Читать книгу Berufsabschluss für Erwachsene in der Schweiz - Philipp Gonon, Emil Wettstein, Markus Mäurer - Страница 31
3.2.3 Sozialpolitische Ziele
ОглавлениеFehlende (Berufs-)Ausbildung ist einer der zentralen Faktoren, die das Risiko für Arbeitslosigkeit und Sozialhilfeabhängigkeit erhöht: Personen ohne berufliche Grundausbildung und solche, die im erlernten Beruf nicht mehr arbeiten können, verursachen der Gesellschaft vermehrt Kosten. Die «Working-Poor-Quote» der Erwerbstätigen ohne nachobligatorische Ausbildung ist 2,7-mal höher als der Durchschnitt (11,4 %) (BFS, 2007). Von den Erwerbstätigen in sogenannten Tieflohnstellen verfügen 32 Prozent über keine Berufsausbildung, weitere 44 Prozent über keinen eidgenössisch anerkannten Abschluss (BFS, 2012). Personen ohne Abschluss auf Sekundarstufe II sind weniger häufig erwerbstätig (70 %) als der Durchschnitt der Bevölkerung (83 %) (von Erlach, 2015). Die Erwerbslosenquote liegt deutlich höher als bei Personen mit höheren Abschlüssen, 2014 mit 8,3 Prozent doppelt so hoch wie bei Personen mit Abschluss auf Sekundarstufe II – und die Kluft wird ständig grösser (→ Abbildung 3-2; Ruch et al., 2015, S. 25). Die Armutsquote ist mit 13,9 Prozent doppelt so hoch wie diejenige von Personen mit einem Abschluss auf Sekundarstufe II (7,3 %) (Ruch et al., 2015, S. 99).
Abbildung 3-2 Qualifikationsspezifische Erwerbslosenquote gemäss ILO-Kriterien, 1996–2014. Quelle: BFS – Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (SAKE)
Im Rahmen einer Untersuchung der Berner Fachhochschule (Fritschi, 2009) wurde versucht, die Einsparungsmöglichkeiten abzuschätzen, die sich aus dem Nachholen eines Berufsabschlusses ergeben. Aufgrund von Zahlen der SAKE kamen die Autoren zum Schluss, dass Erwerbstätige ohne Sekundarstufe-II-Abschluss jährlich rund 15 600 Franken weniger verdienen als solche mit Abschluss (Berechnung vgl. Fritschi, 2009). Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand ohne Sek-II-Abschluss eine IV-Rente oder eine Rente infolge eines Unfalls oder einer Krankheit bezieht, ist 2,3-mal grösser. Diese Gruppe bezieht auch öfter Sozialhilfe, ist weniger häufig erwerbstätig und leidet eher unter physischen oder psychischen Problemen. All dies hat zur Folge, dass nach Meinung der Autoren von gesellschaftlichen Kosten von rund 10 000 Franken pro Jahr und ausbildungslose Person ausgegangen werden muss.
In einer späteren Studie geht das gleiche Team von Kosten von 6000 bis 10 000 Franken pro Jahr und Person aus. Bezüglich der während eines ganzen Lebens anfallenden Kosten schreiben sie: «Ab dem Alter von 25 Jahren verursacht die Ausbildungslosigkeit gesellschaftliche Kosten von zwischen 230 000 Franken (Diskontsatz 1 %) und 160 000 Franken (Diskontsatz 3 %)» (Fritschi et al., 2012, S. 39).
«Nachdem ich über mehrere Jahre von der Sozialhilfe abhängig gewesen war, begann ich im geschützten Rahmen eine Ausbildung als Hauswirtschaftspraktikerin EBA. Aufgrund meiner guten Leistungen konnte ich innerhalb des ersten Semesters in die dreijährige Ausbildung als Fachfrau Hauswirtschaft EFZ wechseln. Schwerwiegende familiäre Probleme und der unerwartete Tod meiner Mutter stürzten mich im Verlauf des zweiten Lehrjahres in eine schwere Krise. Durch regelmässige Coachings und die erfolgreiche Vermittlung in eine Therapie erlangte ich wieder Boden unter den Füssen und absolvierte ein Jahr danach mein EFZ. Danach trat ich direkt eine Festanstellung im ersten Arbeitsmarkt an.»
S. S
Der Bundesrat schätzte im Jahr 2000 die Kosten noch höher ein: Die «systematische Integration von Problemfällen in die Berufswelt» – dazu zählen heute Personen ohne berufliche Grundbildung – erspare allein bei den Sozialhilfeleistungen 18 000 Franken pro Person und Jahr (Schweizerischer Bundesrat, 2000, S. 5740)
Es ist deshalb ein anerkanntes Ziel vieler Massnahmen, geringqualifizierte Personen beruflich zu fördern. Das Problem dabei: Es sind grosse Investitionen erforderlich, vor allem wenn die Förderung über eine Grundbildung erfolgt. Denn in diesem Fall müssen während Jahren Beiträge an die Deckung des Lebensunterhalts geleistet werden (→ Abschnitt 6.1).
Je nach Zielgruppe gibt es verschiedene Programme, die diese Zielsetzung verfolgen:
•Eine Koordination zwischen den zuständigen Stellen für Sozialhilfe und Ausbildungsbeiträge ermöglicht es Sozialhilfe-Beziehenden, zu Lernenden zu werden (→ Abschnitte 7.7 und 7.8).
•Einige Programme haben vor allem alleinerziehende Mütter im Fokus (→ Abschnitt 7.12).
