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2 Diagnostisches Vorgehen

Das diagnostische Vorgehen ist zunächst als Prozess zu kennzeichnen, als Abfolge einzelner Maßnahmen, die zur Gewinnung diagnostisch relevanter Informationen führen (Schmidt-Atzert/Amelang 2012). Dafür kommen unterschiedliche Methoden zum Einsatz (Beobachtung, Befragung, Elizitationsverfahren), um die diagnostische(n) Fragestellung(en) zu beantworten (vgl. Kap. 3). Zur diagnostischen Expertise gehört im Rahmen eines hypothesengeleiteten Vorgehens die Auswahl der verwendenden Methoden und Verfahren genauso, wie deren professionelle Durchführung, Auswertung und Interpretation.

Die Beschreibung der spezifischen Gestaltung des diagnostischen Prozesses im Kontext von Förder- und Therapieplanung (Kap. 2.1) wird ergänzt durch Ausführungen zur Diagnostik im Kontext schulischer, sprachheilpädagogischer Förderung (Kap. 2.2) und zur Diagnostik in der sprachtherapeutischen Praxis (Kap. 2.3). Abschließend werden ethische und rechtliche Grundlagen vorgestellt (Kap. 2.4).

2.1 Der diagnostische Prozess im Kontext von Förder- und Therapieplanung

„Beim Diagnostizieren handelt es sich nicht um einen einmaligen Akt, sondern um ein komplexes, mehrstufiges Vorgehen mit möglichen Rückkopplungsschleifen“ (Hesse/Latzko 2017, 63).

Der diagnostische Prozess ist nicht mit einem linearen Vorgehen gleichzusetzen. Durch das hypothesengeleitete Vorgehen kommt es zu Rückkopplungsschleifen. Es werden Hypothesen geprüft, ggf. verworfen und wiederum neue Hypothesen aufgestellt und verifiziert/falsifiziert. Dieses professionelle Vorgehen geschieht systematisch und schrittweise (Hesse/Latzko 2017).

Hesse und Latzko (2017, 64) beschreiben den diagnostischen Prozess in Anlehnung an Lukesch (1998) in einem Ablaufmodell, an dessen Beginn ein Problem und die daraus resultierende Fragestellung steht. Die sich anschließende Hypothesenbildung mit Feststellungs- und Erklärungshypothesen führt in der Folge zur Auswahl der Methoden für die anschließende Hypothesenprüfung. Das diagnostische Urteil (Diagnose) am Ende dieses Prozesses führt – je nach Zielstellung, Auftrag oder Setting zu einer ggf. angezeigten Förderung oder Therapie bzw. einer Beratung. Es kann im Anschluss an die Diagnose auch ein Gutachten erstellt werden (z.B. sonderpädagogisches Gutachten – vgl. Kapitel 2.2.2). Dieser Prozess ist aber, wie bereits angemerkt, keine „Einbahnstraße“, sondern es kann sein, dass das Ziel der Beantwortung der Fragestellung erst nach Rückkopplungsschleifen und somit ggf. mehreren Durchgängen der Informationsgewinnung erreicht wird (Schmidt-Atzert/Amelang 2012, 390).

Eine derartige Rückkopplungsschleife ist beispielsweise auch im diagnostischen Algorithmus zu Sprachentwicklungsstörungen in der AWMF-Leitlinie zu USES berücksichtigt. „Auch nach der Diagnose USES sichert eine Rückkoppelungsschleife – z. B. bei ausbleibendem Therapieerfolg – die Möglichkeit zur erneuten Differenzialdiagnostik“ (AWMF 2011, 49).

In Anlehnung an Berg (2007, 68) stellt Abbildung 2 in ähnlicher Weise den diagnostischen Prozess im Bereich Sprache dar.


