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II
Оглавление„Zuviel bereits gesehen im Laufe der Zeit“, sagte der Tod vermutlich einfach so dahin, ohne irgendwen, gar den anderen neben sich tatsächlich in ein Gespräch verwickeln zu wollen. Eine Aussage, für niemanden konkret bestimmt, von Gespräch keine Spur. Nicht einmal eine Höflichkeitsfloskel. Nur der Beginn eines intensiven Selbstgesprächs, typisch für einsame Personen an allen Bars der Welt. Der einzige Zuhörer der Barkeeper. Oder zumindest scheint der Barkeeper zuzuhören, Trinkgeld inklusive. Auch wenn er einen am Ende wegwischt mit diesem ekelhaften Tuch, mit dem er die Ränder der Gläser auf der allzu glatten Oberfläche der Theke entfernt. Einfach so die Spuren, die im Laufe eines Abends hinterlassen worden sind, ausgelöscht. Lebensspuren. Oft bleibt nichts zurück, dachte der Tod.
„Eigentlich, wenn man es so betrachtet“, setzte der Tod fort, „ist Irgendwer nichts anderes als ein sich selbst viel zu wichtig nehmender Barkeeper.“ Noch immer betrachtete er sich selbst im Spiegel. „Am Ende dreht er das Licht heller, es schmerzt in den Augen.“ Der Tod redete sich warm. „Kurz kommen noch Gedanken, dass man einen netten Abend verbringen wollte - doch irgendwie hat es nicht gepasst.“ Der Tod dachte nach: „Keine Stimmung, nicht die richtigen Leute. Oder ist man an diesem Abend einfach selbst nicht der Richtige?“
„Ein dumpfer Schädel. Eine Wand, die an dir lehnt und nicht und nicht von dir weggeht. Die klebt, wie eine Klette. Eine Stiege in einem Hauseingang, die dich sitzen gelassen hat und dich hält und klammert und zieht, wenn du dich erheben willst. Dich nicht aufstehen lässt“, meinte der andere. Der neben ihm blickte ihm, über den Spiegel gegenüber, zum ersten Mal direkt in die Augen. Er suchte keine Ausreden und Ausflüchte. Er sah seine Zukunft recht klar vor sich. Zum ersten Mal eigentlich in seinem Leben. Das demnächst enden würde. Der Tod starrte zurück. Nicht furchteinflößend. Warum sollte er? Er war eine Tatsache. Er starrte nur aus Gewohnheit. Dann zwinkerte der andere mit einem Auge. „Stress im Büro?“, witzelte er. Er bewies Haltung. Dem Tod imponierte dies. Ihm waren auch schon andere begegnet. Obschon der neben ihm wusste, nicht anders konnte, als zu wissen, was unvermeidlich war, versuchte er es mit trockenem Humor, versuchte er, der Situation etwas abzugewinnen, war nicht ängstlich, zweifelte nicht, jammerte nicht. Der Tod hatte bereits Könige und Kaiser vor seinem Angesicht um Gnade flehen sehen, Menschen, die gewohnt gewesen waren, Macht auszuüben, die sie nun nicht mitnehmen konnten, die nicht mehr half. Nichts half mehr. Und hier saß einer, der nicht erschrak, der zu akzeptieren schien.
„Nein“, lächelte der Tod, „kein Ärger im Büro. Ich sollte nicht zu viel denken. Nicht laut denken. Wenn ich Zeit habe, wenn ich nicht sofort zum Nächsten springen muss, dann komme ich ins Grübeln. Das sollte ich vermeiden. Ist nicht gut für mich. Nicht gut für Sie.“
„Ich habe kein Problem damit. Grübeln Sie nur. Tun Sie sich keinen Zwang an. Ich glaube, ich habe heute ansonsten nichts mehr vor.“ Gesprächspause. Worüber plauderte man mit dem Tod? Sollte er sofort zum Kern der Sache kommen und sagen, er wolle gehen? Jetzt, auf der Stelle. Bringen wir es hinter uns. Konnte er dies überhaupt? Einfach so gehen? Außerdem, gerade der Tod dürfte ein interessanter Gesprächspartner sein. Und eilig hatte er es auch nicht mehr. Er hatte eigentlich nichts anderes mehr vor als zu sterben. Nachdem er keine Schmerzen spürte, es ihm soweit gut ging - wenn er darüber nachdachte, so wohl hatte er sich eigentlich schon lange nicht mehr gefühlt -, warum nicht noch ein klein wenig warten, plaudern, tratschen mit dem Tod? Der offensichtlich ebenso Zeit hatte? Nur worüber? „Ich heiße Frank“, meinte er.
