um gegen dieses vorzugehen.
Weitere Detailberichte folgten (1715 Arzt Peter Kennedy Schottland, 1716 Arzt Pylarini Venedig), wurden lebhaft in London diskutiert und die Frau des britischen Botschafters Lady Mary Wortley Montagu ließ 1718 in Konstantinopel, unter Beobachtung des Wundarztes Maitland, ihren Sohn mit Erfolg inokulieren. Nach ihrer Rückkehr nach London wurde 1721 ihre Tochter dann durch Maitland selbst inokuliert. Der Erfolg erweckte das Interesse der Prinzessin von Wales, die zuvor ihre Tochter durch die Pocken verloren hatte. König Georg I. ordnete deshalb weitere Versuche an (7 zum Tode verurteilte Personen, 11 Waisenkinder und einige weitere Personen), die alle ohne Schaden verliefen, sodass 1722 der königliche Leibarzt Sloane die Enkelinnen des Königs und die beiden Prinzessinnen Amalia und Carolina durch einen Wundarzt inokulieren ließ. Der günstige Verlauf ermutigte in Folge zahlreiche weitere Adelsfamilien zur Inokulation. Dies führte aber bald darauf zu den ersten Opfern. Der 2-Jährige Sohn des Earl of Sunderland und der 19-Jährige Diener des Lord Bathurst verstarben beide kurz nach der Inokulation, sodass auch Vorbehalte aufkamen und die Verbreitung der Methode nur langsam vorankam (bis 1729 vermutlich um die 900 Inokulationen in England).
Das Interesse für die Inokulation war aber nach wie vor ungebrochen und schon bald war das Lager in Befürworter und Gegner aufgespalten.
Damit begann die nun schon seit 300 Jahren anhaltende Impfdebatte.
2.2. Ursprung der Impfdebatte
Impfungen und die Debatte darüber sind untrennbar miteinander verbunden. Es gilt sicherzustellen, dass Impfungen wirksam und sicher sind, sodass sie allgemein empfohlen werden können. Zudem ist auch die Dauer des Impfschutzes von Belang.
Historisches kann nur als Abbild wiedergegeben werden. Wie bei einem Portrait darf es schon mal etwas schöner eingefärbt sein als es eigentlich war. Will man aber genauer verstehen, wie sich die Dinge zugetragen haben, dann muss man schon mal den Lack etwas abkratzen. Vieles, das in diesem Kapitel vorgebracht wird, kann in noch mehr Details in der Dissertation von Heiko Pollmeier „Die französische Debatte über die Einführung der Blatterninokulation (1754-1774)“ [35] nachgelesen werden.
Wir schreiben das Jahr 1722 und befinden uns in der Zeit der Aufklärung und es gab in Europa einen Krieg nach dem anderen. Bis zur Französische Revolution 1789 ist es noch etwas hin und in Europa hatte die Kirche, sowie Ludwig XV. (Frankreich), - der Sonnenkönig (XIV.) war kurz zuvor verstorben -, Georg I. (ein Deutscher in England), Karl VI. (röm.-dt. Kaiser und Erzherzog von Österreich) nach dessen Tod Maria Theresia um Österreich stritt, Peter I. („der Große“, Russland) wurde bald darauf von Katharina II. der noch größeren getoppt, Philipp V. (Spanien, der sich gegen die Habsburger durchsetzte), Maximilian II. (Bayern) und Friedrich Wilhelm I. („Soldatenkönig“, Preußen) das Sagen.
Der Begriff Wissenschaftler ist noch nicht so richtig in Verwendung, „scientist“ kommt erst ca. 100 Jahre später in Gebrauch, und man nennt diese Leute eher Gelehrte oder eben Mathematiker, Physiker oder Arzt. Da man vom Rechnen und Nachdenken nicht leben kann, bemühte man sich um einen Lehrstuhl oder war auf Mäzene angewiesen und einige europäische Königshäuser, vor allem Preußen und Russland, hielten sich eine Vielzahl von Wissenschaftlern an ihren Höfen bzw. Landesuniversitäten. Der Konkurrenzkampf war groß, der Neid an der Tagesordnung und man diskutierte nicht, sondern führte Debatten und Dispute. Es galt noch viel zu entdecken. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung war erst vor kurzem geboren, die Kombinatorik versuchte sich nun auch außerhalb des Glücksspiels zu etablieren und die schließende Statistik (Aussagen über Grundgesamtheiten) war noch nicht in Sicht.