Abb. 2: Diagnostischer Prozess im Bereich Sprache

2.2 Diagnostik im Kontext schulischer, sprachheilpädagogischer Förderung

Unterricht mit Kindern mit Förderbedarf im Bereich Sprache und Kommunikation ist als „diagnosegeleiteter Prozess“ (von Knebel 2007) zu verstehen, der potentielle (Sprach-)Barrieren identifiziert, um in der Folge eine uneingeschränkte sprachliche Bildung zu ermöglichen. Für eine professionelle, spezifische Unterstützung/Förderung ist es deshalb notwendig, den aktuellen, individuellen sprachlichen Entwicklungsstand und die spezifischen Bedingungen des Erwerbs sprachlicher Strukturen eines Kindes zu kennen (Wissen zur Lernausgangslage). Eine Diagnostik, die dieser Zielstellung folgt, liefert spezifische Ansatzpunkte, um Lernen – unabhängig vom Förderort – optimiert zu gestalten (Reber 2012).

„Wir praktizieren Diagnostik um der Förderung willen. Es geht darum, Fördermaßnahmen für Schülerinnen und Schüler an unterschiedlichen Förderorten zu entwickeln, um sie möglichst optimal in ihrer Lernentwicklung zu begleiten und zu unterstützen“ (Heimlich et al. 2013, 4).

Die diagnostische Erfassung von sprachlichen Fähigkeiten im schulischen Kontext übernehmen i.d.R. Sprachheilpädagogen – Sonderpädagogen, die für den Förderschwerpunkt Sprache und Kommunikation spezifisch ausgebildet sind. Auf der Grundlage der Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zum Förderschwerpunkt Sprache und Kommunikation (KMK 1998) hat ihre diagnostische Tätigkeit die Aufgabe, „[…] Art und Umfang des sonderpädagogischen Förderbedarfs auf der Basis einer Kind-Umfeld-Analyse zu erheben. Dabei werden insbesondere die sprachlichen Handlungskompetenzen des Kindes vor dem Hintergrund seiner persönlichen Lebenssituation und der schulischen Anforderungen beschrieben, pädagogisch interpretiert und als spezifisches Förderbedürfnis ausgewiesen“ (KMK 1998, 6).

Exkurs Kind-Umfeld-Analyse: Die Kind-Umfeld-Analyse wurde u.a. von Sander und Hildeschmidt im Kontext der Etablierung schulischer Integration von Schülern mit Unterstützungsbedarf entwickelt (Hildeschmidt/Sander 1993). Sie versteht sich als breiter Ansatz, der sich von einer allein kindzentrierten Diagnostik abhebt und auch relevante Umwelteinflüsse (personelle und materielle Gegebenheiten) erfasst sowie hemmende und förderliche Bedingungen in der Schule und in schulrelevanten Umfeldern analysiert (Bundschuh/Winkler 2014, 350). Diese Aspekte finden sich heute auch in der ICF (DIMDI 2005). Somit steht nicht nur das Kind mit seinen Verhaltensmerkmalen im Fokus, sondern auch das Zusammenspiel von Personen und materialen Bedingungen in dem System, zu dem das Kind gehört (Bundschuh/Winkler 2014, 350). So bringt eine biographisch angelegte Kind-Umfeld-Analyse zum Ausdruck, „[…] dass und wie die jeweilige Umwelt als Variationsquelle und Einflussfaktor der sprachlichen Entwicklung der Einzelnen in der Perspektive der Entwicklung ihrer sprachlichen Handlungsfähigkeit qualifiziert ist“ (Welling 2007, 970).