„Ich weiß“, antwortete der Tod. Wieder diese unangenehme Pause, die man unbedingt füllen wollte.
„Woher kommen Sie eigentlich?“ Eine erste Frage, zumindest ein Anfang. „Woher? Wie meinen Sie das?“
„Ich meine, woher kommen Sie wirklich? Wo sind Sie, wenn Sie nicht bei mir sind? Haben Sie ein „Zuhause“? Eine Wohnung, in der Sie sich aufhalten, wenn Sie nicht unterwegs sind, oder gehen Sie immer und überall und dauernd - Ihrer Tätigkeit nach?“
„Zumeist ja. Ich habe keine richtigen Pausen, wenn Sie das meinen. Eher Auszeiten. So wie jetzt. Wir unterhalten uns. Es könnte auch alles anders verlaufen. Sie haben nur noch Zeit.“
Der Tod war nicht gewöhnt, an der menschlichen Unterhaltung, am menschlichen Leben so direkt teilzunehmen; er suchte im Allgemeinen keine Unterhaltung, keine Teilnahme. Anteilnahme ja, die kannte er. Er nahm Anteil, wenn es sich als erforderlich zeigte. Dies war eben etwas, das er Irgendwer vorhielt, der seiner Meinung nach nur spielte, versuchte; er aber dachte nach, lief viel, weil Irgendwer irgendjemanden bestimmte, und er, der Tod, nahm Anteil. Aber Teilnahme schien ihm fremd, im direkten Kontakt mit dem Wesentlichen suchte er zumeist die Distanz, und hier fand er jemandes Teilnahme an seinem Selbstgespräch. Irgendwie unpassend. Wer unterhielt sich schon mit dem Tod, suchte ein richtiges Gespräch? Zwar wusste er um die Blicke seiner Kunden, wenn er sie abholte. Früher, ganz früher, waren die bei seinem Anblick meist teilnahmslos gewesen, ließen geschehen, was geschehen sollte, hatten noch nichts realisiert, oder waren manchmal erfreut, dass alles ein Ende gefunden hatte; fragten, ein, zwei Dinge - unvermeidlich: wie? Was nun? Er war nur für das Wesentliche zuständig. Doch hier suchte jemand Unterhaltung. Echte Teilnahme, jemand suchte Unterhaltung. Dies war ihm selten passiert. Eigentlich noch nie, zumindest seit sehr langer Zeit nicht mehr. Der Tod fühlte leichte Verunsicherung. Er war verblüfft. Er fragte sich schon längere Zeit, eigentlich die ganze Zeit, warum Menschen so waren, wie sie waren, und hatte noch keine Antwort auf diese Frage gefunden. Was steuerte sie? Was trieb sie vorwärts? Irgendwer sicherlich nicht mehr, der kümmerte sich scheinbar nur noch um die Bedeutenden, warum auch immer sie bedeutend waren. Wie funktionierten sie? Warum nahmen sie etwa teil? Warum Anteil? Wie konnten sie das Leben ertragen, wo sie doch damit rechnen durften, jederzeit gehen zu müssen? Und warum fanden sie auch in schrecklichen Situationen ein Lachen? Warum unterhielt er sich überhaupt? Es verkomplizierte nur alles. Er war nur irgendeine Gestalt an einer Bar, nicht besonders interessant, bis auf die Tatsache, dass er den neben sich abholen sollte, sozusagen Taxiunternehmer, und trotzdem ließ es der andere nicht einfach geschehen, sondern suchte Unterhaltung. Lehnte er in seiner ursprünglichen, seiner ersten Gestalt an der Bar, die, die er am Anfang bekommen hatte, und schimpfte dort über Irgendwer, hätte er Interesse verstanden. Vielleicht nicht Teilnahme, möglicherweise Anteilnahme, weil er so dürr war, doch keine Teilnahme. Er hätte eher abschreckend, ein wenig wie ein Gerippe gewirkt, hätte schrecklich erinnert an etwas Endgültiges. Aber so? In seiner jetzigen Gestalt? Anzug, natürlich schwarz. Schlank, unauffällig. Auffallen mochte er nicht so gerne beim Warten, fiel am Ende, wenn es wirklich soweit war, oft genug auf. Er konnte nie anders, konnte sich eigentlich letztlich nie im Hintergrund halten, er musste auffallen, war der Letzte, musste gesehen werden. Er war froh über diese Gestalt: schwarzer Anzug, passend zur Wandfarbe des Lokals und seiner restlichen Umgebung, eher damit verschmelzend. So ähnlich wie diese Tiere, diese Echsen. Und dennoch, es nahm jemand teil, suchte Unterhaltung, warum? Er sollte nur eine Aufgabe erledigen. Er war nicht interessant. Zumindest nicht so, dass man prinzipiell davon ausgehen konnte, dass jemand mehr über ihn wissen wollte. Andere waren in diesen besonderen Augenblicken der Entwesentlichung mehr mit sich selbst und der unmittelbaren Zukunft beschäftigt gewesen.
