Читать книгу müllersches volksbad - Markus Seidel - Страница 6

4

Оглавление

In meinem Adressbuch stand die Telefonnummer von Alexanders Nachbarin, Frau Dose. Bevor ich mich auf den Weg nach München machte, musste ich sichergehen, dass ich überhaupt Zugang zu seiner Wohnung hatte. Ich ließ es lange klingeln, ohne dass sich etwas tat, legte auf, drückte auf Wahlwiederholung, wartete. Schließlich ist sie schwerhörig, dachte ich, und bedauerte, dass man es als Anrufer nicht auch

laut

klingeln lassen konnte. Gerade wollte ich auflegen, da meldete sich Frau Dose. Als ich ihre leise und etwas brüchige Stimme hörte, sah ich sie förmlich vor mir: klein, lila Haare, mausgrauer Rock, graue feste Lederschuhe mit blassgelber Gummisohle, brauner Pullover. Sie steht in der Küche, auf dem Herd ein kleiner Kochtopf mit rotem Blümchenmuster. Drei einsame und sorgsam geschälte Kartoffeln schwimmen darin herum, das kochende Wasser blubbert hin und wieder über den Topf und verursacht ein Zischen auf dem heißen Herd. Auf der Nachbarplatte wird der Rotkohl vom Vortag aufgewärmt, zusammen mit dem Fleisch. In ihrer völlig überheizten Wohnung riecht es nach Essen. Vermutlich trägt sie einen Hauskittel, den sie ein Mal in der Woche wäscht, obwohl er noch vollkommen sauber ist.

Ja, sie habe die Schlüssel, hörte ich sie sagen. Alexander habe sie ihr vor etwa einer Woche gebracht. - Ob ihr etwas an ihm aufgefallen sei, erkundigte ich mich. - Nicht dass sie wüsste, entgegnete Frau Dose, was ihr denn hätte auffallen sollen? Ob er krank sei? Worum es denn genau gehe? Im Hintergrund hörte ich eine Eieruhr klingeln. Ob mein Bruder etwa verschwunden sei? Himmel, wie hartnäckig neugierig sie war! Ich sagte ihr, dass ich mir die Schlüssel morgen holen würde, so gegen elf, ob ihr das recht sei? - Ja, ich solle ruhig kommen, sie sei daheim. Ich legte dann auf, bevor sie einen weiteren Anlauf nehmen konnte, etwas aus mir herauszuquetschen.

Bedingt durch meine kurzfristige Reservierung waren für die Zugfahrt von Hannover nach München sowohl sämtliche Liege- als auch Schlafplätze vergeben, so dass ich gezwungen sein würde, die neun Stunden lange Reise im Sitzen hinter mich zu bringen. Schon liegend habe ich beim Zugfahren meine Schwierigkeiten mit dem Schlafen. Noch schlechter hingegen dürfte es mir also sitzend gelingen. Ich richtete mich entsprechend darauf ein, hatte mein I-Pod eingesteckt und etwas zu schreiben. Ich nahm mir vor, die Zeit der Schlafverhinderung möglichst sinnvoll zu nutzen. Hunter S. Thompson wartete schließlich auf mich, mein Artikel, der endlich für den Durchbruch sorgen sollte. Auf der Zugfahrt würde ich an den ersten Sätzen feilen. In knapp zwei Wochen war Abgabetermin und Kurbald, mein Chef, war schon sehr neugierig; ich hatte ihm gegenüber einige Andeutungen zu meinem Beitrag gemacht und von bisher unbekannten Informationen und Neuigkeiten gesprochen, die ich exklusiv bekäme. Natürlich hatte ich da etwas übertrieben, aber ich musste den Mann bei der Stange halten. Schon einmal nämlich hatte er mir einen Strich durch die Rechnung gemacht, als er mir kurz vor der Fertigstellung eines Beitrages zu Thomas Bernhard und die Frauen, an dem ich über eine Woche gesessen hatte, zunächst mitteilte, dass das Erscheinen verschoben würde. Er wurde dann allerdings noch weitere zweimal verschoben, und am Ende hieß es, dass man ihn nicht mehr bringen könne, aber wenn ich wolle, könne ich ihn ja an eine andere Zeitung verkaufen. Das hatte ich dann auch versucht, aber es fand sich bloß ein einziges Blatt, das meinen Text über Thomas Bernhard und die Frauen drucken wollte, und zwar die Schülerzeitung eines Mädchen-Gymnasiums in Celle. Die Schwester eines damaligen Praktikanten unserer Zeitung ging auf diese Schule. Sie hatte diese Schülerzeitung ins Leben gerufen und der Praktikant hatte ihr meinen Beitrag zu lesen gegeben. Ich bekam drei oder vier Leserbriefe von Schülerinnen, die mich darauf hinwiesen, dass ich das Geburtsdatum von Bernhard unkorrekt angegeben hatte, und ich ärgerte mich dann, dass ich der Schülerzeitung meine Einwilligung gegeben hatte, den Text zu drucken, noch dazu honorarfrei.