Reber/Schönauer-Schneider (2014) formulieren hierzu ein trichterförmiges Vorgehen. Ausgangspunkt sind gezielte Beobachtungen der spontansprachlichen Äußerungen der Schüler im Schulalltag, die zu ersten Hypothesen über Stärken und Schwächen im Bereich der sprachlichen Fähigkeiten führen. Soweit dies möglich ist, können im Anschluss Gruppenüberprüfungsverfahren zum Einsatz kommen, wie sie beispielsweise für den Bereich Sprachverständnis mit dem MSVK (Elben/ Lohaus 2000) vorliegen, welche die Erstellung eines Klassenprofils für bestimmte sprachliche Bereiche ermöglichen (Reber/Schönauer-Schneider 2014). Dies ergänzend werden kriteriengeleitete Schülerbeobachtungen angestellt, die hypothesengeleitet bestimmte Aspekte in den Blick nehmen. Hierzu liegen Checklisten und Beobachtungsraster unterschiedlicher Qualität vor. Hieraus kann es sich in der Folge ergeben, dass die Lehrkraft anhand dieser zusammengestellten Vorinformationen spezielle Diagnostikverfahren für die Einzeltestung einsetzt (vgl. auch Abb. 3).


Abb. 3: Diagnostisches Vorgehen zur Erfassung der sprachlichen Voraussetzungen im Unterricht (Reber/Schönauer-Schneider 2014, 23)

2.2.1 Spezifische Herausforderungen in der inklusiven Schule

In inklusiven schulischen Settings sind, je nach administrativen Rahmenbedingungen und Vorgaben, unterschiedliche Handlungsträger mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen im Bereich der Diagnostik betraut. Als Grundlage des Unterrichts verweisen die Empfehlungen der KMK zur inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen (KMK 2011) explizit auf eine den Lernprozess begleitende, pädagogische Diagnostik, wobei diese im Team von Lehrern mit unterschiedlichen Lehrämtern und Ausbildungen gemeinsam durchgeführt und verantwortet werden kann (KMK 2011, 19).

So sind Regel- und/oder Sonderschullehrkräfte in ihrer Funktion als Lehrkraft oder direkt als sogenannte Diagnostiklehrer oder Diagnostikteams mit diagnostischen Fragen betraut. Dabei werden häufig über kriteriengeleitete Beobachtungen und vorwiegend Gruppenüberprüfungsverfahren zunächst diejenigen Kinder erfasst, die einer Förderung bedürfen, welche über Sprachfördermaßnahmen im Regelunterricht hinausgeht. Die differenzierte Feststellung des sprachlichen Leistungsstandes bzw. des sonderpädagogischen Förderbedarfs und die sich daraus ergebende Erstellung von Förderplänen übernehmen dann in der Regel Sprachheillehrer als „case manager“ (Reber 2012, 268f.). Hoffmann/Böhme (2017) konnten zeigen, dass an Grundschulen nur ein geringer Anteil von Schülern mit sprachlichem Förderbedarf korrekt identifiziert wird (geringe Sensitivität) – Kinder ohne Förderbedarf werden allerdings sehr zuverlässig erkannt (hohe Spezifität). Ausschlaggebend hierfür ist vor allem die Güte der Informationsquellen. Zur Optimierung der Klassifikationsgüte wird eine mehrmalige Überprüfung mit sprachdiagnostischen Verfahren empfohlen, „[…] um Kinder mit ausgeprägtem Unterstützungsbedarf im sprachlichen Bereich möglichst zuverlässig zu identifizieren und anschließend in geeigneter Weise fördern zu können“ (Hoffmann/Böhme 2017, 146).

In unterschiedlichen Aufgabenbereichen des inklusiven Settings kommen unterschiedliche diagnostische Methoden und Verfahren zum Einsatz. Das „Messen“, d. h. die direkte Erhebung sprachlicher Fähigkeiten des Kindes, stellt neben der Beobachtung und Befragung eine der möglichen diagnostischen Methoden dar (vgl. Kap. 3). Die Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder werden mit Hilfe dieser Methoden, durch Beobachtung, Interaktionen und Analysen im Sinne einer zyklischen Diagnostik fortwährend überprüft (Ziemen 2016).

„In einer inklusiven Diagnostik geht es also um ein Bewahren sonderpädagogischer Kompetenzen und um den Einbezug der Regelpädagogik und der dort gewonnenen Daten in Bezug auf das System Schüler in den gesamtdiagnostischen Prozess“ (Schäfer/Rittmeyer 2015, 109).