Die ersten erfolgreichen Inokulationen in England führten zu einer kurz anhaltenden Euphorie unter dem Hochadel, sodass sich dort viele inokulieren ließen. Nach den ersten Todesfällen kam es aber bald zur Auseinandersetzung und es folgten in rascher Abfolge diverse Abhandlungen für oder gegen das Inokulieren. Wie sich letztendlich herausstellte, und dies muss nicht der Wahrheit entsprechen, wird aber so wiedergegeben, waren die ersten Todesfälle anderen Ursachen geschuldet.
Maitland, Wundarzt und deshalb im Rang niedriger als Ärzte, sah sich veranlasst für die Inokulation einzutreten, denn er befürchtete, dass durch falsche Informationen diese zu Unrecht in Ungnade fallen könnte und berichtete ausführlich über 40 von ihm erfolgreich durchgeführte Inokulationen. Auch von amerikanischer Seite gab es Unterstützung. Inokulationen in britischen Kolonien an Siedlern und Sklaven waren durchaus erfolgreich und es galt die Prämisse „sicher und nützlich“, sowie „rechtmäßige Praxis“. Besonders Ärzte und Theologen leisteten jedoch Widerstand.
Man erkannte, dass Inokulierte anderen gegenüber ansteckend sind, fürchtete die Einführung einer unerprobten Methode und kritisierte die Unvereinbarkeit der Inokulation mit dem göttlichen Plan. Einige Ärzte begannen ganz offen Inokulationen zu diffamieren, bezeichneten sie als Mode und stritten deren Wirksamkeit ab. Die freiwillige Gefährdung des eigenen unversehrten Körpers für die Abwendung einer Erkrankung, die manchmal erst Jahre später, wenn überhaupt, auftreten kann, war das gewichtigste Gegenargument. Klarerweise gab es auch damals schon Fake-News. So wurde beispielweise behauptet, dass es den ersten beiden inokulierten Prinzessinnen nach der Inokulation gesundheitlich wesentlich schlechter ging als zuvor und die englische Presse veröffentlichte mit Sensationsgier jeden nach Inokulation aufgetretenen Todesfall. Zunehmend kam auch Kritik an den inokulierenden Wundärzten auf. Oft würde das Geschäft eher geschätzt als die Sorgfalt und auch die Befürworter konnten der aufkommenden Geschäftemacherei nichts Gutes abgewinnen.
Die Debatte verschärfte sich zunehmend und Mathematiker wie Ärzte steuerten erste Berechnungen zur Letalität (Sterblichkeit Erkrankter) der Pocken bei, die zunächst auf 9% bis 10% und später von der Royal Society, mit eigens landesweit gesammelten Daten, dann auf 18% beziffert wurde, wohingegen man für die Inokulation eine Sterblichkeit von 1% ermittelte. Auch wurden erstmals Raten miteinander verglichen und der Begriff Risiko mathematisch gefasst. So wurde das Risiko an Pocken zu versterben ohne Inokulation als 10-mal höher angegeben. Auch wenn die Datenerhebung 1727 eingestellt wurde, fanden diese Daten 30 Jahre später in Frankreich noch immer Verwendung.
Um es vorweg zu nehmen: Die Inokulation war problematisch und sie verbreitete sich in Europa nur allmählich (Italien und Frankreich um 1750, Schweden um 1760, Deutschland/Österreich und Russland um 1770). Zeitweise gab es auch Inokulationsverbote wie beispielsweise 1763 in Paris, da bei einem Pockenausbruch im Winter 1762/63 nicht klar war, ob diese auf die Inokulation zurück ging.
Auch wenn in Frankreich kaum inokuliert wurde, so wurde umso mehr darüber gestritten. Befürworter der Inokulation hatten vielfach in England darüber erfahren und diese miterlebt, waren oft selbst als Kind oder Erwachsener erkrankt und hatten so am eigenen Leibe erfahren, was die Pocken bedeuteten.
