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Ein Auftrag für den Corporal

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Auf seinem Weg zum Zuchthaus wird ihn ein Schreiber begleitet haben und wohl eine Eskorte Bewaffneter. Corporal Christoph Wegerle musste sich an diesem 22. Januar 1684 zwar nicht gegen irgendwelche Gefahren wappnen, ein paar Uniformierte aber konnten ihm bei seiner Mission durchaus von Nutzen sein. Und eine Mission war es tatsächlich, die ihn zum „Correctionshaus“ an die südliche Stadtmauer hinter das Gelände des Heiliggeistspitals führte. Die Geheime Kanzlei des Bayerischen Hofes hatte den Soldaten per schriftlicher „Citation“ von Braunau, wo er mit seiner Kompanie stationiert war, in die Residenzstadt München beordert.6

Wegerle besaß eine höchst bemerkenswerte Fähigkeit, eine, die in der gesamten kurbayerischen Armee sonst kaum zu finden war. Er sprach Türkisch. Genau diese Fähigkeit war gefordert, wollte man in einer leidigen Angelegenheit weiterkommen, die der Kurfürst selbst den Münchnern eingehandelt hatte. Im Jahr zuvor hatte der junge Herrscher Max Emanuel über 10.000 bayerische Soldaten nach Wien geführt, um zusammen mit anderen Truppen des Reichs die Kaiserstadt aus der Umklammerung eines gewaltigen osmanischen Heeres zu befreien. Wirklich gelang es der christlichen Streitmacht, die Armada des Großwesirs Mustafa Pascha zu besiegen und in die Flucht zu schlagen. Der Feldzug brachte dem Wittelsbacher Ruhm, Tausenden bayerischen Soldaten den Tod und der Bevölkerung Kurbayerns enorm hohe Kosten, die der gerettete Kaiser trotz aller Versprechungen nie beglich. Noch etwas brachte Max Emanuel vom Schlachtfeld in die Heimat mit: drei Osmanen.

Zwei der drei Kriegsgefangenen warteten nun schon seit Monaten im Münchner Zuchthaus auf das, was das Schicksal ihnen zuteilen würde, oder ein wenig nüchterner: auf das, was die Bayern ihnen antun würden. Beim Triumphzug des heimkehrenden Kurfürsten hatten die erbeuteten Türken wohl ihren Part als besiegte mahometische Erzfeinde gespielt. Was aber sollte man jetzt mit ihnen anfangen? Sollten die beiden sterben, oder würden sich womöglich venezianische Menschenhändler für sie interessieren, die ja stets nach neuen Galeerensträflingen Ausschau hielten? Sollten die Türken einfach im Kerker verfaulen oder wäre es angebracht, sie als Zwangsarbeiter einzusetzen? Doch würden die Fremden, erst einmal aus dem Zuchthaus entlassen, nicht sofort zu fliehen versuchen?

Kurz: Die Bayern besaßen keine Erfahrung mit Sklaven und deren möglicher Nutzbarmachung. Vielleicht ließ sich die menschliche Beute ja auf andere Weise zu Geld machen. Vielleicht wollte der Feind die beiden Gefangenen wiederhaben und wäre bereit, sie gegen eine bestimmte Summe, eine ranzion, freizukaufen. Einen derartigen Handel freilich galt es vorzubereiten. Zunächst sollten die Gefangenen also möglichst viel über ihre Herkunft und ihre Aufgabe in der osmanischen Armee preisgeben. Bei dem Verhör, so die Hoffnung des bayerischen Hofes, würde sich schon irgendein Anhaltspunkt ergeben, wem man die beiden für welche Summe anbieten könnte.

