Читать книгу Markus, glaubst du an den lieben Gott? - Markus Majowski - Страница 6
1 | Ja, ich glaube an den lieben Gott – so wie ich ihn verstehe
ОглавлениеIch tappe mein halbes Leben lang im Dunkeln. Die ganze Mühe, die ich mir gebe, um Erfolg und Anerkennung zu erlangen, ist für die Katz. Wahres Glück liegt im Geschmack eines salzigen Windes. Oder im dankbaren Lächeln eines Menschen, wie zum Beispiel dem von Julius, meinem Filius! Oder in der Veränderung, die aus einer Krise erwächst. Gott hat wirklich alles geschaffen. Und er hat mich und alle anderen Menschen in sein Licht gestellt. Er hat die Schlüssel zu allem. Alle Informationen, die ich benötige, schenkt er mir, wenn ich mit ihm in Resonanz stehe.
Ich glaube auch an den lieben Gott, weil ich Fehler machen darf. Ich probiere vieles aus in meinem Leben. Meine Spezialität ist: mit dem Kopf durch die Wand! Ich bin nicht perfekt! Falls jemand das erwartet: Bitte aufhören zu lesen. Manchmal träume ich, ich wäre allmächtig – nur weil ich einen Computer oder ein iPhone bedienen kann! Ich beschalle in meinem Traum die ganze Welt mit meiner Lieblingsmusik und entwickle ein Programm, mit dem aggressive Menschen in die nächste Selbsthilfegruppe navigiert werden, um Genesung zu erlangen. Wie Sie gleich feststellen werden, bin ich selbst derjenige, der mit „aufsteigender Hitze“ zu tun hat – vor allem, wenn etwas nicht so funktioniert, wie ich es gerne hätte.
Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf. Ich bekomme meine Geschenke! Zum Beispiel Harmonie. Auf den ersten Blick ist Harmonie nicht der sogenannte „Normalzustand“, weder im Innen noch im Außen. Freude und Leid, hell und dunkel und so weiter: In diesem Sinn pulsiert das Leben zwischen den Extremen. Ich glaube, der ständige Wandel ist Gottes eigentliche Kraft.
Ich kann sehr gut meine eigene Harmonie verbreiten. Das macht Spaß und Sinn. Aber von anderen Harmonie zu erwarten, das ist unrealistisch. Es kommt immer anders. Und nicht zu vergessen: Ich verbreite nicht jeden Tag nur Harmonie, auch wenn ich mir das noch so sehr wünsche. Jeder Mensch zum Beispiel, der mir im Straßenverkehr einen Vogel zeigt, weil ich langsam fahre, den kann ich anlächeln und zu mir selbst sprechen: „Ihm wurden eine Hand und fünf Finger geschenkt, und der Mensch nutzt sie, um Zeichen der Anerkennung zu versenden. Oder eben nicht. Jeder wählt selbst, wie er leben will.“
Wie komme ich in meinem Leben mit schwierigen Situationen zurecht? Ich habe mir etwas Zeit und Raum gegönnt, um diese Frage zu beantworten. Ich versuche vor allem, nicht nach meinem ersten Impuls zu handeln. Meine Mutter meint: „Junge, mach es nicht kompliziert. Du hast viele gute Seiten und dann noch ein paar andere. Das muss reichen! Schreib das, und dann erzähl was Lustiges!“ Okay, schauen wir mal. Wenn ich Schwierigkeiten bekomme, werde ich versuchen, meinen Weg voller Freude und Achtsamkeit zu gehen, und ich hoffe, meine Reise wird eine gute Erfahrung – für möglichst viele Menschen. Toll! Ich bin gespannt, wie ich meine Werkzeuge Gelassenheit, Mut und Weisheit einsetzen werde. Um alle drei Eigenschaften bitte ich täglich im Gebet. Unser Hund hat mit dem Schwanz gewedelt, als ich ihm den folgenden Absatz das erste Mal vorgelesen habe.
„God, grant me the serenity to accept the things I cannot change,
courage to change the things I can,
and wisdom to know the difference.“
Das Gelassenheitsgebet stammt wahrscheinlich von einem amerikanischen Theologen mit Namen Reinhold Niebuhr. Den kenne ich gar nicht, und mir ist vorher noch nie aufgefallen, dass mein Hund mit seinem Ringelschwänzchen überhaupt wedeln kann. Egal, das ist ein Zeichen, denn während ich diesen Satz schreibe, erfahre ich von meiner Managerin Dany, dass ich in der Saison 2013 bei den Nibelungen-Festspielen in Worms mitspielen darf. Den Hofsänger Volker soll ich geben, und Dieter Wedel den Regisseur. Man höre und staune!