Sie waren der Meinung, man dürfe sich dem medizinischen Fortschritt nicht verschließen und versuchten fast schon missionsartig den Inokulationsgedanken zu verbreiten. Zu diesen zählten Persönlichkeiten wie Voltaire, bedeutender französischer Philosoph und Wegbereiter der französischen Revolution, sowie Diderot, Herausgeber der französischen Encyclopédie, eine der ersten Enzyklopädien im heutigen Sinne und Hauptwerk der Aufklärung. Im deutschen Sprachraum kam diese Rolle Goethe zuteil und in Österreich war es Maria Theresia, die sich für die Inokulation stark machte. Größte Gegner waren zum einen hochrangige Ärzte, wie der Dekan der medizinischen Fakultät in Paris, Theologen und ganz normale Bürger, die in der Inokulation vor allem die Gefahren sahen. Einer der Höhepunkte der Inokulationsdebatte war wohl der Disput zwischen Daniel Bernoulli (schweizer Mathematiker/Physiker und studierter Arzt) und d’Alembert (französischer Mathematiker/Physiker und Mitherausgeber genannter Encyclopédie).
Bernoulli und d’Alembert lagen im Wettstreit miteinander. Beide galten als herausragende Mathematiker und beide waren mit der Lösung der Wellengleichung schwingender Saiten befasst. Es war d’Alembert, der als Erster (1747) die Lösung in Form von Differentialgleichungen fand und somit schneller als Bernoulli war. Dies ist hier inhaltlich wenig von Bedeutung, macht aber die später zwischen den beiden sehr hart geführte Debatte verständlicher, als dass sich Bernoulli als Impfbefürworter diesmal bei den Gewinnern sah.
2.2.1. Der Disput zwischen Bernoulli und d’Alembert (1760 – 1766)
Die Franzosen verfügten zwar über keine Daten, holten sich diese aber von den Engländern, und gar einige Mathematiker versuchten sich an der Berechnung der Pockensterblichkeit in Abhängigkeit von der Inokulation. Bernoulli präsentierte als Erster eine Lösung (1760) und er ermittelte für nicht Inokulierte ein um 25-mal höheres Sterberisiko als für jene, die sich inokulieren ließen (Sterberisiko durch Inokulation 1 auf 200). Hiermit verbunden war ein Zugewinn von 2 Jahren und 2 Monate an durchschnittlicher Lebenszeit unter Berücksichtigung anderer Todesursachen, alles jeweils berechnet ab Geburt. Sein Modell (Kompartiment Modell mittels Differentialgleichungen aufgelöst) war gänzlich neu und dieses wird heute noch in der Pharmakokinetik verwendet. Bernoulli sah in seinen Ergebnissen die Bestätigung, dass eine Inokulation nicht nur für den Einzelnen gut sei, sondern vor allem auch für den Staat, da damit die damals niedrige Lebenserwartung von ca. 27 Jahren auf etwa 30 erhöht werden könnte. Die Aufklärung änderte nicht nur den Stellenwert des Einzelnen, sondern Staaten erkannten zunehmend den Wert von Humanressourcen und die Befürworter der Inokulation waren regelrecht begeistert. Aus Bernoullis Berechnungen folgte auch, dass es sowas wie eine Herdenimmunität geben müsste, d.h. dass durch die zunehmende Anzahl Immunisierter die Ausbreitung der Erkrankung eingedämmt werden kann. Der Gedanken an die Ausrottung einer Krankheit lag somit nahe. Bernoulli ging sogar so weit, als dass er zeigte, dass selbst unter Annahme einer hohen Opferzahl unter den Inokulierten (11% versterben an der Inokulation) der Vorteil dieser immer noch überwog und eine Inokulationspflicht deshalb gerechtfertigt sein könnte (Abbildung 5). Bernoulli begründete damit auch die Grundauslegung des heutigen Impfcredos.
