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Zweite Szene

Die Jungen (Ernst, Hänschen, Georg, Melchior, Moritz) beim Basketballspielen. Letzter Korb.

Hänschen

Was soll das?

Melchior

Das ist mir zu langweilig. Ich mach nicht mehr mit.

Hänschen

Okay, Moritz und Georg.

Georg

Hast Du schon Latein gelernt?

Melchior

Spielt ruhig weiter.

Moritz

Wohin gehst du?

Melchior

Spazieren.

Ernst

Es wird ja dunkel.

Melchior

Warum soll ich nicht im Dunkeln spazieren gehen?

Georg

Gerundium! - Plusquamperfekt! - Übersetzung! - ACI!

Moritz

An nichts kann man denken, ohne dass einem die Schule dazwischen­kommt!

Hänschen

Ich geh nach Hause.

Ernst

Ich auch.

Georg

Gute Nacht.

Melchior

Gute Nacht.

Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.

Melchior

Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind!

Moritz

Und wozu wir in die Schule gehen! – Ich kann’s dir sagen: (zeigt auf seinen Kopf) Damit sie uns vollstopfen können! – Und warum stopfen sie uns voll? – Damit sie uns prüfen können! – Und warum prüfen sie uns? – Damit wir durchfallen.

Melchior

Kennst du die Gauß’sche Normalverteilung?

Moritz

Was?

Melchior

Die Gauß’sche Normalverteilung. Die Notenkurve sieht immer aus wie ein ... wie ein Grabhügel. Wenig gute Noten, wenig schlechte, viel Durchschnitt. Das heißt, ein paar von uns werden immer durchfallen.

Moritz

Wenn mein Vater nicht wär, ich wär schon längst über alle Berge. – – – Mir ist so komisch zu Mute. Siehst du die schwarze Katze?

Melchior

Glaubst du an so was?

Moritz

Ich weiß nicht. – Es hat nichts zu sagen.

Melchior

„Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die jeder stürzt, der sich aus der Skylla religiösen Irrwahns emporgerungen.“

Moritz

Wer sagt das?

Melchior

Wedekind, Frühlings Erwachen.

Moritz

In Deutsch bin ich genauso schlecht wie in Latein.

Melchior (dozierend)

mens sana in corpore sano.

Moritz

Was machst du?

Melchior

Ich ziehe mein T-Shirt aus. Es ist klatschnass. Wenn der Schweiß trocknet, wird er kalt. Na los! Oder traust du dich nicht?

Moritz (zieht sein T-Shirt aus)

Glaubst du an so etwas wie Schamgefühl?

Melchior

Schamgefühl? Das war nur ein T-Shirt, mein Freund. Stell dir vor, du musst dich GANZ ausziehen. Hier. Jetzt. Sofort. Würdest du es tun?

Moritz

Nein.

Melchior

Angsthase.

Moritz

Als ob DU dich trauen würdest!

Melchior

Sag so was nicht, Moritz. Ich würde es tun, aber nur, wenn du es auch tust!

Moritz

Angeber!

Melchior

Eigentlich ist es einfach. (Zieht sich Schuhe und Strümpfe aus.)

Moritz (wird unruhiger)

Komm, hör doch auf damit!

Melchior

Was denn? Das sind doch nur Schuhe, und das hier Strümpfe. Es ist nichts dabei. Auch Füße brauchen Luft und Bewegungsfreiheit. Sie wollen atmen, siehst du die Zehen, wie sie sich biegen vor Lust? Na los, mach schon!

Moritz

Und wenn jemand vorbeikommt? Martha Bessel oder ... Wendla Bergmann!

Melchior

Wendla? Umso besser. Die würde sofort mitmachen. Die hätte keine Scheu. Sie wäre nackt, noch ehe wir hingucken könnten.

Moritz

Oder ... unsere Eltern?

Melchior

Sind mir egal. Na los, worauf wartest du? Wenn ich es kann, kannst du es auch. (Öffnet langsam die Schnüre seiner kurzen Sporthose.)

Moritz (Tritt nah zu Melchior, nimmt ihm die Hände weg.)