Okay, das war ein Zeichen! Aber unter uns gesagt: Mein Hund ist ein Deutscher Zwergspitz, der überhaupt kein Amerikanisch versteht oder spricht. Vorhin, die Sache mit dem Schwanzwedeln, das war ein dramaturgischer Kniff von mir. Er hat mit dem Schwanz gewedelt, weil das Amerikanische für ihn eine völlig neue Erfahrung war. Das kenne ich – ich freue mich auch über Neues. Dazu eine kleine Geschichte: Wir schreiben das Jahr 2002. Endlich ist es so weit: In einer lauen Sommernacht wird jene Sketch-Comedy-Serie geboren, die mich die nächsten sieben Jahre begleiten wird. Die erste Klappe fällt. Mein Ego fühlt sich geschmeichelt. Ich habe schon unzählige Fernsehfilme und einige Kinofilme gedreht, im Team, als Protagonist oder Titelheld. Hier scheint jedoch etwas Einzigartiges zu geschehen. Es fühlt sich so an, als hätte der Sender eine prima Besetzung um mich herum gebaut. Soll ich meine beiden jungen Kollegen an die Hand nehmen? Nein! Ich spüre bald, dass sie ganz gut alleine zurechtkommen. Mein Patschehändchen finden sie zwar süß, sie lassen dieses Händchen aber noch viel lieber wieder los. Wir drehen an diesem ersten Tag mehrere Szenen auf einem Bungee-Springturm. Der Turm ist sehr hoch. Meine Partnerin hat genau wie ich Bammel. Leichte Verspannungen stellen sich ein, Kopfschmerzen und Nackenprobleme. Springen müssen wir zwar nicht selbst, aber die Höhe macht uns zu schaffen. Ich lege ihr meine Hände auf den Kopf, sie genießt es sehr. Ich massiere ihren Nacken, sie ist glücklich. Plötzlich werde ich abgelenkt. Unser Regisseur hat einen lustigen Einfall, von dem er mir ausführlich berichten möchte. Meine Partnerin hat noch immer die Augen geschlossen. Kaum habe ich mich weggedreht und lausche den Worten meines Regisseurs, kommt mein männlicher Kollege auf die glorreiche Idee, unsere Kollegin weiterzumassieren. Ich bin verwirrt und finde es super peinlich, dass der Typ sich so in meine Heilende-Hände-Nummer reindrängt. Und er massiert sie voller Inbrunst, während sich mein Ego unsanft aufbläst und mir dadurch jeglicher Sinn für die Schönheit des Moments verloren geht. Ich sehe nicht ihre entspannten Gesichtszüge, sondern nur seine knochigen Hände und den Schalk in seinem Blick. Kann ich die Situationen ändern? Nein, ich darf sie lediglich akzeptieren. Was macht das mit mir? Wütend macht es mich! Leider! Meine Abneigung kann ich drei Jahre lang schön vor mir hertragen. Aber ich bin mir zu fein, meinen Kollegen darauf anzusprechen. Ich lächle und lasse mir kaum etwas anmerken. Verzeihung, so gut wie kaum etwas. Also eher wenig. Okay, man merkt es mir an. Typische Komikerproblematik? Nein, typisches Menschengehabe! Damals fehlte mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, der Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
So was braucht doch keiner, aber jeder kennt es. „Nur weil du dich so etwas nicht trauen würdest, darf er es nicht tun?“ Das steht in den treuen Augen meines Hundes geschrieben, als ich ihm am Abend davon erzähle. „Du kannst es nicht ändern!“ Wahrscheinlich will mein Hund mich bloß beeindrucken. Er lässt schließlich auch niemanden an seine Spielzeugkatze, wenn er gerade dabei ist, ihr am Kopf zu knabbern. Ich suche mein Heil in einem zweiten und dritten Teller Spaghetti und frage meine Frau um Rat. „Auch wenn du Schwierigkeiten damit hast: Lass los! Das fühlt sich eindeutig besser an als Eifersucht!“ Was soll ich daraus lernen? „Sei geduldig!“ Okay. Aber manchmal denke ich, besser wäre: „Sei geduldig, und lass dich nicht ablenken, wenn du einer schönen Frau den Nacken massierst!“ Die fragliche Serie wird sehr erfolgreich und bahnbrechend für die deutsche Comedy-Landschaft, und ich nehme dreißig Kilo zu.
Wenn ich mich über etwas freue, muss ich darauf achtgeben, dass mir die Freude nicht aus dem Ruder gerät. Beim Üben von Freude und Achtsamkeit muss ich nicht alleine bleiben, denn mittlerweile erfahre ich täglich, dass ich mit Gott das Leben sehr gut meistere. Deshalb glaube ich an ihn. Als ich noch Kind, Jugendlicher und später aufstrebender Künstler war, suchte ich nicht die christliche Gemeinschaft. Aber er hielt bereits seine schützende Hand über mich – in Form eines schönen Posters, das über meinem Bett hing. Ich selbst setzte ihm dafür eine goldene Krone auf – sehr hübsch hatte ich die mit Goldlack hinbekommen auf dem Poster. Aber ist er damals bereits der Mittelpunkt meines Lebens? Nein! Zu dieser Zeit betete ich selten. Und meinem Schöpfer dankte ich ein Mal im Jahr an Ostern. Ich teilte auch meine Wünsche und Hoffnungen mit ihm nicht regelmäßig. Er hat bestimmt keine Zeit für mich, dachte ich. Und ich hatte keine Zeit für ihn. Es ging mir ja ganz gut, vor allem als aufstrebender Künstler. Und ich war irrsinnig beschäftigt. Ähnlich wie in der Zeit als Kind wurde mir meine Harmonie – schwupp – zur Selbstverständlichkeit. Ich verdrängte die Probleme, die mir den Weg zu versperren schienen. Ich ignorierte Warnungen und Verluste. So konnte ich meine Freude und Achtsamkeit nicht üben. Ganz ehrlich: Irgendetwas lief damals schief.
Meine innere Sehnsucht nach Harmonie verursachte ein derart lautes Grundrauschen, dass ich den göttlichen Klang einfach überhören musste. Ich blieb manchmal zurück hinter dem, was mir möglich gewesen wäre. Aber hallo! Und ich stolperte mehrmals in ein und dieselbe Grube, die sich auf meinem abenteuerlichen Lebensweg auftat. Doch dazu später.
Ich ging also damals selten in Kirchen, und sie wurden nicht zu einem Teil meiner geistigen Heimat. Warum? Weil mich irgendetwas abschreckte beim kollektiven Singen. Und beim Zuhören, wenn jemand auf einer Kanzel stand und Demut predigte. Mir schnürt sich noch heute oft die Kehle zu, wenn ich Kirchenlieder mitsinge. Das ist völlig in Ordnung, denn das kann tiefer liegende Gründe haben. Vom Frohlocken und von der Dankbarkeit über die Botschaft Jesu lasse ich mich anstecken. Davon nährt sich meine Harmonie.
Meine Eltern und Großeltern haben versucht, mir das Evangelium nahezubringen. Irgendetwas hat mich dabei immer gestört. Ich konnte nicht mit den Ecken und Kanten der christlichen Kirche leben, so wie ich sie wahrnahm. Die Kreuzzüge und Kirchenkriege, der Streit um die Bedeutung der Person Jesu und vieles mehr waren so was von nervend! Infolge von Konzilen haben unsere Kirchenväter ihre Ansichten mit großer Geschicklichkeit durchgesetzt. Konzile sind Versammlungen der Bischöfe und hoher kirchlicher Würdenträger. Die Herrschaften erörtern und entscheiden dort vor allem Fragen der Doktrin, einen engstirnig auf einen ganz bestimmten Standpunkt festgelegten Lehrsatz mit „Das-machen-jetzt-alle-so-wie-wir-es-sagen-sonst-knallt-es“-Effekt.