Obwohl d’Alemebert der Inokulation gegenüber aufgeschlossen war, hegte er starke Zweifel und seine Replik ließ nicht lange auf sich warten. Bereits ein halbes Jahr später trug er seine Erkenntnisse vor und publizierte diese 1761. Bernoulli brauchte hierfür wesentlich länger, arbeitete auch d’Alemberts Kritik mit ein und sein Artikel erschien erst 1766. D‘Alembert war auch klar, welche Verantwortung er trug und er war darauf bedacht, dass seine Kritik an der Inokulation nicht von Gegnern missbraucht würde. Ihm lag also viel an einer Vernunftsdiskussion und er wollte sich nicht in den Glaubenskrieg hineinziehen lassen. Es war vermutlich auch die Rivalität zu Bernoulli, die ihn dazu veranlasste Bernoullis Lösung stark in Abrede zu stellen. Wir er selbst an der Wellgleichung gezeigt hatte, lassen sich physikalische Probleme mittels Differentialgleichungen lösen. Ein ähnlicher Ansatz zur Modellierung von Erkrankungen mag zwar mathematisch korrekt gefasst sein, anhand welcher Daten soll dies aber überprüfbar sein? Sein größter Kritikpunkt war deshalb die Güte der verwendeten Parameterwerte und er meinte ein Modell möge auch noch so ausgefeilt sein, wenn die Parameterwerte nicht stimmen, dann wären die Ergebnisse wertlos. Er schlug deshalb einen alternativen Ansatz vor, der wesentlich weniger Annahmen benötigte. Man würde diesen heute als nicht-parametrisches Verfahren bezeichnen, wie wir es in modernen Überlebenszeitanalysen ebenfalls wiederfinden.
Abbildung 5: Bernoullis Schätzung für den Zugewinn an Überlebenszeit, dargestellt an 1300 Geborenen. Die blaue Linie zeigt die Situation bei zirkulierenden Pocken. Von 1300 Geborenen würden im Alter von 25 Jahren noch 565 am Leben sein. Angenommen man würde die Pocken ausrotten (rote Linie), dann wären im Alter von 25 Jahren noch 644 und somit 79 Personen oder 14% mehr am Leben. Selbst unter der Annahme, dass an der Inokulation 11% versterben würden (graue Linie) und dies ist übertrieben hoch angesetzt, wäre schlussendlich immer noch ein Zugewinn von 8 Personen zu verzeichnen, da sich die Situation ab dem Alter von 15 Jahren zu Gunsten der Inokulation verschiebt.
D’Alembert kam ebenfalls zum Schluss, dass die Inokulation von Vorteil sei. Er setzte jedoch voraus, dass sie möglichst ungefährlich sein müsse, dass man lebenslang geschützt bliebe und dass keine andere Todesursache diesen Vorteil wieder wett machen könne. D’Alembert zog aus dieser Erkenntnis jedoch ganz andere Schlüsse als Bernoulli. Für ihn stand das persönliche Risiko im Vordergrund und er meinte: „Was, wenn ich dieser eine Geschädigte auf 200 Inokulierte bin?“. Für ihn war klar, jeder, der sich inokulieren lässt, hat seine Gründe hierfür gefunden. Dies kann die Angst vor der Erkrankung sein, der Schutz der eigenen Kinder oder der Wunsch die Schönheit zu erhalten (Frauen und Pockennarben). Umgekehrt kann er aber auch verstehen, dass man von der Inokulation Abstand nimmt, da man Angst hat sein Kind oder sein Leben zu verlieren, obwohl es sonst noch angehalten hätte. Man soll deshalb weder zur Inokulation aufrufen oder jemanden dazu drängen, noch davon abhalten und es müsse jedem selbst die Entscheidung überlassen werden. Kant drückte etwas ganz Ähnliches in einer Notiz zur Pockennot 40 Jahre später aus [36]: „Verdamnis all jenen die Jemanden in die eine oder andere Gefahr bringen, mit oder ohne Einwilligung, damit etwas Gutes herauskomme, das ohne diese Gefährdung nicht erreicht würde.“