Ziemen (2016) formuliert Aspekte zum Verständnis von Diagnostik „mit Blick auf Inklusion“. Demnach versteht sich Diagnostik […]

■ „im Interesse und unter Berücksichtigung der Perspektiven der Kinder […];

■ lernbegleitend, entwicklungsunterstützend und kompetenzorientiert;

■ analysierend und hypothesenbildend und –prüfend mit dem Ziel des Verstehens bzw. des Erklärens;

■ dialogisch mit den Kindern […]; Eltern und Bezugspersonen;

■ ggf. interdisziplinär;

■ orientierend auf das Schaffen eines sozialen Möglichkeitsraumes für Entwicklung und Lernen“ (Ziemen 2016, 47).

Gegenwärtig erfolgt eine breite Diskussion der diagnostischen Ausrichtung im Kontext sich wandelnder Bildungssettings in Richtung Inklusion. An dieser Stelle sei beispielhaft auf die zukunftsweisenden Diskussionen in folgenden Publikationen verwiesen:


Amrhein, B. (Hrsg.) (2016): Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung. Theorien, Ambivalenzen, Akteure, Konzepte. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn

Lindmeier, C., Weiß, H. (Hrsg.) (2017): Pädagogische Professionalität im Spannungsfeld von sonderpädagogischer Förderung und inklusiver Bildung. Sonderpädagogische Förderung heute, Beiheft 1, Beltz Juventa, Weinheim

Schäfer, H., Rittmeyer, C. (Hrsg.) (2015): Handbuch inklusive Diagnostik. Beltz, Weinheim/Basel

Diagnostikverfahren für die orientierende Einschätzung sprachlicher Leistungen durch Regel- und Sonderpädagogen im Klassenkontext

In inklusiven Settings stehen Regelschullehrkräfte vor der Aufgabe, die Heterogenität der Schülerschaft im Unterricht zu berücksichtigen. Eine Grundlage dafür ist die Kenntnis der (sprachlichen) Voraussetzungen der Kinder im Sinne von Lernausgangslagen. Gerade für den Übergang von der Kita in die Grundschule existiert eine Vielzahl von Verfahren, die in ganz unterschiedlicher Qualität (vorwiegend als informelle Verfahren) mittels unterschiedlicher diagnostischer Methoden die Lernvoraussetzungen der Kinder in verschiedenen Entwicklungsbereichen in Einzel- und/oder Gruppensituationen ermitteln. Auch für Kinder im Grundschulalter liegen Beobachtungs- und Einschätzungsbögen bzw. Diagnosematerialien vor, die zu diesem Zweck von Regel- und Sonderpädagogen bevorzugt in Gruppensituationen eingesetzt werden können. Es muss an dieser Stelle allerdings nochmals explizit auf die häufig beschränkte Aussagekraft dieser Verfahren hingewiesen werden. Kinder, die anhand dieser Verfahren einen „auffälligen Sprachentwicklungsstand“ zugeschrieben bekommen, sollten unbedingt im Anschluss eine spezifischere Diagnostik durch entsprechende Fachkräfte durchlaufen. Wer dies mit wessen Weisung durchführt ist vom Zeitpunkt der Erhebung, vom Kostenträger und weiteren administrativen Vorgaben abhängig.

Folgende Verfahren kommen hierbei als Einzel und / oder Gruppenüberprüfung beispielsweise zum Einsatz (Spreer 2013):

■ Die Diagnostischen Einschätzskalen (DES) zur Beurteilung des Entwicklungsstandes und der Schulfähigkeit (Barth 2012)

■ Sprachförderung: Die Fitness-Probe (Günther 2003)

■ Beurteilen – Beraten – Fördern (Heuer 2008)

■ Marburger Sprach-Screening (MSS). Ein Sprachprüfverfahren für Kindergarten und Schule (Holler-Zittlau et al. 2017)