Als ich mein Abteil betrat, saßen bereits zwei Leute an den Fensterplätzen: Rechts eine ältere Dame in dunkelgrünem Rock, einer gleichfarbigen Joppe mit Hirschhornknöpfen und einem grünen Hut, den sie auch jetzt noch trug. Eigentlich fehlten bloß noch die Flinte und der Jagdhund. Sie roch nach Seife. Das ganze Abteil war erfüllt von diesem durchdringenden Seifengeruch. Schon im Gang hatte ich ihn wahrgenommen, obgleich die Abteiltür geschlossen war. Ihr gegenüber saß ein Typ mit kurzen, mittelblonden Haaren und schlanken Fingern ohne Ring. Er trug Jeans und ein enges weißes Hemd. Ob die beiden zusammengehörten? Mutter und Sohn auf Reisen? Eher unwahrscheinlich. Fast war ich froh, dass ich keinen Liegeplatz mehr bekommen hatte. Einer von beiden, soviel stand fest, saß unberechtigterweise am Fenster, denn ein Platz - links oder rechts, die Alte im Jagddress oder der Schöne, ich wusste es nicht - war von mir reserviert. Nachdem ich mit einem kräftigen Ruck das Fenster geöffnet hatte, um den Seifengeruch zu vertreiben, griff ich in die Innentasche meiner Jacke, in der sich das Portemonnaie mit dem Fahrschein und der Reservierung befand. Es stellte sich heraus, dass mir der rechte Platz gehörte. Der, auf dem die ältere Dame saß. Folglich würde ich also vis-a-vis dem Schönen sitzen. Ideal, dachte ich. Vielleicht würde es uns sogar gelingen, die Alte aus dem Abteil zu vertreiben, dann wären wir ungestört.

Eine angenehme Fahrt stand mir also bevor: Ich würde dem Schönen gegenübersitzen, wir würden die ganze Nacht reden, ich würde ihm aus meinem Leben erzählen, und wenn er wie ich bis München fuhr, würden wir uns dort schon bald wiedersehen. Ich lächelte bei diesen Gedanken. Der Schöne sah mich an und lächelte zurück. Nun musste ich handeln. Ich wandte mich an die Jägerin, tippte mit dem Zeigefinger auf meine Reservierung und erklärte ihr höflich, dass sie auf dem falschen Platz säße. Ich sprach etwas lauter als sonst, sie war schließlich nicht mehr die Jüngste und ich wollte nicht alles zweimal sagen. Sie sah sie mich an und strich ihren Rock glatt. Blieb sitzen. Dieser Platz sei reserviert, sagte ich, noch etwas lauter, und versuchte, höflich zu bleiben. Hatte sie mich überhaupt verstanden? Ich lächelte, versuchte, ein mitleidiges Gesicht zu machen und warf dann dem Schönen ein Blick zu. Er erwiderte ihn, allerdings nur kurz, dann schaute er zum Fenster hinaus. Wie rührend schüchtern er ist, dachte ich. Richtig süß.

Ich bräuchte nicht so zu schreien, sagte die Alte leise, sie sei schließlich nicht taub. Dann murmelte sie etwas vor sich hin, das ich nicht verstand, und war schon im Begriff, aufzustehen. Plötzlich aber hielt sie inne, als der Schöne sich zu Wort meldete und mich bat, die Frau am Fenster sitzen zu lassen. Ich blickte zunächst irritiert und wollte etwas erwidern, als er hinzufügte, dass die Dame bereits seit zehn Minuten hier säße und ich schließlich eben erst gekommen sei. Komisches Argument, dachte ich. Zweifellos war die Rechtslage geklärt - der Fensterplatz war meiner, gleichgültig, wer auch immer hier zuerst aufgetaucht war. Ich ließ mich nicht beirren. Männer mögen Frauen, die konsequent bleiben, dachte ich, und wies erneut höflich aber entschlossen auf die Reservierung hin. Plötzlich aber stand der Schöne auf, strafte mich mit strengem Blick und bot der Dame seinen eigenen Platz am Fenster an. Plötzlich fiel mir auf, dass er eigentlich viel zu dünn war für seine Größe. Seine Füße waren riesig, seine Lippen zu schmal, er hatte einen klassischen Strichmund, den ich tatsächlich noch nie gemocht hatte. Ich wunderte mich, dass mir das alles nicht schon viel früher aufgefallen war. Schlichte Schönheit - nun ja. Strenggenommen war sie bloß schlicht. Ich würde mich nicht auf ihn einlassen, so viel stand fest.