„Du bist komisch!“, sagt mein Julius, der mir über die Schulter schaut. „Vorhin schreibst du noch, dass du dich über Neues freust. Und jetzt meckerst du über die Männer mit den großen goldenen Hüten auf dem Foto da im Internet!“ Ich klappe den Rechner zu und hole zu einer Ansprache aus – umsonst, Julius ist schneller: „Mooooment, alter Mann! Wenn denen das vorher zu langweilig war mit den alten Regeln, dann sollen sie doch neue ausprobieren. Wo ist das Problem?“ Julius ist ebenso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht ist. Ich schmiere mir ein Brot und gehe anschließend spazieren. Als ich zurückkomme, ist der Kopf frei. „Der Junge schläft gleich ein!“ Meine Frau lächelt mich verständnisvoll an. „Wenn du was auf dem Herzen hast – also gut, geh zu ihm!“ Julius erwartet mich. „Weißt du, Julius, die Männer mit den goldenen Hüten haben die anderen Menschen gezwungen, bei ihrem neuen Spiel mitzumachen.“ Julius nimmt meine Hand und flüstert: „Papa, Religion ist kein Spiel, oder?“ Ich spüre, das Gespräch müssen wir vertagen. „Nein, Religion ist raue Wirklichkeit.“ „Ich glaube, ich schlaf jetzt lieber!“ Ich kenne kein schöneres Lächeln.
Ich höre von vielen Veränderungen am ursprünglichen Wort Gottes. So, wie es im Pentateuch, den ersten fünf Büchern Mose, geschrieben steht, kennen es nur sehr wenige Menschen. Schon während meiner Konfirmationszeit wird mir die Manipulation am Alten Testament bewusst, denn allein die vielen Übersetzungen und Abschriften müssen Gottes Wort verändert haben, denke ich mir. Das Wort soll nicht verändert werden, richtig! So steht es geschrieben im Alten Testament – auf den ersten Seiten. Und doch wurde es verändert – in dutzenden Konzilen grundlegend!
Weil ich in den Kirchen nicht Gottes Klang zu vernehmen meine, beginne ich zu zweifeln: Ich zweifle an den Institutionen der Religion, an jeder Religion, die auf Dogmen und Privilegien einer Obrigkeit aufgebaut ist. Ja, dann bin ich eben pingelig! Alle Religionen, die extrem sind in ihren Ansichten und Ausprägungen, die anderen Menschen etwas überstülpen, um jeden Preis missionieren, stoßen mich ab. Andererseits muss ich mir auch eingestehen, dass der einzige Gott, unser Schöpfer, auch in anderen Religionen wirkt. Wenn der Glaube den Menschen in ihrem Leben und zum Leben hilft, wird diese Wirkung für mich besonders deutlich. Ich sehe das lange Zeit nicht so, da ich nur auf die Extreme schaue. Den reinen Ursprung blende ich aus. Das ist ein Mangel an Urvertrauen, das gebe ich zu. Ich glaube an Gott, so wie ich ihn verstehen und empfinden kann. Und ich fühle mich mit all den Menschen verbunden, die ebenfalls an ihren Gott glauben, der sie frei macht und ihnen hilft, auf andere Menschen zuzugehen, Frieden zu stiften und die Welt ein kleines bisschen besser zu machen, dort, wo sie gerade stehen. Ich mag den undogmatischen Ansatz jenseits von kriegerischen Auseinandersetzungen und intellektuellen Zerwürfnissen, in dem es nur darum geht: Hilft mir mein Glaube, das Leben zu meistern? Im Besitz der ultimativen Weisheit bin ich damit nicht. Und wenn jemand daraus eine neuzeitliche Missionsnummer machen würde, fände ich das nicht so dufte. Gottes Wort steht über allen Ungereimtheiten. Ich muss deswegen nicht mit meinem Urvertrauen in Gott hadern. Egal, wie viel Zweifel ich auch heute noch an der Kirche empfinden mag, ich spüre, dass es um etwas anderes geht: Gott reicht den Gefallenen die Hand. Ich habe in großer Not um Hilfe gebeten, und er hat sie mir gewährt. Aber auch dazu später mehr.
Er sieht meine frühen Zweifel als Bub, die ich kopfschüttelnd vor mir hertrage. Obwohl ich bereits seit meiner Geburt immer wieder mit Harmonie und Liebe überhäuft werde und obwohl ich mit so viel Humor und Talent ins Licht getreten bin, erkenne ich den Ursprung dieser Geschenke noch nicht. Als Jugendlicher würde ich am liebsten wegen verschiedener Ungereimtheiten auf die Barrikaden gehen. Das tue ich verbal auch. Im Handeln verlässt mich der Mut. Ich lehne mich zurück und erkläre, das Ganze sei nicht meine Angelegenheit. In gewisser Weise ist mein Denken als Jugendlicher arrogant.
Doch Gott zeigt mir im Lauf der Jahre, dass auch die moderne Gemeinschaft der Christen Liebe und Hoffnung zu den Menschen bringen kann. Trotzdem habe ich damals das Gefühl, nicht dazuzugehören. Gott schickt mir einige satte Prüfungen. Er ist geduldig.
Als ich im Jahr 2007 den Film „Zwerg Nase“ drehe, erreicht mein Arbeitsvolumen seinen Höhepunkt. Dagegen ist meine Fähigkeit, den Anforderungen gerecht zu werden, an einem Tiefpunkt angekommen. Das war dramatisch, aber zunächst kam es ganz unauffällig und leichtfüßig daher. „Zwerg Nase“ war ein liebevoller Kostümfilm mit großartiger Besetzung und lief unter der Regie einer sehr begabten, leidenschaftlichen Regisseurin mit Namen Felicitas Darschin. Die Rolle des Herzogs Alois war entsprechend dem Rollenprofil cholerisch und bacchantisch anzulegen. Ich verdränge manchmal selbst die Bedeutung von interessanten Fremdwörtern. Daher zur Erklärung: Dies bedeutet, dass die Figur, die ich zu spielen hatte, rauschhaft ausgelassen und überschäumend vom Charakter her war. Das war genau das Richtige für mich.