■ Deutsch als Zweitsprache – Sprache gezielt fördern. Einstufungshilfen (Kehbel et al. 2011)

■ Sprachkompetenz fördern in Kindergarten, Vorschule und Schuleingangsklassen (Marx et al. 2006)

■ Kriterien für Unterrichtsbeobachtungen im Bereich Sprache (Reber/Schönauer-Schneider 2014)

Diagnostikverfahren für die spezifische Diagnostik durch Sonderpädagogen im Bereich Sprache und Kommunikation

Sonderpädagogen übernehmen in inklusiven Settings unterschiedliche diagnostische Aufgaben. Je nach Altersgruppe der Kinder kommen neben Screenings Materialien zum Einsatz, die als standardisierte und normierte Verfahren die Grundlage für eine Indikation einer Intervention und deren differenzierte Planung darstellen. Die Ergebnisse zielen somit auf die Ermittlung der individuellen Notwendigkeit von spezifischen Fördermaßnahmen und deren Evaluation, z.B. auch in Form der Beratung unterschiedlicher Lehrkräfte bei der Umsetzung von Unterstützungsmaßnahmen. Welche Verfahren durch welche Fachkräfte mit welcher notwendigen Expertise durchgeführt werden, ist in den verschiedenen Bundesländern und Settings unterschiedlich geregelt. Erweitert werden diese grundlegenden Kompetenzen der Erstausbildung durch spezifische Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, die teilweise sogar spezifisch für einzelne Verfahren angeboten werden.

Die entsprechenden zur Verfügung stehenden diagnostischen Verfahren sind in den verschiedenen Kapiteln in diesem Buch beschrieben und auch über die e-Verfahrensbeschreibung recherchierbar (s. Anhang, Erläuterungen zur Online-Datenbank).

2.2.2 Das sonderpädagogische Gutachten

Am Ende des diagnostischen Prozesses kann eine Erstellung eines Gutachtens notwendig werden. Dies trifft – je nach Bundesland – im Bildungsbereich auch auf den Bereich der Förder- bzw. Sonderpädagogik zu. Wie ein derartiges Gutachten aussieht und welchen qualitativen und quantitativen Ansprüchen es genügen muss, ist sehr unterschiedlich geregelt. Dies betrifft zum einen wiederum die Frage der formalen Vorgaben, die in verschiedenen Bundesländern beispielsweise durch Formatvorlagen zur Erstellung geklärt wird, zum anderen aber auch die Frage- und Problemstellung, die ebenfalls zu formalen oder inhaltlichen Unterschieden führen kann (Bundschuh/Winkler 2014). So wird sich ein Erstgutachten zur „Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs“ von einem „Fortschreibungsgutachten“ unterscheiden, das bereits inhaltlich ganz andere Anforderungen mit sich bringt.

Es kann an dieser Stelle also kein allgemein gültiger Vorschlag formuliert werden. Bundschuh/Winkler (2014) legen Strukturierungshilfen zur förderdiagnostischen Gutachtenerstellung unter besonderer Berücksichtigung der Kompetenzorientierung vor. Dieser Strukturierungsvorschlag ist wie folgt gegliedert und im Original noch deutlich mit Hinweisen und möglichen Inhaltsaspekten untersetzt (Bundschuh/Winkler 2014, 390ff.):

1. „Situation, Untersuchungsanlass, Fragestellung, Untersuchungsbedingungen

2. Kennzeichnung der bisherigen Entwicklungsumstände (Lebenslauf und Umweltdaten, Kurzangabe früherer Untersuchungsergebnisse; jeweils Quellenangabe)