Die nächsten neun Stunden mussten wir es nun miteinander aushalten. Egal, dachte ich, wenn ich schon Zug fahren muss, dann nur am Fenster sitzend, selbst wenn es so schmutzig war wie dieses hier, darauf musste ich nun einmal bestehen. Eine Weile blickte ich stumm aus dem Fenster. Es hatte zu regnen begonnen. Tropfen schlugen gegen die Scheibe und zogen gegen die Fahrtrichtung davon, manche vereinigten sich mit anderen Tropfen. Hin und wieder verfolgte ich den einen oder anderen, bis er am Rand der Fensterscheibe verschwand.

„Darf ich fragen, bis wohin Sie fahren?“, hörte ich plötzlich den Hübschen fragen. Na bitte!, dachte ich erleichtert und war sofort wieder versöhnt. Offenbar hatte er eingesehen, dass man sich arrangieren muss, will man neun Stunden auf wenigen Quadratmetern halbwegs friedlich verbringen. Schließlich waren wir erwachsene Menschen. Ich warf ihm also einen freundlichen Blick zu: „Bis Mün-“

„Bis Augsburg“, sagte die alte Dame. „Und Sie?“

„Bis München“, meinte der Hübsche.

„Ich auch!“, warf ich ein. Natürlich wurde es gar nicht zur Kenntnis genommen wurde. Na schön, sie wollten es so, ich würde nicht mehr mit ihnen reden. Ich brauchte keine Unterhaltung, im Gegenteil. Ich hatte zu arbeiten und holte meine Unterlagen zu Hunter S. Thompson hervor.

In den folgenden dreißig Minuten tauschten die beiden Frauen eine Kurzform ihrer jeweiligen Lebensgeschichte aus. Es war ermüdend und natürlich kam ich nicht zum Lesen. Man läuft sich über den Weg, dachte ich, und kann es kaum abwarten, sich kurzerhand die jeweiligen Biographien um die Ohren zu schmeißen. Entsetzlich. Die Alte, so erfuhr ich, war Psychologin, der Schöne studierte Jura. Herrgott, wie öde! Gut, dass er nicht mein Typ war. Bald schon wurde ich schläfrig. Ich legte die Unterlagen zurück in die Tasche. Ob es möglich sei, das Licht zu löschen, bat ich. Der Schöne blickte zu mir herüber und lächelte schwach: „Binden Sie sich einfach Ihren Schal um den Kopf“, sagte sie, „das ist fast wie Licht aus!“ Natürlich ließ ich den Schal da, wo er war und schloss trotzig die Augen. Während der nächsten Minuten sprach niemand ein Wort, und ich sank tatsächlich in leichten, angenehmen Schlaf. Der Rhythmus der Gleise, der prasselnde Regen gegen die Scheibe und das sanfte Schaukeln des Zuges taten ihr übriges.

Sie habe eine Frage, hörte ich plötzlich den Schönen sagen. Bestimmt gäbe es eine psychologische Erklärung für sein Verhalten, er wolle es also kurz einmal schildern, wenn es keine Mühe mache. Er sprach absichtlich laut, wie mir schien. Ich ließ mir nichts anmerken und hielt die Augen geschlossen. Überlegte kurz, ob ich ein Schnarchen simulieren sollte.

„Und zwar geht es um Folgendes“, begann er. „Vor kurzem war ich mit meiner Freundin im Urlaub. In unserem Hotel waren auch deutsche Touristen. Jeden Morgen sind sie ganz früh zu den Liegen am Pool gegangen, um sie mit ihren Handtüchern zu reservieren. Meine Freundin und ich haben das zuerst natürlich nicht mitgemacht. Aber weil wir nie eine Liege hatten, haben wir nach drei oder vier Tagen auch diese Handtuchmethode angewandt. Komischerweise hatten wir bald überhaupt keine Gewissensbisse mehr.“

Was sollte das jetzt? Ich öffnete die Augen und blickte irritiert zu ihr herüber. Sie erwiderte meinen Blick, verzog eigenartig den Mund und wandte sich dann wieder an ihre Sitznachbarin. Die Alte grinste verständnisvoll und nickte.