„Und nein, ich habe kein „Zuhause“ in dem Sinn, wie Sie es verstehen. Ich denke, ich hatte einmal eines. Aber dies ist schon lange her. Irgendwann musste ich dort raus. Die Sache ist, vereinfacht gesagt, die: Ich bin nur, wenn Sie sind, und ich bin nur, weil Sie sind.“
„Das klingt philosophisch.“
Dem Tod fehlten die Worte, um zu erklären, was er genau meinte. Kommunikation war schwierig. Menschen konnten ständig üben, er nicht. Und wie machte man jemandem das Unbegreifliche begreifbar? Wenn er nur war, weil der andere war, weil der andere Mensch, ein Lebewesen, war, was wäre gewesen, wenn es den anderen nicht gegeben hätte? Hätte der Tod dann nicht existiert? Nein, so einfach war es nicht. Bereits vor dem Menschen hatte es ihn gegeben. Nur war er eben nicht des Menschen Tod gewesen. Früher lagen die Dinge für die Menschen einfacher. Da hatte er eigentlich, wenn er so darüber nachsann, nie philosophieren müssen. Früher war alles klar gewesen: der Bettler in den Himmel, der Kaufmann etwas tiefer, der Edelmann war vielleicht nicht so edel gewesen, und wenn doch, dann eben nach oben. Die Menschen glaubten. Sie stellten keine Fragen. Was wirklich sein würde, nun, wer außer ihm wusste die Antwort? Irgendwer und seine Anderen, aber ansonsten? Und heute? Alle meinten, etwas Besonderes zu sein, und blieben doch nur Menschen in ihren letzten Augenblicken und Atemzügen. Und dennoch nannten sie die unmöglichsten Wünsche ihr Eigen. „Und was jetzt?“, war die harmlose Frage. Da gab es aber auch die, die meinten, sie hätten nun all-inclusive gebucht und er sei der Animateur. Oder die, die auf Jungfrauen warteten und in Wirklichkeit nur ein Bordell wollten. Für alle hatte er eine persönliche Gestalt. Obschon er sich, das wusste er, als Animateur wohler fühlte. Den Job als Jungfrau hatte er jemand anderem überlassen. Früher also Skelett, heute der moderne Mensch. Der moderne Mensch schuf sich seinen eigenen Fährmann, wählte eine Gestalt, machte das Sterben zur persönlichen Angelegenheit, zum persönlichen Tod, nahm es persönlich. Und er sah an seiner Gestalt, was das metaphorische Etwas gewesen war, wie es gelebt und was es geglaubt hatte. Er sah das Wesentliche. Manche dachten an Wiedergeburt, manche ans Paradies, manche an nichts Genaues, nur an ein helles Licht und einen Tunnel. Ihm war es egal, er kannte die Antwort auf die Frage, was folgte, aber es war nicht seine Aufgabe, sie zu geben. Ihm ging es nur um das Wesentliche. Das Skelett war für viele Gewohnheit, noch immer beliebt, wie ein alter Freund, aber bei weitem nicht mehr so wie früher. Da hatte es nur den Knochenmann gegeben. So nahm er heute also immer die Gestalt der jeweiligen Vorstellung an, des geheimen Wunsches vielleicht. Oder des geheimsten Albtraumes. Er war nicht nur für die Guten verantwortlich. Grundsätzlich konnte er jede Gestalt annehmen. Grundsätzlich musste er jede Gestalt annehmen. Er war in jener Nacht dankbar für den schwarzen Anzug.