3. Auswahl der diagnostischen Verfahren [M.S.: begründet; Orientierung an der besonderen Problem- oder Fragestellung]

4. Darstellung der Ergebnisse [M.S.: in objektiver Form, ohne Interpretation!]

5. Diskussion und Interpretation der Ergebnisse

6. Zusammenfassung wichtiger Untersuchungsergebnisse

7. Beantwortung der Fragestellung

8. Förderungsvorschläge

9. Beratung, Intervention, Therapie

10. Konkretisierung der Unterstützung sowie der Förderungsvorschläge“

In welcher Form das Gutachten zu erstellen ist, ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich geregelt. Hierzu liegen entsprechende Handreichungen bzw. (elektronische) Formulare vor. Gemeinsam ist diesen verschiedenen Umsetzungsformen

■ ein hypothesengeleitetes Vorgehen gemäß der Fragestellung mit formulierten, überprüfbaren Hypothesen,

■ die Angabe der Quellen der in den anamnestischen Angaben zusammengestellten Informationen,

■ eine begründete Auswahl eingesetzter diagnostischer Methoden und Verfahren,

■ eine Trennung zwischen Ergebnisdarstellung und der sich anschließenden Interpretation.

Ausführungen zur Erstellung eines sprachheilpädagogischen Gutachtens sind in der Literatur kaum zu finden. Bei Schoor (2009) sowie Kany/Schöler (2009) sind Angaben zu formalen Aspekten sowie zur inhaltlichen Struktur aufgeführt.

Von Knebel (2015, 382) argumentiert, dass, wenn im Hinblick auf die inklusive Schule die notwendigen Ressourcen bereitstünden, die Erstellung eines sonderpädagogischen Gutachtens und die damit verbundene Verwaltungsentscheidung durch einen differenzierten Förderplan ersetzt werden könnte. „Die sonderpädagogische Fachkraft könnte sich auf der Basis qualitativer Analyseverfahren ganz einer diagnostikbasierten Förderplanung widmen und herausarbeiten, wer von den Beteiligten auf der Grundlage welcher Kompetenzen welchen Beitrag zur Förderung leisten kann“ (von Knebel 2015, 382). Gegenwärtig sind die Ressourcenzuweisungen jedoch häufig noch an das entsprechende Gutachten gebunden.

2.3 Diagnostik in der sprachtherapeutischen Praxis

Flossmann/Tockuss stellten 1994 ein Ablaufschema zur logopädischen Befunderhebung bei Sprach- und Sprechstörungen vor, dass in seinen zentralen Bestandteilen auch noch bei Schrey-Dern (2006) zu finden ist:

1. Anamnese

2. Freie Spiel- und/oder Gesprächssituation

3. Spontansprachanalyse

4. Einsatz standardisierter/informeller Prüfverfahren zur Einschätzung des (nicht) sprachlichen Entwicklungsstandes sowie Analyse der Eltern-Kind-Interaktion

5. Zusammenfassung der Ergebnisse im logopädischen Befund (Flossmann/ Tockuss 1994, 4; Schrey-Dern 2006, 22)

In Analogie dazu formuliert auch der Deutsche Bundesverband für Logopädie e.V. (dbl) in seinem „Logopädischen Diagnostikstandard bei Kindern (logopädisches Störungsbild in einem oder mehreren Bereichen)“ folgenden Algorithmus:

„Verordnung durch den Kinderarzt und Klärung der spezifischen Fragestellung (z.B. Stottern, Heiserkeit, schlecht zu verstehende Sprache, Ernährung ...) ergibt einen Verdacht auf ein logopädisches Störungsbild

→ Anamnese mit Bezugspersonen/Eltern, ggf. sozialem Umfeld, Kindergarten, Schule. Das Gespräch baut auf den bereits vorliegenden Befunden auf Beobachtungen im Kontakt mit dem Patienten

→ Klinische Beobachtungen des Kindes (in einer natürlichen, lautsprachanregenden Spielsituation); Analyse der Spontansprache unter Berücksichtigung der jeweiligen Fragestellung

→ Bei entsprechender Indikation folgt eine störungsspezifische Diagnostik in einem oder mehreren Bereichen mit standardisierten und/oder informellen Prüfverfahren

→Nach Abschluss der logopädischen Befunderhebung inkl. Auswertung der Ergebnisse folgen:

■ Dokumentation der Befundergebnisse

■ ggf. Aufstellung einer logopädischen Diagnose

■ Rückmeldung der logopädischen Diagnose an den verordnenden (behandelnden) Arzt bzw. weitere Berufsgruppen

■ ggf. Aufklärungs- bzw. Beratungsgespräch mit den Bezugspersonen/Eltern

■ Klärung des weiteren Procedere (z.B. Therapieindikation, weitere interdisziplinäre Diagnostik etc.)“ (dbl 2014, 1).