„Ich meine, zuerst fanden wir das auch blöd, was die anderen machten“, fuhr er fort, „und dann waren wir um nichts besser! Und hatten nicht mal ein schlechtes Gewissen! Es ist unglaublich.“

Die Alte lächelte wissend. „Ja, interessant“, sagte sie und strich sich über den Rock, „aber überhaupt nicht ungewöhnlich. Es gibt sogar eine wissenschaftliche Erklärung dafür.“ Sie machte eine Pause. Offenbar wusste sie, wie man Spannung erzeugt. Die Hübsche rutschte unruhig auf ihrem Sessel hin und her. Ich ahnte, was nun käme: Vermutlich irgendein psychologischer Mumpitz - schwierige Kindheit, schlechte Träume, was auch immer.

„In einem solchen Fall sind Sie gewissermaßen infiziert worden“, meinte die Psychologin. Die Hübsche lachte mit offenem Mund. Sie hatte makellose weiße Zähne.

„Sie sind sozusagen der Wirt“, fuhr die Alte fort, „und zwar der Wirt eines Virus of the mind, eines Virus des Geistes.“ Jetzt horchte ich doch auf. Die Frau hatte etwas zu sagen, zweifellos.

„Ein Evolutionsforscher, Dawking oder Dawkins, ich weiß es nicht mehr genau, ging davon aus, dass sich nicht alle Phänomene unseres Lebens mit unseren Genen erklären lassen. Vor allem nicht die kulturellen Angelegenheiten, verstehen Sie?“ Was genau sie mit kulturell meine, wollte der Schöne wissen. - Moden zum Beispiel, oder Melodien. Oder bestimmte Verhaltensweisen, wie eben diese Handtuchmethode. - Und was dafür verantwortlich sei, wenn nicht die Gene? - Es seien die sogenannten Meme, erwiderte die andere. Durch Imitation oder auf anderen Wegen, die aber nicht genetisch sind, würden bestimmte Verhaltensweisen weitergegeben. Jeder wolle zum Beispiel einen Liegestuhl haben, und die Methode, ihn durch das Handtuch rechtzeitig zu reservieren, setze sich durch, weil sie Erfolg habe und wegen der Mehrzahl derjenigen, die sie anwenden, praktisch die einzige sei, um an eine Liege zu kommen.

Die nächste halbe Stunde sprachen die beiden über die kleinen Sünden des Alltags, um die man leider nicht herumkomme und so weiter - es war ermüdend, ich versuchte nicht hinzuhören. Zurück würde ich fliegen, dachte ich. Bloß keine lange Zugfahrt. Wieso eigentlich war ich nicht gleich geflogen? Ich blickte aus dem Fenster. Viel sehen konnte ich nicht, es war längst dunkel. Hin und wieder sah ich die Lichter eines Hauses vorbeiziehen oder die Scheinwerfer eines Autos und verfolgte sie mit den Augen. Die Alte holte bald eine Zeitschrift aus ihrer Handtasche, die neben ihr auf dem Nachbarplatz lag. Eine der sinnlosen Zeitschriften, die auch Daniel immer las. Ich band mir kurzerhand meinen Schal um den Kopf, das war fast wie Licht aus, und merkte, wie müde ich war und wie anstrengend die vergangenen Tage.

„Was ist“, hörte ich den Schönen sagen, ich war schon beinahe eingeschlafen, jetzt war ich wieder wach, „haben Sie Lust, ins Bordtreff zu gehen?“ Er hatte tatsächlich Bordtreff gesagt! Manche Menschen nehmen einfach jeden Schwachsinn bereitwillig auf, selbst die idiotische Terminologie der Deutschen Bahn. Und war nicht aus dem Bordtreff inzwischen das Zugrestaurant geworden? Ich war wirklich froh, dass er mir nicht gefiel. Die beiden gingen, ich atmete auf. Vermutlich würde sie im Bordtreff auf mich warten, aber das interessierte mich jetzt nicht mehr. Endlich hatte ich meine Ruhe. Nach einer halben Stunde war ich eingeschlafen. Irgendwann in der Nacht wachte ich auf und bemerkte, dass die beiden das Abteil gewechselt hatten, jedenfalls war ihr Gepäck verschwunden. Ich hatte es gar nicht bemerkt. Dann schlief ich wieder ein.

müllersches volksbad

Подняться наверх