Читать книгу Die Anmut der Einsamkeit - Markus Szaszka - Страница 7
ОглавлениеErstes Kapitel
Welcher Wochentag es war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Es war Vormittag und ich schrieb an einem Text in meiner Berliner Höhle, einer Zwischenmiete, die ich gehasst habe. Ich hatte sie lediglich für zwei Monate, eine Notlösung, denn aufgrund von Visa-Problemen konnte ich nicht bei meiner Frau sein.
Vielleicht hätte ich können, aber ich war es nicht.
Sechs Jahre waren wir zusammen gewesen und während ihres Studiums in Berlin hatte es nie Probleme mit dem Aufenthaltstitel gegeben. Erst nachdem wir geheiratet und nach Wien gezogen waren fing das viele (ungewollte) Rumreisen an.
Als Russin konnte sie nicht ohne weiteres dableiben, was aber nichts mit dem Herkunftsland oder dem Bleibeland zu tun hatte, sondern, wie meistens auf unserer degenerierten Welt, ging es einzig und allein ums Geld.
Zwar versuchte die MA 35 in ihrem Absageschreiben verkrampft darzustellen, dass es sich nebst den Geldschwierigkeiten um integrative Schwierigkeiten handelte, aber glauben Sie mir, meine Frau konnte besser Deutsch als all die grantigen Wiener im Einbürgerungsamt zusammen.
Deutsch ist eine von vielen Sprachen, die sie spricht, und verglichen mit den sadistischen Beamtinnen der Magistratsanstalt, die niemals Manieren beigebracht bekommen hatten, hätte meine Frau deren Jobs noch vor dem ersten Kaffee erledigt.
Nun gut, mit der stadtbekannten Unfreundlichkeit der Beamtinnen war zu rechnen, dennoch, es erschreckt mich bis heute jedes Mal aufs Neue, wenn ich in eine der finsteren Wiener Behörden gehen muss, um eine Angelegenheit zu erledigen, die längst online abgefrühstückt werden könnte, und miterleben muss, wie hartnäckig sich die Charakterzüge des nationalsozialistischen Regimes in den stickigen Kämmerlein der vergessenen Träume eingenistet haben.
Hart ausgedrückt? Ja, aber der Alltag in den Wiener Ämtern ist nun mal hart, vor allem, wenn man keinen Wiener Dialekt spricht und keinen österreichischen Pass vorzuweisen hat.
Gleichwohl das mit dem Geld schon stimmte, zumindest auf dem Papier, denn ich allein habe nicht ausreichend viel für uns beide verdient, nicht die vom Staat festgelegte Summe an Euros, die es uns erlaubt hätte, beisammen zu sein.
Gemeinsam verdienten wir nicht viel, aber genug, um ein glückliches und gar nicht mal so bescheidenes Leben zu führen. Gutes Essen und Reisen waren immer drinnen, aber sie als Musikerin und ich als Schriftsteller konnten die Bestien der MA 35 nicht davon überzeugen, unsere beiden Einkommen zu berücksichtigen.
Die Hirnrissigkeit mancher Teile der Bürokratie, wir wissen das alle, ist himmelschreiend. Da fällt es sogar mir schwer, die Beschränktheit der Gesetzgeber und deren seelenlosen Lakaien unbeirrt als ulkig wahrzunehmen. Aber ich bemühe mich, selbst in den größten Bestien des Menschengeschlechts an das Gute zu glauben.
*
Auch wenn die Nacht noch jung ist und ich knapp sieben Stunden habe, bevor ich zu meinem Sechs-Uhr-Flug aufbrechen werde; diese Geschichte ist nicht kurz und ich muss mich ranhalten, um sie vor dem Sonnenaufgang fertigzubekommen.
Und ich werde versuchen, meinen gedanklichen Faden nicht allzu häufig zu verlieren und nicht zu sehr in meinen Gedankengängen herumzuspringen – wenn es passieren wird, sehen Sie es mir nach.