Hör auf, Melchi. Ich kann es nicht. Ich weiß, es ist lächerlich. Aber ich kann es nicht! – Leise Weißt du, wenn ich Kinder habe, egal ob Jungen oder Mädchen, dann werd ich sie von Anfang an im selben Zimmer schlafen lassen, im selben Bett, sie sollen sich gegenseitig beim An- und Ausziehen helfen und dieselbe Kleidung tragen. Wenn sie so aufwachsen, dann werden sie später ruhiger sein als wir. Von Anfang an werden sie ALLES sehen und ALLES kennen. Es gibt nicht den Schimmer von Geheimnis. – – – Eine Frage –

Melchior

Ja?

Moritz

Aber du musst antworten.

Melchior

Klar!

Moritz

Die Wahrheit?!

Melchior

Meine Hand drauf.

Moritz

Hast du schon Latein gelernt???

Melchior

Was soll das? – Los, raus damit!

Moritz

Hast du schon mal...?

Melchior

Was?

Moritz

...hm...

Melchior

...du meinst...

Moritz

... ja ...

Melchior

...ONANIERT?

Moritz

Mhm.

Melchior

Klar!

Moritz

Ich auch.

Melchior

Ich kenn das schon lange!

Moritz

Ich wusste gar nicht, was das ist. Ich war völlig...

Melchior

Gewissensbisse?

Moritz

Gewissensbisse?? – – – TODESANGST! Ich hatte keine Ahnung. Und du? Seit wann...?

Melchior

Schon fast ein Jahr.

Moritz

Aber du bist doch jünger als ich!

Melchior

Das Alter spielt keine Rolle. Kennst du den Lämmermeier? Strohgelbes Haar? Adlernase? Der ist drei Jahre älter als ich. Hänschen Rilow sagt, der träumt immer noch von Aprikosengelee.

Moritz

Woher will Rilow das wissen?

Melchior

Er hat ihn gefragt.

Moritz

Er hat ihn gefragt? – Das hätte ich mich nicht getraut.

Melchior

Wieso? Du hast mich doch auch gefragt.

Moritz

Stimmt. – Weißt du, Melchior, ich kann mich niemandem mehr nähern, ohne etwas Verabscheuungswürdiges dabei zu spüren. Wenn ich nur wüsste, wie sich das anfühlt! Wie soll ich da an Latein denken!? Wenn ich morgen keine drei schreibe, ist es vorbei. Und wenn mein Vater erfährt, dass ich nicht versetzt werde – – – Warum bin ich geboren? Meine Eltern hätten hundert bessere Kinder haben können als mich. Ich bin hier und weiß nicht, warum, und soll mich dafür verantworten, dass ich nicht weg­geblieben bin. – Hast du schon mal darüber nachgedacht, Melchior, wie wir eigentlich in diesem Strudel bestehen können?

Melchior

Sich fortreißen lassen, Moritz. Sich fortreißen lassen. (Er legt Moritz herausfordernd seine Hand auf den Schenkel.) Übrigens: Was magst du lieber: Muscheln oder Schnecken?

Moritz (überlegt, flüstert)

Muscheln, und du?

Melchior (rückt näher)

Mir schmeckt beides.

Moritz (nah bei Melchior, leise)

Ich muss Latein üben.

Melchior

Ich kann dir helfen. Komm mit auf mein Zimmer. (Zweideutig) Dann frag ich dich ab.

Moritz

Nein, Melchior.

Melchior (nimmt ihm den Basketball ab)

Pass auf, Moritz, wenn ich treffe, kommst du mit! (Wirft den Basketball, verfehlt den Korb, fängt den Ball wieder.)

Moritz

Gib mir den Ball.

Melchior

Hol ihn dir!

Die beiden beginnen einen spielerischen Ringkampf, an dessen Ende Melchior Moritz in den Schwitzkasten nimmt, Moritz auf den Knien neben ihm, in Richtung Publikum, als hätte Melchior den Kopf des anderen unterm Arm. Das Bild wie in III, 6. Beide blicken ins Publikum.

Moritz (langsam)

Ich krieg keine Luft mehr.

Melchior (lockert den Griff ein wenig)

Kommst du JETZT mit?

Moritz

Nein, Melchior. Um büffeln zu können, muss ich stumpfsinnig sein wie ein Ochse.

Frühlings Erwachen

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