So oder so ähnlich mögen die Überlegungen der Obrigkeit gewesen sein, die dazu führten, nach jemandem Ausschau zu halten, der die Fremden im Zuchthaus befragen sollte. Warum gerade Christoph Wegerle die türkische Sprache beherrschte, darüber schweigen die Quellen. Womöglich war der Corporal selbst irgendwann in osmanische Gefangenschaft geraten und hatte Jahre als Sklave in einem muslimischen Haushalt oder auf einer Galeere verbracht. Denkbar auch, dass es sich bei ihm im Gegenteil um einen konvertierten Muslim handelte, einen Türken also, der nach seiner Bekehrung zum Christentum ein neues Leben als Katholik führte.

Irgendein Drama jedenfalls musste Wegerle erlebt haben, denn einen wie auch immer gearteten friedlichen Kontakt und damit einen kulturellen Austausch zwischen dem kleinen Kurbayern und dem osmanischen Riesenreich gab es damals nicht. Kein bayerischer Händler wäre jemals nach Istanbul, Belgrad oder Ofen gereist, und aus jenen Städten wiederum hätte sich kein Osmane nach Wasserburg, München oder Nürnberg verirrt. In Österreich und Ungarn lebten zwar sehr wohl Menschen mit Beziehungen in das benachbarte Herrschaftsgebiet des Sultans, nicht aber in Bayern. Wegerle gehörte, neben ein paar Jesuiten vielleicht, die aus dem von Aufständen geplagten Ungarn ins sichere München geflohen waren, zu den ganz wenigen Bayern, die das Türkische verstanden und auch selbst sprachen.

Dabei wird es kein Zufall gewesen sein, dass gerade ein Soldat die sprachliche Grenze zwischen Abend- und Morgenland überwinden konnte. Die wenigen Berührungen zwischen Bayern und der osmanischen Welt hatten sämtlich auf Schlachtfeldern stattgefunden. Zu den unglücklichen Kreuzfahrern etwa, die 1396 bei Nikopolis von den Türken geschlagen worden waren, hatten auch bayerische Einheiten gehört. Der damals 16-jährige Hans Schiltberger geriet in Gefangenschaft, diente erst dem Sultan, später einem turkestanischen Kriegsherrn und kehrte erst nach 31 Jahren als viel bestaunter Weltreisender in die Heimat zurück. Bayerische Soldaten marschierten im 16. Jahrhundert gegen die Türken. Und zwischen 1645 und 1669 kämpften bayerische Truppen auf Kreta gegen die osmanischen Eroberer.

Als Christoph Wegerle also an jenem 22. Januar 1684 durch das winterliche München, vielleicht von St. Peter kommend oder an der Dreifaltigkeitskapelle und ihrem ummauerten Friedhof vorbei, in Richtung Zuchthaus schritt, wird er mit Türken kaum besonders freundliche Gefühle verbunden haben. Die bayerisch-osmanische Geschichte bestand aus etlichen Hingemetzelten und vielleicht ein paar Dutzend Versklavten. Die beiden Gefangenen im Zuchthaus sollten von Wegerle kein Angebot zur Verbrüderung erhalten, er sollte ihnen auch sicher nicht den Vorschlag gegenseitigen Vergebens und Vergessens unterbreiten. Er sollte ihnen Fragen stellen, und sie sollten tunlichst antworten. Wenn nicht, würde er ihnen, so waren nun mal die Spielregeln, Gewalt antun oder doch zumindest damit drohen.

Unter diesen Voraussetzungen betrat Wegerle das Zuchthaus. Er wird seine Visite mit dem Leiter der Anstalt, dem ehrwürdigen Hofkammerrat Johann Paul Millauer, abgesprochen haben. Womöglich war der dominus Millauer auch zugegen, als sich der Corporal die Gefangenen vorführen ließ. Wegerle stellte den beiden jeweils zehn Fragen und erhielt knappe, beinahe unverschämt knappe Antworten. Die Schwierigkeiten fingen schon mit den Namen der Osmanen an. Beide behaupteten, sie würden Achmet heißen. Zumindest wurden die Namen so verstanden. Wohl um die Fremden auseinanderzuhalten, nannten die Bayern einen Achmet den Kurzen, den anderen den Langen.