D’Alembert ging in seiner Replik zu Bernoulli noch weiter. Bernoullis Berechnungen zeigten, dass selbst bei einer hohen Opferzahl durch die Inokulation auf lange Sicht mehr Personen überlebten. Die Inokulation musste hierfür einfach weniger letal als die Erkrankung selbst sein (Bernoulli nahm eine Letalität von 12,5% für Pocken an). Für d’Alembert war aber der Gedanke viele sofort zu opfern, um später davon zu profitieren nicht begründbar und somit unhaltbar. Wie soll sich jemand entscheiden können, wenn er nur die Möglichkeiten hat entweder gleich durch die Inokulation zu versterben oder später durch die Erkrankung selbst? Das lebensnahe Ereignis würde doch von jedem als riskanter beurteilt werden als das ferne Ereignis. Er war deshalb gänzlich dagegen, dass der Staat über die Interessen des Individuums hinweg entscheide. Ebenso wenig war er für die Einschränkung der Inokulation durch Staaten oder Fachkreise, da der mögliche Nutzen für alle durchaus gerechtfertigt sei. Er schlug eine Art Ehrenauszeichnung für Inokulations-Geschädigte vor, da sich diese ja auch für andere opferten. Seine Überlegungen stellte er an zahlreichen Beispielen dar und verwendete hierfür auch das von Bernoulli Jahre zuvor formulierte St.-Petersburg-Paradoxon. Dieses war ein heiß diskutiertes Problem der damaligen Zeit und es war damals Mode die Wahrscheinlichkeitsrechnung für alle möglichen Belange heranzuziehen. Für eine Lösung gab es teilweise hohe Preisgelder, denn man war gerade dabei genauer zu verstehen, was es mit Wahrscheinlichkeiten so auf sich hatte. Beim St.-Petersburg-Paradoxon ging es nicht um die eigentliche Lösung, sondern vielmehr um die Erkenntnisse, die man daraus zu ziehen hätte. Das Paradoxon bestand darin, dass man nicht abschätzen konnte wie groß die Risikobereitschaft war an einem Glücksspiel teilzunehmen, bei dem ein unendlich hoher Gewinn wie auch Verlust zu erwarten war. Bei dem Spiel wird eine Münze geworfen. Kommt Kopf im ersten Wurf erhält man 2 Euro. Kommt Kopf erst beim Zweiten, dann erhält man 4, beim Dritten 8 Euro usw. und so fort. Die Frage war nun, welchen Einsatz man bereit wäre pro Wurf für so ein Spiel zu bezahlen? Zumal der erwartete Gewinn ja unendlich groß ist, müsste eigentlich jeder Einsatz passen. Kein Mensch würde aber mehr als ein paar Euro dafür ausgeben wollen, da die Chance auf einen unendlichen großen Gewinn ja unendlich klein ist. D’Alembert wollte damit aufzeigen, dass nicht alles mathematisch Fassbare auch eine Umsetzung findet und darauf hinweisen, dass Bernoullis Modell zwar schön sein mag, aber nicht zwingend praktikabel sein muss.
Die Reaktionen auf d’Alemberts Vortrag und Artikel waren zweierlei. In medizinischen und theologischen Kreisen fand er große Anerkennung. Auch aus dem Ausland bekamen seine Aussagen viel Zuspruch und Übersetzungen seiner Artikel wurden europaweit publiziert. Von den französischen Impfbefürwortern hingegen hagelte es heftige Kritik. Bernoulli, der von Diderot unterstützt wurde, fühlte sich zudem persönlich angegriffen und der Streit sollte noch zahlreiche Jahre anhalten. Dieser führte zudem auch zum Bruch zwischen d’Alembert und Diderot, der ihm Ignoranz unterstellte. Auch andere Befürworter sahen in d‘Alemberts Aussagen einen Verrat an der Sache und befürchteten, dass diese als Dolchstoß gegen die Inokulation anzusehen wären. D’Alembert hatte also in ein Wespennest gestochen und es zeigte sich bereits damals, dass ein Vernunftansatz kaum umsetzbar war.
Wie verfahren alles war, kann man auch an der lang anhaltenden Debatte an der Pariser Fakultät für Medizin zur Inokulation ablesen. Diese war 1763 - nach dem Inokulationsverbot in Paris - vom Parlament aufgefordert worden die Risiken der Inokulation zu beurteilen und das Verbot zu bewerten. Selbst nach einem Jahr war keine Lösung in Sicht. Fast jede Abstimmung wurde verschoben, immer neue Beweise dafür und dagegen vorgebracht, sodass auch ohne Urteil aber Duldung der Fakultät, 1764 mit der Inokulation fortgefahren wurde. Die Diskussion riss damit nicht ab, wurde aber vom Faktischen überholt. Im Jahr 1774 verstarb König Ludwig der XV an den Pocken und sein Nachfolger Ludwig der XVI, verheiratet mit Marie Antoinette, Tochter von Kaiserin Maria Theresia und in der Kindheit bereits an den Pocken erkrankt, beschloss sich selbst und seine Brüder inokulieren zu lassen. Hiermit war nun auch ohne endgültige Entscheidung der medizinischen Fakultät klar geworden, dass man einfach selbst eine Entscheidung treffen muss. Sein Beispiel fand breite Nachahmer.