Wir drehten in Bamberg, und die Schauspieler waren überwiegend in einem wunderschönen Hotel untergebracht, dessen Namen ich hier lieber nicht wiederhole. Die freie Zeit, die man als Schauspieler hat, verbringt man für gewöhnlich sehr gern in edlen Räumen wie Cafés und Restaurants. Man kann sich dort auf den nächsten Drehtag vorbereiten. Bei manchen klugen Schauspielern vergeht diese Zeit auch auf einer Liege im Wellness-Bereich. Nicht so bei mir. Ich gebe mir die Kante an der Bar. Mein Hotelzimmer ist Endstation. Dort nimmt mein Aufschlagen in der Wirklichkeit Gestalt an – die Begegnung mit meiner ganz persönlichen Klagemauer. Ich stolpere durch das Zimmer und mache als Erstes Bekanntschaft mit einem Türpfosten. Dann ärgere ich mich über meine Hose, da sie an meinen Knöcheln festklebt und offensichtlich Streit sucht. Kann sie haben! Zehn Minuten später liege ich flach und erlebe mein erstes und letztes Delirium. Das war keiner dieser wunderbaren Tage, an denen man alles richtig macht. Ich kritzle etwas an die Wand, irgendwann:
„Über meinen Fuß flitzt ein zuckendes Meer kleiner Wesen,
Mit aufgetürmten Haaren, wie die Antennen schlitzohriger
Sinne. Sie stolpern jetzt und nehmen Salto schlagenden
Anlauf in mein Bett. Sie sind die Räuber meiner Farbkleckse.
Sie wühlen unter der mittäglichen Ordnung
Meiner Decken und Kissen. Neue Welt entsteht, kein Zurück.
Das bunte Licht hält Einzug. Es ist gewappnet und steckt zaubernd
Die Zunge zum Daumentor heraus. Ein klares Bild. Das Prisma
Steht und Federn fliegen und Sänger rudern durch die Luft. Sie
Winken mit ihren bunten Tüchern und weben mir den Strick.
Meinen Kopf hinein, die Beine lose. Es reißt ein altvertrauter Schmerz
Mich in das Meer. Überzeugt plumpst ein Schrei aus dem Gerippe.
Ich vergehe und rudere davon.“
Ich beginne nach diesem Vorfall, an mir zu arbeiten. Das dauert. Aber weiß ich wirklich, was Demut bewirken kann? Und bin ich bereit dafür? „Wie wäre es mit Mäßigung?!“ Geunerle, unser Zwergspitz, hechelt mich wissend an. Ich nehme ihn beim Wort und setze uns beide auf Diät. Mäßigung! Unterwürfigkeit spüre ich nicht nach den Rückschlägen, die ich erfahren habe. Ich erkenne meine Möglichkeiten und meine Grenzen. Und die Bereitschaft, danach zu leben, wächst mit der Zeit. Diese Bereitschaft wird sogar größer als meine unterschwellige Angst: Werde ich eines Tages ein Diplom als Spaßbremse im Briefkasten meiner Freundschaften finden? Partymachen ist nicht mehr erlaubt. Dann entwickle ich eben neue Qualitäten! Ich werde zum Beispiel Aktionskünstler und perfektioniere meine Multitasking-Fähigkeiten. Oder ich werde als wandelnder Gesundbrunnen berühmt. Manchmal komme ich mir vor wie die Schwester von Tony Soprano, die ihre erste trockene Zeit mit dem Schreiben christlicher Popsongs verbrachte. Ist mir das peinlich! Na, dann werde ich eben ganz seriös erfolgreich und lerne endlich den „Faust“ auswendig. Den ersten und den zweiten Teil.
Nein, Genesung ist kein Wettbewerb. Es geht nicht darum, was ich durch die Erfahrungen mit der Krankheit Sucht und meiner höheren Macht bewirken kann. Es geht nicht darum, ob ich mehr gute Taten vollbringe als mein Nachbar. Es geht vielleicht vielmehr darum, dass ich mir überhaupt die Mühe mache, ein anständiger Kerl zu sein.
Meine Wahrnehmung wird sehr viel bewusster, je länger ich abstinent lebe. Das Leid in der Welt „draußen“ war schon vorher für mich schwer auszuhalten. Jetzt springt es mich an wie eine Katze, die nach einem Verkehrsunfall mit einem Lastwagen ausgerechnet mich, einen unbeteiligten Passanten, auserkoren hat, ihr Erste Hilfe zu leisten! Ich sehe genauer hin und jammere nicht nach dem Motto: „All das Leid und Unrecht in der Welt! Wie kann Gott das nur zulassen?“ Es gibt die Art von Menschen, die anderen Leid zufügen. Und es gibt die Art von Menschen, die versuchen, ein rücksichtsvolles Leben zu führen. Ich kenne viele Menschen, die bereit sind für eine Umkehr, hin zu Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme. Die Frage ist: Zu wem möchte ich gehören? Wenn ich heute nicht mit einem oder zwei Gebeten durch den Tag komme, dann bete ich eben ein drittes oder viertes Mal. Das Beten ist die größte Kraft, die ich kenne.
Es ist erstaunlich, was die Wissenschaft bis heute erreicht hat. Die Physik, Biologie und Chemie haben Erklärungen gefunden für die Entstehung des Lebens und vieles mehr. Ja und? Kaum einer erkennt, dass auch diese Fähigkeiten und Erkenntnisse Geschenke von Gott sind. Auch darum glaube ich erst recht an ihn, denn ich bekomme das Wissen von ihm geschenkt. Anwenden kann ich dieses Wissen aus meiner Mitte heraus, wo Gott ebenfalls einzieht, wenn ich ihn einlade. „Seine Spielsachen sind schon da!“ Damit lädt mich Julius gerade zu einer Partie Backgammon ein, während er über meine Schulter grinst. „Komm, Papa! Mach mal eine Pause.“ Wir entscheiden uns für ein regelrechtes Turnier: Vater, Mutter, Kind im Wechsel. Der Verliere geht mit dem Hund Gassi.
Wachsen aus der Mitte heraus, im mütterlichen Bauch – das muss so schön gewesen sein! Da war es gemütlich. Der Puls zweier Herzen, ausreichend Nahrung, gedämpfte Geräusche und ein sanftes, indifferentes Licht. Der Halbschatten innigster Zweisamkeit. Ich habe Teile meines Babyarmbandes aus dem Krankenhaus immer bei mir. Es stammt aus dem Jahr 1964. Ich möchte es unbedingt behalten und mich immer daran erinnern, wo ich geboren bin: in Deutschland – ein Gebilde, das Dank der Alliierten angeblich nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankfurt am Main als Aktiengesellschaft eingetragen worden ist und heute in dieser Form als das Bundesfinanzministerium Politik betreibt.
