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Ein Blick ins Eiserne Zeitalter

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Ob er ein glückloses Leben führte? Weil er die ledige Tochter ei nes Büchsenmachers geschwängert hatte, floh er aus dem lutherischen Nürnberg. In München konvertierte er zum katholischen Glauben, um seinem Handwerk nachgehen zu können. Immer wieder richtete er Bettelbriefe an den Hof, klagte Honorare ein, neue Aufträge, den Schutz des Landesherrn. Der Sohn blieb kinderlos, die Tochter unversorgt. Vom Erbe des vermögenden Stiefbruders bekam er nicht einen Kreuzer. Der Tod ereilte seine Gattin so rasch, dass nicht einmal Zeit für die Sakramente blieb. Er ließ sie auf dem Friedhof bei St. Stephan außerhalb der Stadtmauern begraben, dort, wo er selbst 21 Jahre später, 1718, zur letzten Ruhe gebettet werden sollte. Er starb verarmt, beinahe erblindet, und ausweislich eines von ihm zwei Jahre zuvor verfassten Schreibens in tiefer Verbitterung. Mit „herzenlaid“ habe er ansehen müssen, wie ihn sein Lebenswerk in den Ruin getrieben habe. Über 6000 Gulden habe er dadurch verloren, „brodloß“ sei er geworden und habe manches Mal „schier krepieren“ müssen.1

Ob Michael Wening ein glückloses Leben führte? Die arg verwitterte biografische Spur, die aus einigen Briefen, Protokollen und Matrikelbüchern herauszulesen ist, erlaubt keine eindeutige Antwort. Und wer würde sie schon haben wollen? Nach dem Glück der Büchsenmacherstochter fragt schließlich auch niemand. Catharina Recknagel hieß sie. Der Rat der Stadt Nürnberg hatte die Schwangere mit der „Unzuchtstraff“ belegt und wollte ihr die Weibereisen (also die Haft im Frauengefängnis der Stadt) nur dann ersparen, wenn es ihr gelänge, den flüchtigen Kindsvater aufzutreiben. Das gelang ihr nicht. Sie brachte eine Tochter, Regina, zur Welt, die im Alter von fünf Jahren verstarb. So berichtet der Grabstein der Kindsmutter auf dem Nürnberger Rochusfriedhof. Die Recknaglin selbst verschied im hohen Alter. Unverheiratet.

Ob also der Kupferstecher Michael Wening, der bayerische Merian, wie er genannt wird, in seinen 72 Lebensjahren Glück fand oder selbiges verbreitete, tut nichts zur Sache. Er fertigte Kupferstiche an. Hunderte und Aberhunderte. In seine Platten ritzte er den Gekreuzigten, die Madonna, Engel, Heilige, Honoratioren, Bürger, Soldaten und einmal gar einen Elefanten. Seine Leidenschaft galt jedoch nicht der Figur, sondern dem Ort. Genauer: dem vom Menschen geschaffenen Ort, dem Bauwerk. Wening bildete Kirchen ab, Klöster, Residenzen, Schlösser, Bürgerhäuser, Manufakturen und einmal gar ein Zuchthaus. Er schuf Städteansichten, zeigte Marktplätze und Gartenanlagen.


Michael Wening; das einzige Porträt des bayerischen Kupferstechers fertigte sein Sohn Balthasar. Kupferstich von 1698

Sich selbst ließ Wening von seinem Sohn Balthasar abbilden, der in der Werkstatt seines Vaters arbeitete – und in dessen Schatten er blieb. Das Schriftband um das ovale Porträt (das einzige, das wir von Michael Wening kennen, und wohl auch das einzige, das je von ihm angefertigt wurde) vermerkt zwei Titel, die ihn als Mitarbeiter des Hofes ausweisen. Demnach durfte er sich Portier und Kupferstecher des Kurfürsten nennen. Das Amt eines Portiers, eines Türhüters also, mag kein sonderlich bedeutendes gewesen sein. Immerhin aber honorierte das Hofzahlamt die Tätigkeit mit neunzig Gulden im Jahr und genehmigte Wening jeden Tag zwei Brotlaibe und zwei Maß Bier; Gaben allerdings, die das Hofküchenamt schon mal über Monate verweigerte. Stolz wird Michael Wening auf den Titel des kurfürstlichen Kupferstechers gewesen sein, womit der Hof wohl auch den damaligen Erfolg des Künstlers würdigte.