Wegerle ermahnte die Gefangenen zur Wahrheit und ließ sie wissen, er würde ihnen anderenfalls die Haut in Striemen vom Körper ziehen, um daraus Peitschen zu machen. Genau so, wie es die türkischen Soldaten mit ihren christlichen Gefangenen täten. Ob Wegerle eine derartige Tortur selbst irgendwann erlebt hatte? Wie auch immer, seine Drohung formulierte der Corporal offenbar ziemlich drastisch, denn zumindest ein Türke verlor die Fassung und brach in Tränen aus.

Wegerle hatte genug gehört. Er beendete das Verhör. Ob es für ihn und seine Auftraggeber erfolgreich verlaufen war? Eher nicht. Man darf annehmen, dass der Corporal einigermaßen missgelaunt das Zuchthaus verließ. Er wird sich mehr Information erhofft haben. Auch für die Gefangenen brachte die Begegnung keine glückliche Wendung ihres Schicksals, zumindest keine baldige. Über ein halbes Jahr verblieben sie noch im Zuchthaus, erkrankten schwer und wären dort beinahe gestorben.

Für die Nachgeboren freilich stellt das Geschehen im Münchner Zuchthaus an jenem 22. Januar 1684 einen Glücksfall dar. Das Protokoll des Verhörs nämlich blieb erhalten.7 Der Bogen Papier, verwahrt im Magazin des Bayerischen Kriegsarchivs in München, dokumentiert, wenn auch nur bruchstückhaft, etwas äußerst Kostbares: die Lebensgeschichten zweier muslimischer Einwanderer. Was deren Angaben gegenüber anderen biografischen Spuren, etwa Einträgen in kirchlichen Tauf- oder Sterbematrikeln, auszeichnet, liegt gerade im Wesen des Gesprächs. Die beiden Achmets gaben Auskunft über sich selbst. Das Protokoll bewahrt schlicht das früheste Selbstzeugnis muslimischer Migranten auf deutschem Boden.

Es muss ein übel riechender und feuchter Boden gewesen sein. Direkt unter dem Zuchthaus rauschte ein Bach in die Stadt, der sich ein paar Meter weiter, beim Rosental, mit dem Angerbach vereinigte, nach Osten bog und als Ross-Schwemme an St. Peter vorbeizog. Das Correctionshaus stand direkt an der Stadtmauer südlich des Heiliggeistspitals. Für etwa dreißig bis vierzig Insassen war das langgestreckte Gebäude angelegt. Den Gefangenen stand ein einziger Abort zur Verfügung. Stets habe ein „unleidlicher Geruch“ die Luft verpestet, weiß die vergilbte Dissertation eines Juristen aus Tempelhof zu berichten. Demnach erhielt das Zuchthaus erst 1762 ein Krankenzimmer, und 1774 wurde die „Marterbank“ entfernt.8

Gefoltert wurde aber offenbar weiter. Der bayerische Universalgelehrte Lorenz Westenrieder jedenfalls widmete in seiner berühmten Beschreibung der Haupt- und Residenzstadt München von 1782 den verschiedenen Tortur-Methoden, die im Zuchthaus zur Anwendung kamen, um von Gefangenen Aussagen zu erpressen, mehrere Seiten.9

1682, also nur zwei Jahre bevor die beiden osmanischen Sklaven dort Unterkunft nehmen mussten, hatte Kurfürst Max Emanuel das Zuchthaus bauen lassen, um Landstreicher und Bettler kasernieren und zu regelmäßiger Arbeit anhalten zu können. Streuner bevölkerten in riesiger Zahl das durch den Dreißigjährigen Krieg geschundene Land. Sie vagabundierten in den Wäldern und bildeten in den Städten und Dörfern eine allgegenwärtige Schicht der Verlorenen. Wenn es stimmt, dass jeder zehnte Europäer zu jenem Heer der Entwurzelten zählte, gehörten allein im Kurfürstentum Bayern etwa hunderttausend Seelen zu dieser höchst gefährdeten und gefährlichen Klasse. Wie andere Städte auch, ging München mit Verordnungen, Verboten und Strafen gegen Bettler vor. So galten Arbeitseinsätze, etwa an Kanälen oder Verschanzungen, als übliche Zwangsmittel gegen die ungeliebten Mitbewohner. Mit dem Zuchthaus jedoch gedachte der Landesherr die Vagabunden systematisch zu nützlichen Untertanen umzuerziehen.