Genau das ist angeblich der Grund, warum das Investmentbanking- und Wertpapierhandelsunternehmen „Goldman Sachs“ eine derartige Macht über Deutschland erlangen konnte. Es geriet mit seinem Verhalten in der Europäischen Schuldenkrise und seiner Verflechtung mit der europäischen Politik in die Schusslinie, weil es der griechischen Regierung gegen hohe Beträge geholfen haben soll, die nationalen Schulden zu vertuschen. Also so was! Das ist alles natürlich reine Spekulation. Was wäre das schön, wenn wir die Zeit zurückdrehen könnten: Die Holländer tauschen einfach am 27. August 1664 bei ihrer Kapitulation in der Schlacht um Manhattan ihren damaligen Regierungssitz Neu Amsterdam nicht gegen eine Handvoll Muskatnussbäume in Südostasien. New York wird niemals gegründet und „Goldman Sachs“ erscheint nicht auf dem Parkett der Weltpolitik und Weltwirtschaft, sondern hoffentlich als Gas-Wasser-Scheiße-Betrieb in New Jersey. Dann ist aber auch nicht ganz sicher, dass ich geboren werde bzw. wer ich dann sein werde. Deswegen habe ich mein Babyarmband als Referenz dabei: Falls die kollektive Umkehr wider Erwarten ganz plötzlich doch geschieht, weiß ich, wo ich hin muss. Nach Berlin – in meine Heimatstadt! Da bin ich bei meiner Mama und sicher. „Könnte bitte alles so rein sein und so schön, wie die frühe Mutter-Kind-Liebe? Ich sag es ja nur, lieber Gott. Am Ende des Tages lass bitte deinen Willen geschehen. Okay?“ Donnerwetter: Mein Alter Ego hat Manieren gelernt.
Der Markus von heute kann es sich richtig gut gemütlich machen. Das ist mein Ding. Hier eine Kerze, etwas Sandelholzöl und Zitrone. Räucherwerk! Da eine Kanne Tee, etwas zu knabbern. Gute, alte Musik. Das bin ich. Früher wollte ich gleich so sein, wie ich heute sein darf. Aber ich war noch nicht so weit. Deswegen bin ich immer auf dem Sprung gewesen. Nie richtig da. Selten. Mit einer Pobacke auf dem Stuhl, die andere hing in der Luft. Punkt. Selbst beim Schlafen: Ein Bein hing bei mir immer aus dem Bett. Jetzt Punkt.
Und wenn ich nicht aufpasse, hängt mein Bein heute immer noch aus dem Bett ... Und mehr noch, es will auch ständig raus in die Nacht! Mein Alter-Ego-Bein sagt mir nachts um halb drei: „Markus, aufstehen! Carpe Diem! Los, essen!“ Ich habe eine tief verwurzelte Sehnsucht nach gutem Essen. Die ist fast genauso groß wie meine Sehnsucht nach Besonnenheit und Einklang mit meinem lieben Gott. Oft wünsche ich in tiefer Nacht, manche Sehnsüchte mögen einfach verschwinden, sich in Luft auflösen. Ich schließe im Dunkeln eine Tür und eine andere öffnet sich. Auf das Neue hoffend, singe ich bis zum Sonnenaufgang:
„Engel können zwar helfen, fahren musst du schon allein.
Mensch, Junge, es muss nicht immer die Überholspur sein.
Mal gibt es Kratzer in deinem Lack.
Aber jeder Fehler macht dich stark!“*
*Musik: C. Wirsching, Text: H. Bruhn/M. Majowski
Eine meiner Sehnsüchte ist die nach Leichtigkeit. Quasi in der Wüste einer Theatertournee durch Deutschland kommt mir daher der Gedanke, ich müsste unbedingt tauchen lernen. Ich sehne mich danach zu schweben, umgeben von Flüssigkeit.
„Wie ein Baby, Papi! Wolltest du neu geboren werden?“ Julius steht wieder hinter mir, an meinem Schreibtisch. „Ja, Julius. Vielleicht wollte ich das.“ Gleich ist wieder Schlafenszeit. „Nur noch eine Geschichte, ja?“ „Na gut! Sie handelt vom Wünschen, vom Lauschen und vom Tauchen! Weißt du, Julius – ich frage mich von ganzem Herzen, warum gerade Tauchen? War ich es nicht, der als Kind immer wimmerte, wenn er weit hinausschwimmen musste? Obwohl ich das Wasser liebte! Im offenen Meer zu schwimmen oder auch nur einen kleinen Fluss überqueren zu müssen, war früher der Horror für mich. ‚Da unten ist garantiert ein Monster, ich spüre schon irgendwelche Flossen und schleimige Körper!‘ Das war ich. Ich hatte Angst vor der Tiefe! Und jetzt also in die Tiefe tauchen. Na, war ich gespannt!“ Julius grinst: „Und ich erst!“
Wir waren zu jener Zeit mit einer Theater-Tournee gerade in Essen. Mitten im Ruhrgebiet, wo mein Vater Heinrich herkommt. Schön dahingebettet an der Ruhr liegt die Hochschulstadt. Hoch über der Ruhr gibt es im Wald einen Märchenpfad. Da sehen die alten Bäume aus wie Märchengestalten und scheinen mit einem zu reden. Ich ging dort spazieren – und die Bäume haben zu mir gesprochen. Ich hatte Fieber, eine schlimme Bronchitis. Nach dem Spaziergang – ich war eingeschlafen – klopfte jemand an mein Wohnmobil und erzählte mir, einem Fremden, völlig überraschend die Geschichte vom Pakt mit dem Teufel, den der Baumeister vom Kölner Dom eingegangen war: „Wenn ich dir verspreche, dass ich dir helfe, den Dom fertig zu bauen, will ich als Gegenleistung deine Seele.“
Es hat mich schwer beeindruckt, was ich da hörte, und ich betete, dass ich niemals meine Seele zu verkaufen brauche. Jedenfalls wollte ich am nächsten Morgen anfangen, tauchen zu lernen, und ich weiß heute tief in meinem Herzen, dass Gott mich zu Barbara und Julius geführt hat. Es ist sehr schön, dieses Gefühl. Vielleicht hört es sich etwas „spinnert“ an. Aber so war es!
Ich suchte – im November – nach einer Tauchschule, fand sie aber nicht. Ich sagte mir: „Warte noch ein Weilchen, schau dich erst einmal um. Ist denn hier nicht in der Nähe das Grab deiner Großeltern gewesen?“ Und richtig, von Essen ist es nicht weit bis nach Dorsten. Und dort finde ich das verwilderte Grab. Großmutter und Großvater väterlicherseits. Strömender Regen. Die Liegezeit für die Grabstätte ist eigentlich abgelaufen. Ich kann sie gerade noch verlängern. Das ist kein Zufall. Ich nehme mich der Pflanzen an und putze den Grabstein. Und ich lausche, was mir der liebe Gott zu sagen hat, und genieße den Regen.