•Migranten und Migrantinnen mit geringer Bildung (einschliesslich Illettristen) werden im Bereich der Grundkompetenzen und der Lokalsprache so weit gefördert, dass sie eine Tätigkeit im ersten Arbeitsmarkt aufnehmen können.
•Migranten und Migrantinnen mit einer guten, in der Schweiz aber nicht anerkannten Ausbildung wird geholfen, ihre Ausbildung anerkennen zu lassen und/oder vorhandene Lücken zu schliessen, was ihnen eine ausbildungsadäquate Tätigkeit ermöglicht (vgl. Schneider, 2015a).
•Stellenlosen wird ermöglicht, ihre Kompetenzen in Programmen zu vertiefen, die auch dann weitergeführt und beendet werden können, wenn sie wieder eine Arbeit gefunden haben (→ Abschnitt 7.2).
EXKURS 1: Einwände
In Diskussionen um die Förderung von Berufsabschlüssen für Erwachsene kreisen die Fragen und Einwände oft um folgende Aspekte:
–Wir konzentrieren unsere Kräfte darauf, möglichst vielen Jugendlichen einen Abschluss zu ermöglichen. Es ist sicherlich richtig, möglichst vielen Jugendlichen einen Abschluss zu ermöglichen. Für einige ist aber das Alter zwischen 16 und 20 nicht die richtige Zeit für eine Ausbildung. Dann ist es sinnvoller zu warten, bis die jungen Menschen selbst die Kraft und Motivation finden, eine Grundbildung in Angriff zu nehmen. Weiter ist zu beachten, dass das Fehlen eines Abschlusses mehrheitlich nicht damit zusammenhängt, dass die Betroffenen nie in eine Ausbildung eingestiegen wären, sondern damit, dass die Ausbildung abgebrochen wurde. 30 bis 50 Prozent aller Lehrvertragslösungen führen zu einem Ausbildungsabbruch, das sind 6 bis 10 Prozent eines Altersjahrgangs (Wettstein, Schmid & Gonon, 2014, S. 186, Fussnote).
–Nicht jeder Mensch kann einen Abschluss machen. Das ist wohl richtig. Aber jeder, der die Fähigkeiten dazu hat und irgendwann im Leben die nötige Motivation aufbringt, soll die Möglichkeit dazu bekommen, auch wenn er oder sie bereits weit über 20 ist. Und zudem gibt es für Erwachsene auch Angebote mit bescheidenerem Niveau (→ Abschnitt 5.5).
–Wir benötigen Spitzenkräfte. Unter Ausbildungsverweigerern befinden sich immer wieder Personen, die sich durch ihre Unternehmungslust und/oder eine gewisse Rebellion gegenüber Hierarchien und konventionellen Strukturen auszeichnen. Darunter sind durchaus potenzielle Spitzenkräfte zu finden, wie etwa Karrieren von «68ern» gezeigt haben. Im Übrigen zeigt die neuste Manpower-Umfrage, dass heute «Facharbeitende» gesuchter sind als Ingenieure, IC-Spezialisten und Gesundheitspersonal. (Manpower, 2015).
–Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen. Gewiss. Wenn jemand aber einsieht, dass er oder sie etwas verpasst hat, dann ist es nicht nur im Interesse der Person selbst und der Wirtschaft, sondern der ganzen Gesellschaft, dass er oder sie einen Abschluss nachholen kann, denn Ungelernte sind in hohem Masse gefährdet, immer wieder arbeitslos und oft auch abhängig von der Sozialhilfe zu werden: Von den Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern im Alter von 25 bis 34 Jahren verfügt mehr als die Hälfte über keinen Abschluss der Sekundarstufe II. Das sind etwa 18 000 junge Menschen, die noch dreissig und mehr Berufsjahre vor sich haben. Mit einer «systematischen Integration von Problemfällen in die Berufswelt» können u. a. die Sozialversicherungen entlastet werden. Der Bundesrat schätzt die Einsparungen auf bis zu 18 Millionen Franken pro 1000 Jugendliche und Jahr (Schweizerischer Bundesrat, 2000, S. 5740).
–Mit dem Validierungsverfahren und der direkten Zulassung zur Abschlussprüfung haben wir gute Möglichkeiten zur Anerkennung von Gelerntem. Das gilt für Personen mit einschlägigen Vorkenntnissen. Wer nicht bereits über einen grossen Teil der für einen Abschluss erforderlichen Kompetenzen verfügt, dem bleibt heute nicht viel anderes übrig, als eine Grundbildung zu absolvieren.
Die Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik zeigt, dass der monatliche Bruttolohn von Personen mit einer abgeschlossenen Berufsbildung um fast 1200 Franken höher liegt als der von Personen ohne Berufsbildung (→ Abbildung 3-3).
Abbildung 3-3 Zusammenhang zwischen durchschnittlichem monatlichen Bruttolohn und Ausbildung. Quelle: BFS, Lohn-Strukturerhebung, Standardisierter Monatslohn 2010.
Die Grafik zeigt auch, dass eine interne Ausbildung, zum Beispiel eine Kurzausbildung (→ Abschnitt 5.5), Vorteile bringt: Der Medianlohn von Personen mit einer solchen Ausbildung ist immerhin um gut 600 Franken höher als jener von Personen ohne. Weiter wird auch der Lohnzuwachs deutlich, den Ausbildungen auf nächsthöheren Bildungsstufen mit sich bringen, für die eine abgeschlossene formale Berufsbildung Voraussetzung ist. Gleichzeitig erhöht sich durch einen Berufsabschluss die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt, was das Risiko, arbeitslos zu werden, verringert.