„Und, wie sieht es aus: Erleben Sie manchmal Widerstand oder folgen Ihnen immer alle freiwillig?“
„Ja“, eine Antwort ohne Zögern.
„Niemand, der sich drücken möchte? Der versucht, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und zu entwischen?“
„Man kann mir nicht entwischen. Ich bin endgültig.“
„Ach, kommen Sie, jemand hat es sicher probiert. Da gibt es doch diese Geschichten mit dem Schachspiel. Ich glaube nicht, dass alle immer mitgehen. Was ist, wenn ich sage, ich verstünde Sie nicht? Ich sage einfach, ich verstehe Sie nicht. Was machen Sie dann?“
„Ich beherrsche alle Sprachen. Ich habe sie gehört, als sie entstanden. Von Anbeginn an.“ Der Sensenmann, einer der apokalyptischen Reiter, was war er nicht alles bereits gewesen? Die letzte Instanz, Zerstörer von Welten, in so einem Fall schien Eitelkeit, wenn schon nicht angebracht, so zumindest verständlich, meinte er. Er sprach alle Sprachen. Irgendwie empfand er Stolz. Er sollte sich nicht unterhalten. Dies wurde plötzlich persönlich. Einfaches Warten hätte gereicht. Er hätte nicht den Mund aufmachen sollen. „Menschen sind schwierig“, murmelte er halblaut . Er überlegte, der andere wartete gespannt. Manchmal hatte er sich einen interessanten Gesprächspartner gewünscht, der nicht nur die beiden üblichen Fragen stellte, und dennoch keinen Animateur erwartete, nur um festzustellen, dass, wenn man schließlich nach einigen vielen Jahren und Aberjahren einen gefunden hatte, dies nur Probleme aufwarf. Doch in all den anderen Jahren war er nie auf jemanden getroffen, der mit ihm ein richtiges Gespräch geführt hätte. Alle wollten es entweder nur möglichst schnell hinter sich bringen, auch wenn es zu warten galt, oder während des Wartens unterhalten werden. Ab und weg oder Trallala. Er hätte dem da auch nicht die Chance zu sprechen geben und sich nicht selbst in Konversation versuchen sollen. Darin war er nicht so geübt. Menschen kommunizierten ständig, und dort, wo Kommunikation schiefging, fand sich manchmal sein Betätigungsfeld. Er hätte wissen müssen, dass ein Gespräch nicht so einfach war.
„Was würde der Tod machen, wenn er eine zweite Chance hätte?“, fragte Frank gerade hartnäckig, um das Gespräch in Gang zu halten, „also, wenn er noch einmal von vorne beginnen könnte? Wenn er die Möglichkeit sähe, einen anderen Beruf zu wählen?“
Der Tod grübelte. „Schwierig. Ich durfte nie wählen. Ich konnte nie wählen. Ich war einfach.“ Welche lächerliche Frage. Was wäre, wenn…? Damit hatte er sich nie beschäftigen müssen. „Aber wenn ich so darüber nachdenke – wahrscheinlich wäre ich wieder in irgendeiner Form - im Transportgewerbe.“
„Transportgewerbe? Von dieser Seite habe ich - Ihre Tätigkeit noch nicht betrachtet.“ Er lächelte. „Sehen Sie sich denn als Spediteur?“
„Eher Taxiunternehmen. Spediteur fände ich übertrieben“, meinte der Tod. Taxiunternehmer! Frank überlegte. Er hatte sich immer ein differenzierteres Bild gemacht vom Sterben – und damit auch vom Tod. Das mit dem Sterben hatte er irgendwie nicht so hinbekommen, wie er es gewollt hatte, das war anders gekommen, als erhofft, ein wenig zu früh. Doch der Tod, der entsprach absolut seinen Erwartungen. Aber Taxiunternehmer? Für jemanden wie den Tod schien dies seiner Meinung nach eine triviale Wahl. Eher hätte er etwas Mystischeres erwartet, etwas Spezielleres, etwas Interessanteres. Doch, wenn er nun genauer darüber nachdachte, irgendwie wirkte es logisch. Der Tod kannte nur das „Transportgewerbe“ - wie hieß es so schön: Schuster, bleib bei deinen Leisten? Dennoch: Taxiunternehmer passte für ihn nicht ganz ins Bild, das er sich seit dem Kennenlernen von seinem Gegenüber gemacht hatte. Aber: Neben ihm an der Bar stand der Tod. Er wusste, was das bedeutete. Angst fühlte er keine.