In der Zwischenzeit hatte sich die Einstellung zur Inokulation geändert und die Sicherheit der Verfahren deutlich verbessert. Die Ansteckung noch nicht Immunisierter durch Inokulierte war aber nach wie vor das größte Problem und man versuchte mit Vorschriften gegenzusteuern. Zudem waren noch immer ganz unterschiedliche Techniken in Verwendung, von denen man nicht sagen konnte, welche die beste war. Die Suttons in England warben mit einer vereinfachten und sicheren Inokulationstechnik. Der Inokulator Gatti in Italien tat ähnliches, der nur mehr mit einem getränkten Faden inokulierte und dies war jedoch, wie sich später zeigte, oft unwirksam. Geld spielte ebenfalls eine Rolle, denn das Inokulationsgeschäft konnte einträglich sein. Die Suttons gaben an von 1764-1766 an die 20.000 Personen inokuliert zu haben, was ihnen das Vermögen von 10.400 damalig Pfund einbrachte, also ca. 2 Pfund pro Inokulation [7]. Eine Familie hatte damals ein Monatseinkommen von 4 Pfund.
Mangelnde Hygiene, fehlende Schulung und Praxis, sowie die Übertragung anderer Infektionskrankheiten führten jedoch nach wie vor oft zu Komplikationen.
Wie Abbildung 6 zeigt, kann trotz Inokulation keine Abnahme der Pockentodesfälle in London festgestellt werden. Gemessen an der Gesamtbevölkerung war der Anteil der Inokulierten zwar klein, da sich viele diese einfach nicht leisten konnten. Man hätte aber, bei einer angenommenen hohen Wirksamkeit, eine - wenn auch kleine - Veränderung erwarten können. Die Ansteckung durch Inokulierte kann hier einer der entscheidenden Faktoren gewesen sein. Dass die Inokulation nicht ewig Bestand haben konnte, liegt auch daran, dass man immer Pockenkranke für das Inokulationsmaterial benötigte und dieses Problem wurde erst durch die Einführung der Impfung um 1796/1798 gelöst, indem man anstelle der menschlichen Pocken nun Pockenmaterial von Kühen verwendete. Deshalb auch der Namen Vakzination von Vacca gleich Kuh.
Die englische und französische Debatte wurde in ganz Europa mitverfolgt und zahlreiche Journale berichteten darüber und brachten Übersetzungen einzelner Artikel. Seitens der Befürworter wurde hauptsächlich der Nutzen betont und man führte prominente Testimonials ins Feld. Gegner hingegen dämonisierten und brachten Gerüchte in Umlauf. Die eigentlich wichtigen Fragen blieben dabei gerne auf der Strecke. Wie sicher ist das Verfahren? Welche Technik soll eingesetzt werden? Konnten auch andere Krankheiten übertragen werden? Wie lange hält der Schutz, und was kann man eigentlich empfehlen?
Abbildung 6: Entwicklung der Pockentodesfälle bezogen auf die Periode 1721-30, London 1721-1800. In der ersten Periode 1721-30 beginnt alles bei 1. Dies hat den Vorteil, dass man verschiedenen Größenordnungen und Einheiten gemeinsam beurteilen kann. Werte größer als 1 zeigen einen Anstieg verglichen mit der ersten Periode und sonst einen Abfall. Der Anteil der Pocken unter den Todesfällen (rot) stieg von 1741-1750 bis 1751-1760 deutlich an, da die Zahl der Pockentodesfälle zunahm, wohingegen die Gesamtzahl der Todesfälle abnahm, obwohl London zu dieser Zeit stark wuchs. Gründe hierfür lassen sich im Nachhinein kaum ermitteln. Vermutet wurde ein Anstieg der Letalität oder eine Zunahme der Pockenfälle durch Inokulierte.
Diese Diskussion erleben wir nun schon seit 300 Jahren und sie wird einmal heftiger und einmal weniger heftig geführt. Die Angst der Befürworter durch Diskussion möglicher Schäden nur Verunsicherung herbeizuführen, veranlasst diese, jegliche Kritik bereits im Keime zu ersticken, ob gerechtfertigt oder nicht, und weckt bei den Gegnern Misstrauen, das dann jene dazu veranlasst, ebenfalls angstgesteuert, mit allen Mitteln dagegen zu halten. All dies führt zu einer zunehmenden Polarisierung und Verhärtung der Fronten - ohne Aussicht auf Lösung.