Wenings Porträt entstand im Jahr 1698. Zwei Jahre zuvor hatte er den Kontrakt seines Lebens geschlossen. Kurfürst Max Emanuel hatte ihm den Auftrag erteilt, eine umfassende Landesbeschreibung zu erstellen und dafür die wichtigsten Orte und Bauwerke Kurbayerns in Kupferstichen zu erfassen. Dass er mit seiner Historico-Topographia Descriptio ein gewaltiges Werk schaffen würde, muss Wening, als er sich im Alter von 52 Jahren von seinem Sohn abbilden ließ, bewusst gewesen sein. Aber ahnte er damals schon, welche Bürde dieser Auftrag bedeutete? Bis zu seinem Lebensende sollte Wening an der Historico-Topographia arbeiten und leiden. Und mehr als einmal klagte er darüber, dass ihn dieses große, womöglich größenwahnsinnige Projekt finanziell überfordere.

Zweifel allerdings sind in den Gesichtszügen des Michael Wening nicht zu erkennen. Mit einer leichten Drehung nach rechts zeigt er sein volles, von schulterlangem, gelocktem Haar umrahmtes Gesicht. Die mächtige Nase, die schmalen Bartlinien über den Flügeln der Oberlippe und die amüsierten, leicht verrutschten Augen erzählen vom Stolz und der Gelassenheit eines Mannes, der annehmen durfte, sich ein Auskommen und einen Namen erarbeitet zu haben.

Denn darauf kam es an: sich einen Namen zu machen. Die Welt war eine Bühne, auf deren Brettern die Sterblichen zu spielen hatten, eingeengt von Standesgrenzen, bedrängt von Seuchen, Krieg und Armut, ausgeliefert dem Glauben und der Allmacht des Fürsten. Dass das Diesseits nur Tand und Nichtigkeiten bereithielt – dies war den Menschen des Zeitalters, das sie selbst das eiserne nannten und das viel später den Spottnamen Barock erhalten sollte, quälend bewusst. Trotzdem gierten sie nach diesem bedrohten, jämmerlichen Dasein.

Die Leidenschaften, Ängste und Wünsche jener Zeit sind kaum noch zu erahnen. Vielleicht lassen sie sich erspüren in den Predigten von Abraham a Sancta Clara, in den Versen von Andreas Gryphius und in den Geschichten von Grimmelshausen. Wer aber in diese entschwundene Welt hineinblicken will, der wird sie in den Bildwerken Wenings entdecken. Den Münchner Markt etwa, den heutigen Marienplatz, präsentiert der Kupferstecher als heiteres In- und Gegeneinander reich verzierter Häuserfronten. All die Arkaden, Giebel, Halbgiebel und Erker scheinen sich versammelt zu haben, um den zentralen Ort der Residenzstadt zu schmücken und zu feiern. Dabei kündet das wohl bekannteste Bild Wenings von einer Heiterkeit, die schon bald der Trauer weichen sollte.

Der Stich entstand um das Jahr 1700. Kurfürst Max Emanuel weilte seit Jahren nicht mehr in München, sondern residierte als Statthalter in Brüssel, der Hauptstadt der Spanischen Niederlande. Der Traum seines Lebens, für das Geschlecht der Wittelsbacher die Herrschaft über das spanische Reich zu erlangen, hatte sich bereits zerschlagen. Sein Sohn Joseph Ferdinand, durchaus ein Kandidat für den Königsthron in Madrid, war 1699 im Alter von sechs Jahren verstorben.


Der Münchner Markt; das Panorama von Michael Wening zeigt den zentralen Ort der bayerischen Residenzstadt, den heutigen Marienplatz. In der Bildmitte ist die Mariensäule zu sehen, rechts der Fischerbrunnen. Am unteren rechten Bildrand sind zwei Sänftenträger zu erkennen. Kupferstich, um 1700

Max Emanuel selbst zehrte zwar noch vom Ruhm, den er sich als junger Herrscher in den Kriegen gegen das Osmanische Reich erworben hatte. Doch seit Längerem spielte der Kurfürst – Frauen, Festlichkeiten und hohem Einsatz leidenschaftlich zugetan – die falschen Karten aus. Max Emanuel hatte sich vom Kaiser in Wien ab- und dem Sonnenkönig in Paris zugewandt. Für den Bourbonen Ludwig XIV. sollte er schließlich gegen den Habsburger in den Krieg ziehen. In Höchstädt verlor er 1704 die entscheidende Schlacht, flüchtete, wurde vom Kaiser verbannt und Bayern geriet unter jahrelange Besatzung. So tief wie Max Emanuel, so zumindest urteilt sein Biograf Lud wig Hüttl, sei kein anderer bayerischer Fürst gesunken.2