Frank war ein attraktiver Mann. Groß, schlank, dunkler Anzug. Ein herb-männliches Gesicht, keine liebliche Schönheit, sondern ausdrucksvoll. Nicht dieser Im-Zimmer-eines-Teenagers-als-Poster-hängen-vielleicht-sogar-als-Gipfel-der-Träume-mit-nacktem-Oberkörper-Typ, sondern schlicht, elegant, männlich, gepflegt. Dieser Frank also war der andere, der den Tod in ein Gespräch verwickelt hatte. Frank hatte nicht bewusst das Gespräch gesucht. Der Mann neben ihm wirkte zwar auf eine gewisse dunkle Weise interessant, geheimnisvoll, schließlich war er der Tod, doch hatte sich ihre Konversation eher zufällig ergeben. Wenn der Tod etwas anderes gesagt hätte, wenn der Tod nicht einfach nur sinnierend neben ihm dagestanden wäre, wenn der Tod etwas getan hätte, dann hätte er nicht sich mit ihm unterhalten müssen. Dann wäre aus einem Selbstgespräch kein Dialog geworden. Er wusste nicht wirklich, wie es weiterzugehen hatte, konnte alleine nicht gehen, einfach so hinüberschreiten ins Jenseits, oder was auch immer er nach dem Sterben vorfinden würde. Er wäre dem Tod einfach so gefolgt, wenn dieser es gewollt hätte. Ein Wort, ein Hinweis, wie es weiterginge, und schon wäre er dahin gewesen. Ein Gespräch verschaffte ihm nur Zeit, die er eigentlich nicht brauchte. Es war vorbei. Aber Taxiunternehmen? Dies war nicht das, was Frank erwartet hatte. Irgendwie - simpel! Beide schwiegen wieder. Der Tod machte noch immer keinerlei Anstalten, seine Pflicht wahrzunehmen. Frank stand da, blickte wieder in den Spiegel gegenüber. Betrachtete die Flaschen ein weiteres Mal, wie sie so in ihren Halterungen hingen. Schließlich wandte er sich, um die nun entstandene Gesprächspause zu überbrücken, an den gesichtslosen Barkeeper: „Zwei Whiskey, bitte! Ich darf Sie doch einladen?“ Er nickte dem Tod freundlich zu.
„Gerne“, antwortete der Tod. Sich unterhalten war nett, anstrengend, aber nett. Schwierig, aber nett. „Sie sind Lehrer von Beruf?“ Nicht, dass der Tod dies nicht gewusst hätte, aber es erschien ihm höflich, zumindest eine Frage zu stellen, um auch Interesse zu demonstrieren, um zu zeigen, dass er es durchaus schätzte, sich einmal unterhalten zu dürfen. Und um das Schweigen zu durchbrechen. Frank verblieb noch Zeit, das wusste der Tod, also beschloss er, nicht einfach nur zuzuwarten. Er hätte den Mund halten sollen, aber wenn er nun schon einmal in einem Gespräch war, warum es nicht fortsetzen?
„Ja, ich bin Lehrer. Oder war ich Lehrer?“ So ganz sicher und eindeutig seinen augenblicklichen Zustand zu benennen, fiel ihm schwer. „Es war ein schöner Beruf.“ Er lächelte unsicher.
„Klingt nach einem interessanten und fordernden Beruf. Bei Ihnen war sicher immer etwas los. Die Kinder und Jugendlichen heute halten einen auf Trab“, meinte der Tod überzeugt.