Die konkrete Umsetzung dessen ist jedoch häufig abhängig von den gegebenen Rahmenbedingungen, z.B.:

■ Liegen bereits Befunde/Gutachten vor und besteht eine entsprechende Schweigepflichtsentbindung für die diagnostizierende Person?

■ Welche Unterlagen liegen bereits vor dem ersten Anamnesegespräch vor bzw. sind erst noch einzuholen?

■ In welcher Form ist es möglich, mit anderen Kooperationspartnern Rücksprache zu halten (SPZ, Ergotherapie, etc.)?

■ Welcher Zeitraum steht für diagnostische Fragen zur Verfügung?

■ Welche diagnostischen Materialien sind der diagnostizierenden Person zugänglich und inwiefern ist sie mit den Materialien vertraut?

In einer multizentrischen Studie, in der die sprachtherapeutische Dokumentation von 502 Kindern retrospektiv analysiert wurde, konnten de Langen-Müller/ Hielscher-Fastabend (2007) Daten zur Diagnostik im Rahmen der Sprachtherapie vorlegen (die Informationen beziehen sich auf Kinder von 0 bis 16 Jahren und auf einen Behandlungsbeginn zwischen 2000 und 2005). So verwendeten die Sprachtherapeuten durchschnittlich 3,45 Behandlungseinheiten für ihre Diagnosestellung (SD=2,53). Die hohe Variation der Dauer (0,5 Einheiten bis zu 17 Einheiten je Kind) wurde über die spezifische therapiebegleitende Diagnostik begründet. 43,4 % aller Kinder wurden mit einer oder zwei Einheiten diagnostiziert. Nach den Diagnosekategorien aufgeschlüsselt zeigt sich, dass eher weniger Sitzungen bei leichten Aussprachestörungen (in Verbindung mit myofunktionellen Störungen) oder Redeflussstörungen verwendet werden (de Langen-Müller/ Hielscher-Fastabend 2007). Die verwendeten Methoden decken die Bandbreite des Möglichen ab und reichen von Tests über standardisierte Screenings bis hin zu informellen Beobachtungen. Für die Eingangsdiagnostik werden bei 44,4 % der Kinder häufig zwei unterschiedliche Quellen verwendet, häufig auch noch mehr. Natürlich muss man darauf hinweisen, dass die Quantität der eingesetzten Methoden/Verfahren kein Qualitätsmerkmal per se ist, sondern Methoden je nach Datenlage hypothesengeleitet ausgewählt werden sollten.

2.4 Ethische und rechtliche Aspekte

Das diagnostische Handeln ist an grundlegende ethische Prinzipien und im Kontext der jeweiligen Aufgabenstellung und der betreffenden Berufsgruppe(n) an rechtliche Rahmenbedingungen gebunden.

Ethik der Diagnostik

Jegliches pädagogisches Handeln hat auf der Basis ethischer Grundsätze zu erfolgen – dies gilt auch für das Handlungsfeld der sprachheilpädagogischen/sprachtherapeutischen Diagnostik (Lüdtke/Stitzinger 2015). Die Autoren sehen in Deutschland hinsichtlich einer expliziten ethischen Grundlegung unseres Faches jedoch „noch viel Handlungsbedarf“ (Lüdtke/Stitzinger 2015, 78) und verweisen auf den „Code of Ethics“ der American Speech-Language-Hearing Association (ASHA 2016) als Instrument zur Selbstreflexion der Speech Language Pathologists.

