Читать книгу Die Anmut der Einsamkeit - Markus Szaszka - Страница 5
ОглавлениеEin junger Mann kommt in eine gut gefüllte Berliner Kiezkneipe, bestellt eine Karaffe Wein bei der Bar, setzt sich an einen kleinen Tisch in der hintersten Ecke des Raumes und beginnt in sein Büchlein zu schreiben.
Vorrede
Mit meinem Daumen taste ich nach einem Ring, wo keiner mehr ist. Auch nach fünf Monaten ist es noch ungewohnt, keinen mehr zu tragen. Nicht mehr nervös mit ihm spielen zu können, wenn ich sonst nichts mit mir anzufangen weiß.
Ich mochte diesen Ring. Ich mochte, was er symbolisierte.
Verheiratet zu sein, damit fühlte ich mich sehr wohl.
Meine Frau ist also weg, die Gewohnheit, an sie zu denken, aber nicht.
Es ist der achtzehnte Februar, einundzwanzig Uhr – welches Jahr, das spielt keine große Rolle.
Morgen früh werde ich nach Wien fliegen und der Gedanke daran schmerzt. Mein Brustraum wabert, als ob ein schwarzes Loch darin rotieren würde.
Daran zu denken, meine Noch-Ehefrau zum ersten Mal seit unserer Trennung wiederzusehen, macht mich nervös.
Ich wünschte, ich würde sie nicht mehr lieben. Das würde alles einfacher machen, denn dann könnten wir uns auf Augenhöhe begegnen, aber das habe ich trotz aller Bemühungen nicht fertiggebracht.
Weil ich die Ruhe in meiner Wohnung nicht mehr ausgehalten habe, bin ich in meiner Stammkneipe auf der gegenüberliegenden Straßenseite eingekehrt, wo abends immer was los ist.
Mir ist nicht nach Gesellschaft zumute, aber zu Hause zu bleiben, das fällt mir heute schwerer als sonst.
Und hier im Artliners auf der Gärtnerstraße ist es gut möglich, nicht allein zu sein und gleichzeitig in Ruhe gelassen zu werden – wenn man das denn möchte.
Für einsame Trottel wie mich, die versuchen ihr Leben auf die Reihe zu bekommen und immer wieder aufs Neue daran scheitern, scheint Berlin wie gemacht zu sein.
Nur wenn meine Ritterrüstung ab und zu scheppert oder wenn mein Federbusch ulkig in meine Weißweinkaraffe kippt, dann sieht der ein oder andere Abendmensch zu mir, aber ansonsten kümmern sich die meisten um ihren eigenen Dreck.
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So ist der Mensch des 21sten Jahrhunderts; hemmungslos mit sich selbst beschäftigt.
Ich bemühe mich stets, an das Gute im Menschen zu glauben, und deshalb möchte ich meine Generation nicht als stumpf oder dumm bezeichnen, wie es unzählige Schriftsteller vor mir getan haben, obwohl es so einfach wäre.
Verwirrt, unbeholfen, ulkig. Das sind passendere Wörter, die mir für die Menschen dieser Zeit einfallen. Für all die überforderten Einkäufer inmitten hochgeschwindiger Veränderungen.
So rasant, wie sich unsere Gesellschaft wandelt, und so viel, wie wir von diesem Wandel informationstechnisch mitbekommen, ist es wenig verwunderlich, dass viele von uns nicht mehr wissen, wo oben und wo unten ist.
Selbstverständlich ist Veränderung etwas Gutes, besser gesagt etwas Undiskutables, aber ob wir wirklich von jeder Veränderung dieses Erdballs mitbekommen müssen, das ist eine Frage, die wir uns ruhig und in aller Deutlichkeit stellen dürfen.
Hinzu kommen die vielen wirren Überzeugungen, die in unserer neuen Wahlheimat, dem Netz, auf uns einprasseln. Und mir scheint, dass es im einundzwanzigsten Jahrhundert zunehmend wenig Platz für die aufgeräumten Gelehrten der Prä-Internet-Epochen gibt.
Zu wenig optimiert sind die alten Wälzer, zu wenig orientieren sie sich an der optimalen Videoclip-Dauer, zu schlecht haben Diogenes, Petrarca und Sartre ihre Keywords recherchiert, sodass es wohl kein Wunder ist, dass keiner mehr auf sie hören mag, sondern lieber auf die Armada an Coaches, die in gut ausgeleuchteten YouTube-Zimmern erklärt, wie die Welt funktioniert.
Und so ist es mittlerweile passiert, dass wir gemeinschaftlich Reichweite mit Kompetenz verwechseln. Gutes Aussehen mit Weisheit. Zielstrebige Unternehmer mit Gelehrten.
Es ist ein gefährliches Spiel der Algorithmen, das uns regelmäßig den Schlaf am Abend und die Konzentration in der Früh raubt.
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Das Halbwissen ist siegreicher als das Ganzwissen: Es kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung fasslicher und überzeugender, hat jemand einmal geschrieben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wer, aber ein Influencer wird es nicht gewesen sein.
Auch ich war vor dieser digitalen Irreführung nicht gefeit, genauso wenig wie meine Frau, und jetzt haben wir den Salat.
Nun gut. Es ist nicht einfach, ein Mensch zu sein, deshalb sollte ich mit niemandem zu hart ins Gericht gehen, uns weiterhin möglichst als ulkig wahrnehmen und weiterhin tun, was ich am besten kann und was mir guttut: In der hintersten Ecke dieser Stube sitzen, die anderen Gäste beobachten, mir meine Gedanken machen und schreiben.
Abgesehen vom Spazierengehen, dem heiligen Spazierengehen, ist das schon immer mein zweites Heilmittel gewesen, wenn ich ein wenig Aufmunterung und/oder Klarheit benötigte.
Ich bezweifle, dass ich mich heute aufmuntern werd können, aber Klarheit ist machbar – einen neuen Sinn kann ich mir für mein neues Leben nach dem morgigen Tag geben.
Wenn ich das nicht tun werde, wer dann? Und was dann?
Während der vergangenen Monate habe ich mich häufig gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass ich mein Leben nicht mehr mit dem Menschen teile, den ich am meisten liebe. So ganz habe ich dieses Rätsel noch nicht gelöst. Vielleicht wird es mir heute gelingen.
Zu diesem Zweck sollte ich mit dem Tag beginnen, an dem mein Elend begann, sprich mit dem Tag, an dem mir meine Frau sagte, dass sie sich in einen anderen verliebt hatte.