Und er gedachte sie auszubeuten. Dem Zeitgeist gehorchend und insbesondere dem großen Vorbild Frankreich nacheifernd, wollte Bayerns absolutistischer Herrscher auch auf dem Feld der Ökonomie führen. Schon der junge Kurfürst gründete mehrere Manufakturen, um mit staatlich hergestellten Waren – Uniformen, Zigarren, Eisendraht oder Gobelins – die Wirtschaft zu fördern. Zwar sollte den merkantilistischen Initiativen Max Emanuels kein dauerhafter Erfolg beschieden sein, in den ersten Jahren jedoch verdingten sich in den kurfürstlichen Fabriken Tausende Billigarbeiter: arme Frauen, Kinder, Invaliden und Bettler.


Das Münchner Zuchthaus; das 1682 errichtete Gebäude stand an der südlichen Stadtmauer, quer über den heutigen Viktualienmarkt. Im Zuchthaus wurden Arme, Bettler und Vagabunden als Zwangsarbeiter kaserniert und „erzogen“. Kupferstich von Michael Wening, um 1700

Das Zuchthaus stand quer über dem heutigen Viktualienmarkt – vom Eingang der Westenrieder Straße bis hinüber zur Rosenstraße. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verschwand das Gebäude. Als im Jahr 1858 ein Fotograf vom Petersturm aus das Panorama der Stadt ablichtete, befanden sich auf dem Platz des Zuchthauses nur noch zwei Türme, die einst zum Mauerring gehört hatten. Den inneren, viereckigen Turm nannten die Münchner seit jeher den Fischerturm, der äußere, runde Turm hieß Schaibling. Einige Jahrzehnte später wurden auch die beiden Wehrtürme abgerissen. Erst der Rundturm – und dann, kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert, der Fischerturm.

Vom Zuchthaus existiert kein fotografisches Zeugnis. Lediglich die berühmte Stadtkarte von J. Carl Schleich aus dem Jahr 1806 belegt den Standort des Correctionshauses. Doch halt! Ein Abbild des Zuchthauses blieb sehr wohl erhalten. Und zwar eine höchst präzise, ja beinahe fotografische Aufnahme des Hauses. Der Kupferstecher Michael Wening schuf sie. Das Zuchthaus zu München gehört zu den vielen hundert Ansichten, die Wening in seiner berühmten Landesbeschreibung, der Historico-Topographia Descriptio, versammelte. Der Stich, ent standen um 1700, zeigt den langen, dreistöckigen Bau direkt an der Stadtmauer, hinter einem Wassergraben. Unmittelbar neben dem Gefängnis halten der Schaibling und der Fischerturm Wacht. Auf dem Pfad zwischen Mauer und Gebäude sind zwei mit Holz beladene Karren unterwegs. Ein paar Personen ziehen die Wagen, angetrieben von einem Mann, der drohend einen Stock hebt. An mehreren Stellen der Stadtmauer fehlt der Putz. Ziegel kommen zum Vorschein. Die Front des Hauses besteht aus vergitterten Fenstern: zwanzig in der Horizontalen, drei in der Vertikalen.

Hinter einem dieser Fenster harrten 1684 die beiden verschleppten Türken aus. Ob sie in Ketten lagen? Sie lebten von Wassersuppe, trockenem Brot und hin und wieder einer Handvoll Schmalz. Dabei waren sie wenige Monate zuvor mit einem Heer ausgezogen, dessen schiere Größe die Welt in die Knie hätte zwingen müssen.

Der Mann aus Babadag

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