Zwar konnte Max Emanuel 1715 wieder in das Kurfürstentum zurückkehren. Doch das Land war ruiniert, über schuldet und geplündert. Der Wittelsbacher hatte seine Fähigkeiten über schätzt und die Kräfte Bayerns überspannt. Michael Wening ahnte davon nichts, als er den Münchner Marktplatz in seine Kupferplatte ritzte. Und doch ist es so gekommen. Der Betrachter weiß, dass die Szene, die jener Stich festhält, zu einem Bühnenstück mit düsterem Ausgang gehört.

Ob demnach die Patrizierhäuser, Gasthöfe und Weinschenken, all die stolzen Gebäude nur vom baldigen Untergang erzählen? Denn untergegangen sind sie. Vom Markt, den Wening gesehen und gezeichnet hatte, überdauerte einzig der Platz als solcher, der Raum zwischen den immer wieder neu errichteten Fassaden, und mittendrin die Mariensäule. Irgendwann im Lauf der Jahrhunderte brannten die Mauern nieder, wurden eingerissen oder durch Bomben zerstört. Jene von Wening gezeigten Häuser hatten, so scheint es, einfach kein Glück. Aber das tut nichts zur Sache. Nach dem Glück der namenlosen Gestalten, die der Kupferstecher auf dem Platz versammelte, fragt schließlich auch niemand.

Der betende Mann etwa vor der Mariensäule, nein, nicht der stehende und auch nicht der vor ihm, der in der Hocke verharrt, sondern der hintere, der auf die Knie gegangen ist, fleht vielleicht gerade um das Seelenheil seiner Frau, die der Pest zum Opfer gefallen sein könnte, einer Plage, von der berichtet wird, sie habe zwischen 1680 und 1685 in Bayern grassiert. Helmuth Stahleder, der große Chronist Münchens, würde an dieser Stelle allerdings Einspruch erheben. In den städtischen Urkunden, den Kammerrechnungen und Memorabilien, so schreibt er, finde sich keinerlei Beleg für eine Epidemie, die angeblich zu jener Zeit in der Stadt gewütet haben soll. Allenfalls habe man Vorbereitungen für einen befürchteten Ausbruch der Seuche getroffen. Dass die Pest, die „leidige Contagion“, damals tatsächlich nach München gekommen sei, werde von späteren Geschichtsschreibern nur behauptet.3

Gegen dieses Urteil hätte wohl der Geistliche Rat und Beneficiat Ernest Geiß ein Veto eingelegt. 1868 erwähnt er in seiner Geschichte der Stadtpfarrei St. Peter zwei zinnerne Provisur-Gefäße im Besitz der ältesten Münchner Kirche, deren Aufschriften an das Pestjahr 1685 erinnerten. Abgesehen davon jedoch und von einigen eher unklaren Dokumenten aus dem „Schacht der Akten“ von St. Peter sei kein „Andenken von dieser Krankheit“ vorhanden. „Die Wellen des Stromes der Zeit haben die Erinnerung an dieses Elend in das Meer der Vergessenheit geschwemmt.“4

Besagte Wellen rollten auch über Wenings „Markh zu München“, spülten die Menschen fort, die Pferde, Kutschen, Bierfässer und Getreidesäcke. Der Strom der Zeit drang in die Kellergewölbe und eroberte die Stockwerke all der stolzen und mächtigen Gebäude – des Landschaftshauses, der Ratstrinkstube, des Wurmecks, des Rosenecks, der Wirtshäuser Zum Staindl und Zum Damischen. Ja, selbst im Schönen Turm, zu dem, nach links oben im Bild, die Kaufinger Gasse führt, und in den behaubten Türmen der Pfarrkirche Zu Unserer Lieben Frau suchten die Wogen der Vergessenheit nach ihren Opfern. Alle sind sie untergegangen, die Marktfrauen, Händler, Bürger, Soldaten und Geistlichen. Wer etwa die beiden Delinquenten auf dem hölzernen Strafesel neben der Wachhütte gewesen sind und was sie ausgefressen hatten, vermag niemand zu sagen.