Seine Botschaft ist eindeutig: „Hallo, spürst du deine Ahnen? Beschäftige dich mit diesem Teil deiner Familie. Wenn du Hilfe brauchst, so wirst du sie bekommen.“ Ich schaue das Grab an, entscheide mich, wie ich es pflegen möchte. Und tue es. „Du wirst sehen, wie eine Kraft in dir wächst!“
Es macht mir große Freude, mir zu überlegen, wie ich das Grab in Zukunft pflegen möchte, und mich in der Stille des Friedhofes zu sammeln. Meine Kraft wächst tatsächlich. Zu diesem Zeitpunkt bin ich, wie gesagt, mit einem Wohnmobil unterwegs. Mein alter Hund, ein Irish Setter, begleitet mich. Ich muss das Wohnmobil dringend abgeben. Und ich kann den Hund nicht länger auf Tournee mitnehmen. Da entdecke ich Anne und Uli. Sie stehen an einem anderen Grab und schauen mich schon eine Weile neugierig an. „Ist das ein Jagdhund? Wo bekommt man solche Hunde?“ Die beiden bekommen die einzige Antwort, die mir einfällt: „Hier, bei mir. Wenn Sie wissen wollen, ob so ein Hund zu Ihnen passt: Ich bin bereit, Ihnen meinen Setter anzuvertrauen.“ Es klappt. Eine Freundschaft entsteht, und beide Seiten sind überglücklich mit den Geschenken, die sie bekommen haben.
„Geschenke, Papa?“ Klar! Sie hatten ihre Freude mit dem Setter, und ich konnte neue Wege gehen. „Neue Wege! Da hast du es wieder, Papa!“ Eben! Ich wurde gesund, Julius. Ich fand eine Tauchschule, was ich mir doch so sehr gewünscht hatte. Einige Jahre vergingen. Ich war auf der Hut, als mein großer beruflicher Erfolg einsetzte, dass ich den Kontakt zum lieben Gott aufrechterhalte. Je mehr ich verdiente, desto schwerer wurde das. Meine Seele blieb bei Gott, aber der „Mensch“ Markus entfernte sich von ihm. Ich war auf einem richtigen Egotrip. „Andere Menschen waren dir egal?“ Nicht ganz so schlimm. Während dieser Zeit bereiste ich die Welt in meiner Freizeit, während mein Setter viele Sommer hintereinander Urlaub quasi auf dem „Bauernhof“ machte – so schön ist es nämlich bei Anne und Uli! Weißt du, den beiden habe ich vielleicht sogar mein Liebesglück mit zu verdanken.
„Warum, Papa?“ Nun, ich konnte ja jetzt tauchen, und eines Tages buchte ich aus einem Gefühl heraus eine Last-Minute-Tauch-Reise auf die Malediven. Und dort traf ich deine Mutter. Unsere Barbara! Julius knufft mich. „Ihr habt geknutscht!“ So ist es! Vier Jahre später wurdest du geboren. Und das war so schön, dass ich unserer kleinen Familie ein Geschenk machten wollte: Der „Mensch“ Markus kehrte um. Als ich wieder vom lieben Gott aufgenommen wurde, war ich umso dankbarer. Mein Egotrip war zu Ende. Und jetzt gehen wir schön gemütlich schlafen. „Erzählst du morgen weiter, Papa?“ Klar mach ich das. „Prima!“ Ich decke Julius zu und spreche unser Gebet. Eines Tages werde ich ihm erzählen müssen, dass meine Umkehr alles andere war, nur keine „gefühlsbetonte“ Reise. Und eine freie Entscheidung wohl auch nicht. Es war die Entscheidung, die ich treffen musste, um zu überleben.
Apropos gemütlich: Meine erste eigene Wohnung ist schön und klein. Die zweite ein bescheidenes Pfarrstübchen mit historischem Ambiente. Die dritte krumm und schief, aber im angesagten Künstlerviertel. Die vierte bedrückend, in Sichtweite zur Nervenheilanstalt. Die fünfte lang wie ein Schlauch, eine Wohngemeinschaft. Die sechste verwinkelt wie ein Museum und einsam. Die siebente unterm Dach mit einem ehemaligen Wasserturm als Schlafzimmer. Hier wächst das Eheglück! Barbara und Markus finden sich im Meer, ein Umstand, der für die Familiengründung mit verantwortlich ist. Und die gemütliche Atmosphäre im Wasserturm bewirkt den Rest.
Als unser Sohn zur Welt kommt, begegnen wir einem Uhu. Wem? Einem Uhu, dem symbolischen Träger von Weisheit und Narretei. Das ist der Kosename der Wohnung, in die wir 2004 ziehen. Wieder ein Altbau, wunderschön und irgendwie beseelt. Daher „Uhu“. Sie dürfen lächeln, so etwas passiert selbst in den besten Familien. Die erste gemeinsame Wohnung mit Frau und Kind und unserem Hund. Ein echtes Zuhause!
Als Berliner ist man stolz darauf, in einem Altbau zu wohnen. Obwohl: Ich sag mal, als geborener West-Berliner ist man stolz darauf. Ich jedenfalls habe Altbauten geliebt, seitdem ich flügge geworden und aus dem elterlichen Haus ausgezogen bin. Und ich habe mir mit 19 Jahren geschworen, dass ich mich auf dem Gebiet „Altbauwohnung“ hocharbeiten werde. Also hieß das Ziel: sanierter Altbau. Gerne mit Ofenheizung, muss aber nicht! Das ist ein schönes Ziel, nur schwer zu finden. Selbst ist der Mann! Und selbst ist auch die Frau! Zusammen ist man übrigens zwei und somit stärker.
Immer, wenn wir eine Lampe flackern sehen, dann fühlen wir uns geborgen. Zu Hause bei uns in Berlin-Charlottenburg ist das nämlich so: Unsere Lampen flackern. Wir wohnen nicht in einem Schloss, sondern in einem – richtig! – sanierten Altbau. Ha, geschafft! Und bei uns ist ein historischer Mitbewohner am Werk. Ab und zu. Ähnlich wie in einer alten Ritterburg. Wenn man für so etwas wie Geister empfänglich ist, kann das regelrecht Freude bereiten.
Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass wir derzeit bei unserem ultimativen Hausgeist angekommen sind. Ich bin schon anderen begegnet. Ich will ihn gar nicht näher beschreiben, unseren Hausgeist. Das steht mir nicht zu. Nein, ich verhalte mich höflich und versuche lediglich, „ihn“ oder „sie“ in einem spirituellem Zusammenhang zu sehen. Jesus sprach: „Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen. Wenn ihr nur für die betet, die euch lieben, was könnt ihr dafür schon an Lohn erwarten?“ Nun, ich kann einfach mal versuchen, umzusetzen, was er meint. Und ich beziehe mich dabei lediglich auf die Tatsache, dass unser Hausgeist uns in gewisser Hinsicht verfolgt. Ob er uns liebt oder hasst, das weiß ich nicht. Ich habe aber zumindest ein gutes Gefühl, wenn ich ihn um mich herum spüre. An mir, über und unter mir. Ich bin mir übrigens sicher, er ist sich selbst genug. Er bringt mich zum Lachen. Das ist also schon mal nicht schlecht. Wie kam es zu unserer Bekanntschaft?
Begleiten Sie mich auf Wohnungssuche! Stellen Sie sich vor, Sie schlagen die Sonntagszeitung auf. Sie wollen nicht kaufen, sondern mieten. Und bitte günstig. Und Sie finden eine ganz, ganz kleine Anzeige. Es wird eine Wohnung beschrieben, die so sehr im Zentrum Ihrer Stadt liegt wie sonst nichts. Wenn Sie den Namen der Straße lesen, denken Sie an Autos, Autos, Autos. Dann steht da schwarz auf weiß: „Altbau mit Garten“. Kann nicht sein, denken Sie, und rappeln sich nochmal auf. Der Tag war lang. Aber Sie wollen es wissen. Eine kurze Autofahrt und eine sehr lange Parkplatzsuche. Sie klingeln, und eine freundliche Diplom-Psychologin öffnet Ihnen. Als eine solche stellt sich die Dame jedenfalls vor. Warum, weiß kein Mensch. Wir, meine Frau und ich, sind mit unserem Baby im Bauchwickel schon da und wollen gerade die Besichtigungstour beginnen. Das, was dann passiert, müsste Ihnen eigentlich sofort signalisieren: Das ist nichts für mich! Frau Psychologin ist sehr aufgeschlossen und führt uns durch einen langen dunklen Flur in den Salon. Hier stehen gefühlte siebenundzwanzig Schränke für Kleider, Bücher und Wein. Die für den Wein sind gekühlt. Es fröstelt uns etwas. Man bahnt sich einen Weg durch das Schranklabyrinth und findet sich vor einer Terrassentür wieder. Prima! „Der Garten ist da draußen“, sagt sie. Denkste! Da draußen ist ein Urwald. Gespenstisch und wild. Und warm. Wir tanken kurz etwas Sonnenlicht. „Och, schauen Sie doch noch den Rest der Wohnung an!“ Das, was vom Rest noch übrig ist. Nach wenigen Minuten ist klar: Nach dem Krieg ist hier vielleicht mal gestrichen, Strom über Putz verlegt und eine provisorische Küche eingebaut worden. Mehr nicht.
Wir schreiben aber das Jahr 2004. Es ist interessant – können sich Bombenschäden aus dem Zweiten Weltkrieg so lange halten? Eine Druckwelle muss quer durch zwei der Räume und den mittleren Flur geschossen sein. Richtig! Frau Psychologin hat zu dem Thema die passende Anekdote parat: Eine Fliegerbombe fiel am letzten Kriegstag in den Hof. Wäre möglich.
Sie erzählt weiter: „Der erste Bewohner des Hauses, um 1895, war ein Politiker aus der Weimarer Republik.“ „Wer? Nein! Der olle Bismarck, er wohnte hier mit seinem Sekretär?“ „Ja! Später zog irgendwann für kurze Zeit die Gestapo ein.“ „Was? Wie unangenehm.“ Die Wohnung sei den Alliierten bekannt gewesen, daher die Bombe. Nun, Fenster, Wände und Türen sind dezent schief und die gelblichen Wände lachen frech vor sich hin. Alles knarzt und ächzt. Vielleicht stimmt die Geschichte von Frau Psychologin. Der Fußboden, die Türrahmen und, wie es scheint, auch die Heizungsrohre – alles macht Geräusche. Immerhin, Zentralheizung ist vorhanden! Und vorhanden ist auch noch etwas anderes: eine Persönlichkeit. Die Wohnung spricht mit Ihnen. Wenn Sie sich, werter Leser, an dieser Stelle von der freundlichen Psychologin verabschieden, sei es Ihnen verziehen. Man muss einfach zusammenpassen, Wohnung und Mieter. Und es kommt auf die Resonanz an. Auch eine Wohnung ist ein Klangkörper. Diese Wohnung ist ein großer Klangkörper. Was nicht unbedingt etwas Schlechtes sein muss. Okay, Sie, werter Leser und werte Leserin, sind gegangen. Aber Sie dürfen trotzdem erfahren, wie es weiterging. Denn wir sind geblieben. Meine Frau, Hund Geunerle, Baby Julius und ich. Wir haben bisher fasziniert – jeder für sich – die Besichtigung genossen und nicken uns zu, als wir uns in die Augen schauen. Diese Wohnung ist es wert, wiederbelebt zu werden. Wir schlagen ein. Die Psychologin ist gerührt und stellt begeistert fest: „Dass Sie überhaupt Zeit haben, sich auf ein derartiges Abenteuer einzulassen, Herr Schauspieler!“ Von wegen! Egal. Sie meint mit Abenteuer die Renovierung – sagen wir lieber Restaurierung. Die Hausherrin sichert uns einen stattlichen Zuschuss für eine Renovierung zu. Schon mal ungewöhnlich. Hat sie ein schlechtes Gewissen? Ein paar Tage später ist der Mietvertrag unterschrieben.
Das ist also unsere neue Heimat, in der sich erst einmal ein halbes Jahr lang fleißige Handwerker austoben. Die Restaurierung bringt längst Vergessenes zum Vorschein. Unter Tapeten und Putz schlummern alte „Gesellenübungen“: Grafiken und Pinselstriche wie von Meisterhand – und doch nur zur Übung. Unter dem Parkett finden sich Flaschen und Utensilien aus der Jahrhundertwende: Kordeln, Schrauben, Zangen. Und über allem schwebt ein mildes Lächeln. Eine wirklich spannende Baustelle. Das Herzstück der Umbauarbeiten bildet eine von mir gewünschte und entworfene Elektroanlage. Und darin befindet sich ein internes Kabelnetzwerk, welches uns unabhängig von WLAN ins Internet gleiten lässt.