In einer der wenigen deutschsprachigen Publikationen zu diesem Thema formuliert Schulz (2011, 148f.) ethische Aspekte der sprachtherapeutischen Diagnostik und mögliche ethisch-moralische Konflikte:

1. Beachtung des Unterschieds zwischen der „alltäglichen Diagnostik“, dem gegenseitigen Einschätzen von Menschen anhand weniger beobachtbarer Merkmale und einer „wissenschaftlichen Diagnose“, die einen Objektivitätsanspruch erhebt

2. Die durch sprachtherapeutische Experten präsentierten Diagnosen werden für wahr und wichtig gehalten (Schulz 2011, 148). Die testtheoretischen Hintergründe eingesetzter Verfahren (sowie die theorieimmanenten Hintergrundannahmen zur Konstruktion der Verfahren) bleiben dabei aber häufig ebenso wenig reflektiert wie das Verhältnis zwischen Diagnostizierten und Diagnostizierenden.

3. Der Normwert als Vergleichsmaßstab in Diagnostikverfahren dokumentiert für das jeweilige Kind die Abweichung von der Vergleichsgruppe (i.d.R. die Gruppe der Gleichaltrigen) in einem Fähigkeitsbereich. „Hier schleicht sich unter dem Deckmantel vermeintlich deskriptiver, statistisch-quantitativer Objektivität das Normative, das Präskriptive, Werthafte unbemerkt ein“ (Schulz 2011, 149).

„Die Therapeutin nimmt die Diagnostik und die daraus folgende Diagnose als eine ethisch relevante Situation wahr, in der verschiedene Interessen und Normen aufeinanderstoßen. Weil sie über genügend reflektiertes Wissen (Fachkompetenz) bezüglich der Diagnoseverfahren verfügt, kann sie den Nutzen gegen die Problematiken abwägen“ (Schulz 2011, 150).

Rechtliche Grundlagen der Diagnostik

Die Intervention – beispielsweise bei Kindern mit Sprachstörungen – findet aktuell in unterschiedlichen Systemen statt: dem Bildungssystem, dem Gesundheitssystem und im Rahmen von Komplexleistungen nach den Sozialgesetzbüchern SGB IX (neu)/Bundesteilhabegesetz (BTHG) und SGB XII (Sallat/Siegmüller 2016). Die ärztliche Diagnostik bei Stimm-, Sprech-, Sprach- und Schluckstörungen und somit die Voraussetzung für das Erbringen des Heilmittels Sprachtherapie ist in der Heilmittel-Richtlinie (HeilM-RL) (GBA 2011b) geregelt.

Das diagnostische Handeln geschieht stets im jeweiligen rechtlichen Rahmen. So regelt die Gesetzgebung eines jeden Bundeslandes beispielsweise, ob und in welcher Form eine sprachheilpädagogische Diagnostik im Kontext Schule durchgeführt wird und ggf. auch, welche Methoden und Verfahren dabei von wem eingesetzt werden. Weiterhin wird der Einbezug weiterer Professionen, des Kindes und der Eltern geregelt. Die jeweiligen rechtlichen Rahmenbedingungen legen dabei auch die Zuständigkeiten für das diagnostische Handeln fest. Bei der Dokumentation personenbezogener Daten sind jeweils sozial-, straf- und datenschutzrechtliche Vorgaben zu beachten. Insbesondere dem Datenschutz ist Rechnung zu tragen. Bei Audio- und Videoaufnahmen des Kindes muss grundsätzlich eine schriftliche Einwilligung der Personensorgeberechtigten vorliegen. Im Kontext der (interdisziplinären) diagnostischen Tätigkeit spielt vor allem die Schweigepflichtsentbindung eine große Rolle, die für die entsprechenden Professionen/ Personen einzuholen ist.

Diagnostik von Sprach- und Kommunikationsstörungen im Kindesalter

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