Nicht einmal, ob die Gestalten auf dem dargestellten Platz je existierten, oder ob sie lediglich dem Kupferstecher in den Kram und damit in sein Bild passten, lässt sich klären. Womöglich, nein, sehr wahrscheinlich wollte Wening den Platz nur mit Bewegung, Geschäftigkeit und Klatsch füllen. Die Figuren wären dann allenfalls Kulisse, Staffage. Wenn dem so ist, wenn all die Strichwesen tatsächlich nur aus Strichen bestehen und auf nichts Wirkliches deuten, erübrigt sich dann nicht jegliche Frage nach ihrem Schicksal? Wer würde behaupten, er könne Spuren von Leben oder Leid in diesen Strichen entdecken? Oder von Glück?

Da sind zum Beispiel unten am äußersten rechten Bildrand zwei Männer, die eine Sänfte anheben – einen Tragsessel, wie die Münchner damals auch sagten. Die beiden nehmen offenbar Anweisungen von einem Mann entgegen, der mit der linken Hand auf sie zeigt und mit der rechten einen Stab oder einen Degen hochhält, so als deute er in eine bestimmte Richtung. Der Degenmann, ausgestattet mit breitem Hut, Rock und Rüschenhemd, scheint der Vorgesetzte der Träger zu sein. Kaum aber ihr nächster Kunde. Denn die Sänfte ist bereits hochgehoben, gleich wird sie ihren Weg nehmen durch die kurfürstliche Stadt, zu einem Gasthof, einem Patrizierhaus, einem Kloster oder gar zur Residenz. Sechs Kreuzer verlangen die Träger, wenn sie den Kunden bis zur nächsten Gasse bringen. Liegt das Ziel weiter entfernt, etwa bei den Paulanern jenseits der Isar, im Gericht Au, kostet die Reise hin und zurück 24 Kreuzer. Wer den Sessel den ganzen Tag mieten will, muss einen Gulden bezahlen.

Die Instruktion für die Sänftenträger ist erhalten geblieben.5 Das Papier vom 26. Mai 1688 listet in dreißig Paragrafen die Rechte und Pflichten, hauptsächlich die Pflichten dieser kuriosen Berufsgruppe auf. Das Dokument ist einsehbar in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek. In mehreren Büchern über die Geschichte und Geschichten der Stadt fand die Ordnung der Sänftenträger ihren Platz. Wohl weil sie gar zu drollig ist, mit den Anweisungen zum Säubern der Sessel, den Essensvorschriften für die Träger (an Feiertagen sollten sie gute trächtige Speisen aus Mehl und Schmalz erhalten), der Trinkregel (zu jeder Mahlzeit eine halbe Maß Bier) und dem Strafregister (üblicherweise fünf bis sechs Hiebe).

Der eigentliche Grund aber, warum ein Münchner Anekdotenbuch auf die Sesselordnung von 1688 nicht verzichten kann, ist ein anderer: Die Sesselträger waren Türken, die Kurfürst Max Emanuel bei seinen Feldzügen gegen das Osmanische Reich erbeutet und in die Residenzstadt verschleppt hatte. In München arbeiteten sie als Sklaven in einer Tuchfabrik, legten Gräben an oder schleppten eben Sänften durch die Stadt. Die Anekdoten-Schreiber versäumen es nicht, darauf hinzuweisen, dass der große Kanal, der von Schleißheim zur Münchner Residenz führen sollte, nicht von den osmanischen Zwangsarbeitern angelegt worden sei, dass er dennoch im Volksmund „Türkengraben“ geheißen – und dass er der Türkenstraße ihren Namen gegeben habe.

Also gut: Damals lebten und arbeiteten in München ein paar Dutzend, nein, ein paar hundert Türken. Einige von ihnen trugen Sänften oder Sessel. Sie tranken Bier, bekamen an Feiertagen kräftige Speisen und, wenn sie in Zank gerieten, Schläge. Das ist alles. Die beiden von Wening ins Kupfer geritzten Träger bleiben Strichfiguren ohne Anrecht auf Glück oder Unglück. Um ihnen Leben einzuhauchen, müsste man schon mehr von ihnen wissen. Ihre Namen vielleicht, ihre Herkunft und Geschichte. Man müsste sie zum Reden bringen.

Der Mann aus Babadag

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