Als jedoch alle Bauarbeiten abgeschlossen sind, beginnen die Lampen zu flackern. Ein Kleinod von Wohnung ist entstanden, in dem man sich wohlfühlt. Die Atmosphäre lässt Gäste beim Betreten der Räume im ersten Moment verzaubert seufzen. Nicht, weil es so schön oder luxuriös wäre, sondern weil der Uhu wirkt. Das ist nicht unser Verdienst. Es geschieht einfach. Die Lampen flackern. Wir haben komplett neue Stromleitungen verlegt, der Sicherungskasten und die Netzwerkkonfiguration sind top. Doch pünktlich vor und während der Nachrichten flackern die Lampen. Dazu kommt noch ein Brummen in den Heizungsrohren, dass wir meinen, eine Dampflock stehe im Leerlauf und mit verstopftem Kessel unter dem Haus. Ein Vierteljahr geht das so. Es fühlt sich einerseits wie eine Art Energiestau an und andererseits wie ein unentwegter unterirdischer Mahnruf oder zumindest ein Ruf nach Aufmerksamkeit. Neunzehn Uhr, und das Konzert der Rohre und Leuchtkörper bricht los. Die Hausverwaltung wird informiert. Der Elektriker kommt wiederholt ins Haus, misst hier und da und schüttelt den Kopf. Er kommt am Abend exakt zur fraglichen Zeit. Aber egal, wie lange er bleibt: kein Flackern. Und keine Geräusche. Der Elektriker verabschiedet sich, hält uns für närrisch. Kaum ist er auf der Straße, flackern die Lampen. Und es brummt. Gut, das Brummen verschwindet eines Tages, als sich die Hausverwaltung bequemt, einen Heizungsfachmann vorbeizuschicken. Endlich wird das Fernwärmesystem im Keller überprüft. Es stellt sich heraus, dass es kurz vor dem Zusammenbruch steht. Veraltet, schlecht gewartet, gefährlich. Der Fachmann murmelt etwas von „Schwein gehabt“ und „Gut, dass sie sich gerührt haben!“ Haben wir gar nicht. Der Uhu war es. Gott sei Dank. Und als Gegenleistung heiße ich das Lampenflackern jetzt allabendlich herzlich willkommen. Gäste, die unser Hausgeist mit Wohlwollen aufnimmt, bekommen ein langsames Flackern als Resonanz, kaum dass sie eine Weile auf dem Sofa sitzen. Nicht so gute Strömungen werden mit schnellem Flackern quittiert. Keine Meinung zu einem Gast: kein Flackern. Lieber Gott, bitte beschütze meinen Hausgeist und schenke ihm Zuversicht und Liebe! Und bitte beschütze meine Familie!
Apropos Familie. Es ist der 15. Februar 1991, spät in der Nacht. Mein Vater hält meine Hand und atmet das letze Mal ein und aus. Ich bin bei ihm, und ich kann Vater einen kleinen Hoffnungsschimmer schenken: Ich habe ein neues Engagement in Aussicht und bin erleichtert, ihm davon erzählen zu können. Er ist immer voller Interesse für mein berufliches Vorankommen. Seine Hand in meiner Hand. Er kann nicht mehr sprechen, die Augen sind geschlossen. Er nickt kaum spürbar. Erleichterung – er atmet noch einmal tief ein und wieder aus. Dann Stille. Das ist der Abschied zwischen ihm und mir.
Am Abend sitzt unsere Familie beisammen. Wir sprechen intensiv über ihn. Plötzlich ist es stockfinster. Stromausfall? Ich weiß, wo ich die Taschenlampe finde, gehe zum Sicherungskasten. Alle Sicherungen sind rausgesprungen. Ich regle das und setzte mich wieder zu den anderen. Das Licht ist wieder an, einige elektrische Geräte machen einen automatischen Reset. So auch unser altmodischer Anrufbeantworter. Wir hören die Stimme meines Vaters, er hatte das Ansageband besprochen: „Hallo, hier ist der Anschluss von Ursula und Heinrich Majowski. Schön, dass Sie anrufen. Bitte hinterlassen Sie nach dem Ton eine Nachricht. Wir werden uns umgehend bei Ihnen melden.“ Ein sehr bewegender Moment. Seine Stimme war laut und deutlich im Nebenraum, wo das Telefon stand, zu vernehmen. Unheimlich, aber auch schön. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.
Einige Tage später. Wir haben gute Freunde zu Besuch, und wir reden über Gott, Abschied, den Sinn des Lebens und die herrliche Musik, die mein Vater als Berliner Philharmoniker uns, seiner Familie und seinem Publikum in aller Welt geschenkt hat. Ich berichte von der Nacht seines Todes und wie das war mit dem Stromausfall und seiner Stimme auf dem Band. Plötzlich: Rums! Wie an seinem Todestag. Alles ist dunkel. Ich gehe wieder zum Sicherungskasten und schalte die Sicherungen ein. Wieder hören wir seine Stimme aus dem Nebenraum. „Hallo, hier ist der Anschluss ...!“ Ich weiß nicht, was mich mehr bewegt hat: die Stimme meines Vaters, die Gesichter der Freunde oder der Umstand, dass mir einfach seine Gegenwart bewusst wurde.
Zu Besuch, als Schutzengel, kommt mein Vater heute immer noch gerne vorbei. Er braucht damals eine Weile, um Abschied zu nehmen. Ich mache es ihm auch nicht leicht.
Ich neige dazu, mich in etwas hineinzusteigern. Und genau das ist das Problem. Ich steigere mich gerne, weil ich den Kick brauche. Ich suche ihn förmlich. Das gibt mir ein Gefühl von Wachheit. Das kann ich aber nicht in allen Lebenslagen tun. Es ist einfach nicht zu bewältigen.
Die Geschichten, die mir passieren, sind immer von Zeichen bestimmt, die mir auf meinem Lebensweg helfen sollen. Ich gehe damit vorsichtig um, und ich habe lange überlegt, ob ich sie aufschreiben soll. Gott hat all seinen Geschöpfen gewisse Handlungsmöglichkeiten gegeben. Hier bin ich!
So, und nun du! Herr, lass die Lampen flackern! Nicht? Gut! Wünschen ist erlaubt. Beginne ich etwas weiter vorne.