„Sie lernen sicher immer wieder interessante Menschen kennen.“
„Nur kurz. Kennen lernen wäre übertrieben. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Eher ein Gehen. Es wird nicht viel erzählt. Menschen sind im Allgemeinen schweigsam, oder so aufgedreht, dass man mit ihnen nichts anfangen kann.“
„Sie sollten umsatteln. Vielleicht tatsächlich ein Taxiunternehmen gründen. Während meiner Studienzeit habe ich mir die Nächte in einem Taxi um die Ohren geschlagen. Als Fahrer. Habe mir so das Studium finanziert. Immer wieder ist es passiert, dass jemand im Taxi sein Herz ausgeschüttet hat. Oder Liebesszenen sich abgespielt haben. Oder es wurde gestritten. Nicht immer war es interessant, aber doch immer wieder einmal.“
Der Tod dachte nach. Jeder Taxilenker, das wusste Frank, hatte ein paar Anekdoten auf Lager von besonderen Fahrgästen. Auch der Tod hätte einiges von seiner „Tätigkeit“ zu erzählen gewusst, Dinge, die er gesehen hatte, schöne Dinge, schreckliche Dinge, immer dann, wenn er jemanden entwesentlichte, oder Geschichten aus dem Anbeginn der Zeit, die Frank sicher begeistert hätten. Geschichten, die niemand kannte, oder Geschichten, die jeder kannte, aber anders, als sie eigentlich gewesen waren. Jedoch gab es im Augenblick nichts, was er erzählen wollte. Vielleicht hätte er als Berufswunsch doch Bestattungsunternehmen angeben sollen. Dies dürfte, allgemein betrachtet, auch ein krisensicherer Beruf sein. Möglicherweise wäre angeregtes Schweigen dann das Resultat gewesen. Doch Taxiunternehmer hatte er irgendwie positiver empfunden. Allerdings, auf ein, zwei flotte Sprüche wäre er auch beim Bestatter gekommen. Etwa: Schön, wenn man für andere Menschen eine tragende Rolle spielen kann. Oder: Tot sein ist toll, man ist immer unter Leuten. „Macht nichts“, überlegte der Tod, „Taxi ist wahrscheinlich seriöser.“
Frank zögerte mit der nächsten Frage. Als schüchtern sah er sich an und für sich nicht, aber manche Fragen schienen ihm zu direkt, zu persönlich. Schließlich stellte er sie trotzdem. Was hatte er zu verlieren? „Ist es deprimierend? Der Tod zu sein. Ich meine, ist es schlimm, der Tod zu sein?“
Der Tod überlegte. Nein, der Tod zu sein, war nicht deprimierend. Es war etwas anderes. Doch er konnte nicht gut lügen. Der Tod fühlte, wie sich ein vollkommen unbegabter Mensch fühlen musste, der sich an ein Klavier setzt und dabei mechanisch in die Tasten zu greifen beginnt. Er verhielt sich dabei wie jemand, der unbedingt Klavier spielen möchte, jedoch über absolut kein Talent verfügt. Es fehlte ihm an Gefühl für die Musik. Es fehlte ihm an Gefühl für das Lügen. Irgendwann war er an einem Ort erschienen, an einem Autobahnparkplatz. Wer auch immer sich diesen Ort gewählt hatte, selbst ihm, dem Tod, schien dieser Ort ungewöhnlich. Viele einsame und verlassene Klaviere erzählten dort ihre traurigen Geschichten, wenn sie abends an diesem Autobahnparkplatz zusammensaßen und den Mond anheulten aus alten, verrosteten Saiten, durch die der Wind pfiff. Klaviere, die ausgesetzt worden waren wahrscheinlich von ihren Besitzern, die einfach genug von ihnen hatten. Die sie verstoßen hatten, nur weil sie, egoistisch wie sie waren, vielleicht allein in Urlaub hatten fahren wollen. Ohne zu üben. Oder denen eher der Sinn für Musik fehlte. Ohne Musik. Ohne Talent. Die die Klaviere wegen des eigenen Versagens verstießen, wegen der eigenen Unfähigkeit. Wegen des eigenen Mangels. Diese Unzulänglichkeit. Kein Talent. Auch dem Tod mangelte es jeglichen Talents. Er fühlte, so wie sich jener Mensch unter all seinen Klavieren gefühlt haben mochte. Nur eine Lüge! Selbst nur eine kleine Lüge! Lügen konnte er einfach nicht. Warum auch? Er hatte es nie erlernen müssen, hatte nie vor der Wahl gestanden, jemanden anzulügen oder ihn zu enttäuschen. Dein neues Kleid – es steht dir gut. Er hatte nie vor der Wahl gestanden, ein hoffnungsfrohes Lächeln zu zerstören oder zu lügen. Der Tod konnte nicht lügen. Er versuchte es dennoch: „Nein, ich bin nie deprimiert.“ Frank glaubte ihm nicht.
„Ist es die Einsamkeit?“
„Aber nein, deprimierend ist es wirklich nicht, der Tod zu sein.“ Frank beobachtete den Tod. Der Tod gab das Schwindeln auf. „Na gut, aber es ist nicht die Tatsache, dass man der Tod ist, die manchmal deprimiert. Es sind eher die Umstände.“
„Welche Umstände? Sie haben doch vorhin erklärt, dass alle immer sofort Ihnen folgen.“
„Das Folgen, das Mitgehen ist nicht das Problem. Das ist eben Teil meines Seins. Der Grund meines Seins.“
„Was ist es dann?“
„Sehen Sie, es sind eben die Umstände. Ich bin nicht dafür verantwortlich, wen ich abhole, wen ich treffe. Dafür verantwortlich ist Irgendwer. Sie wissen schon, ich habe Ihn vorhin erwähnt. Er schafft die Regeln. Er bestimmt, an wen ich mich zu wenden habe. Er ordnet an, wer abzuholen ist. Er entscheidet, wer bedeutend ist. Er verfügt über mich. Er verfügt über uns.“
„Und?“
„Und manchmal, wenn ich zum Nachdenken komme, verstehe ich nicht alles und beginne zu grübeln. Zeitweise habe ich tatsächlich den Eindruck, dass für Irgendwer alles nur ein Spiel ist. Sie kennen das sicher, es gibt schon seit ewigen Zeiten das Bild der Götter, die beisammensitzen und über das Schicksal der Menschen mit dem Würfel entscheiden. Die spielen und trinken und den lieben langen Tag nichts anderes tun als sich vergnügen. Das, was den Menschen zustößt, ist in Wahrheit für die Unsterblichen Nebensache. Nun, ich kenne Irgendwer schon lange, und ich habe viel von ihm gehalten, weil er eben nicht so war, weil ich immer dachte, er würfle nicht. Nur mittlerweile bin ich leider nicht mehr in der Lage, diesen einen großen Plan zu erkennen. Ich laufe und laufe ohne Pause, bin mal hier, mal da, mal dort, und habe keine Ahnung, wieso, warum, weshalb. Ich komme nicht zu allen. Doch zu wem komme ich? Ich weiß von diesen würfelnden Göttern, weiß, wie es war, wie es gewesen ist und wie es sein wird. Weiß vieles, nahezu alles. Weiß vom Gestern, vom Morgen, vom Heute, weiß vom Menschen. Vom Tun, vom Kommen, vom Leben, vom Gehen, vom Sterben, weiß von allem. Aber ich weiß nicht, weshalb alles so ist.“
„Weshalb Sie auf mich warten, und weshalb nicht auf einen anderen?“, fragte Frank.
„Weshalb Sie, und weshalb nicht ein anderer.“
„Diese Frage hat für mich eigentlich keine Bedeutung. Ich weiß, weshalb. In dem Augenblick, als ich es getan habe, war klar, wie es enden würde. Und ich habe es dennoch getan. Ich konnte nicht anders. Ich musste es tun.“
„Und tragen die Konsequenz. Nun sind Sie hier. Aber warum waren Sie dort? Gerade Sie und nicht ein anderer? Wie viele Millionen und Abermillionen Menschen gibt es? Und warum waren Sie es gerade? Und warum also bin ich hier? Wo ist der Plan?“
„Es war mein Risiko. Es war meine Entscheidung.“
„Ihre Entscheidung. Sind Sie sicher?“
„Sie meinen, Er hätte es gesteuert? Oder es gäbe einen guten Grund, dass ich es gewesen bin? Und Sie bei mir sind? Gerade ich?“
„Genau das weiß ich nicht.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Er mich gesteuert hat. Ich kann nicht einmal sagen, dass ich es bereue. Trotz der Folgen. Ich stehe noch immer zu dem, was ich getan habe. Und daher denke ich, dass es meine Entscheidung war.“
„Meinen Sie wirklich? Ich habe einmal jemanden gekannt, vor langer Zeit, der auch zu seiner Entscheidung gestanden ist. Trotz der Folgen. Aber ob es tatsächlich nur seine Entscheidung war?“ Der Tod blickte nachdenklich, ein wenig gedankenverloren. Sein inneres Auge war starr in die Vergangenheit gerichtet. Er dachte zurück, an eine Geschichte längst vergangener Tage. Eine Geschichte, die er nicht erzählen hatte wollen. Aber Geschichten wollen erzählt werden. Vor allem nachts, unter Männern. Eine Bar. Zwei Stühle. Zwei Gläser. Zwei Männer. Schneeball und Lawine. Geschichten.