Stellen Sie sich diesen Text am besten wie ein Bargespräch vor, eines, bei dem Sie von einem leicht zerstreuten, neurotisch anmutenden, fahrig gestikulierenden Klischeeschriftsteller in schwarzem Rollkragenpullover und Hornbrille vollgelabert werden, der kurioserweise eine Ritterrüstung trägt.
Denn im Grunde ist es genau so, nur dass wir einander just in diesem Moment nicht gegenübersitzen, sondern ich Sie zeitversetzt und schriftlich volllabere.
Nun aber zurück zu den Visa-Schwierigkeiten meiner Frau.
*
Der Fairness halber muss ich erwähnen, dass meine Frau und ich uns besser hätten informieren können. Mit Hilfe einer simplen Unterstützungserklärung wären die Chancen auf ein Bleiberecht vermutlich gar nicht schlecht gewesen, aber diesen Tipp haben wir erst erhalten, als es schon zu spät war – nachdem der Aufenthaltstitel verwehrt worden war und wir uns recht verzweifelt mit einem Anwalt besprachen.
Der Herr Jurist bestätigte, dass Maria Österreich verlassen musste. Uns blieb nur noch die Anfechtung der Entscheidung der unsympathischen Dame mit den fettigen, ungewaschenen Haaren von der MA 35, die sich einen Dreck um uns gekümmert hat, uns jegliche Informationen vorenthielt und lediglich »Na, Sie müssen schon selbst wissen, wie Sie uns überzeugen können« entgegenrotzte – inklusive einem schelmischen Lächeln. Man merkte es dieser dicken Frau richtig an; sie genoss es, uns ein Bein zu stellen.
So wie die ungarische Nachrichtenreporterin es 2015 genossen hat, dem fliehenden Flüchtlingsvater mit seinem Kind in der Hand das Bein zu stellen.
So wie der Mörder von George Floyd es 2020 genossen hat, sein Knie auf dessen Hals zu drücken.
Die Welt ist auch heute noch voller Faschisten, die irgendeiner Führung die Eier lecken, aber ich bleibe trotzdem dabei: Dem Menschen wohnt ein guter Kern inne und nichts muss bleiben, wie es ist.
Und wie man es von Künstlern nicht anders erwartet, waren Maria und ich viel zu sehr damit beschäftigt, unseren Träumereien nachzujagen, sodass wir es verabsäumten, das Aufenthaltsrecht zu entziffern – ein herz- und hirnloses Regelwerk, von irgendwelchen Bürokraten zusammengeschustert.
Markus und Maria, verliebt, verheiratet und mit den Köpfen zwischen den Sternen.
Mea culpa.
Mittlerweile verstehe ich, dass es meine Verantwortung gewesen wäre, diese Angelegenheit zu regeln. Meine Frau war zu dieser Zeit nicht mehr zurechnungsfähig, denn diese Welt hatte sie wucherisch überfordert. Sie tat sich schwer mit ihrem Leben, denn ihr Bruder hatte seines ein Jahr zuvor verloren.
Sie machte gute Miene zum bösen Spiel und versuchte bestmöglich zurechtzukommen, aber es gelang ihr nicht, das Geschehene zu verarbeiten – und ich war keine große Hilfe.
Keiner von uns beiden begriff den Ernst der Lage. Unserer Art entsprechend winkten wir ab, egal was kam, und meinten, dass alles gut werden würde. Ganz nach dem Motto: Scheiß drauf!
So lebte ich bis zum Vormittag des 16. September, als unser interkontinentales Katz-und-Maus-Spiel ein Ende nahm.
Es waren neun knifflige Monate, seit Maria Österreich verlassen musste. Länger als vier Wochen lebten wir aber nie getrennt voneinander, also wäre das Ganze für eine gesunde Liebesbeziehung und reife Persönlichkeiten ein Klacks gewesen.
Ob Folgendes verkehrt oder vielleicht auf den Punkt richtig war, das weiß ich nicht, aber das starke Vermissen und das Reisen, um einander sehen zu können, empfand ich als etwas sehr Romantisches. Vermutlich sah ich das Unheil deshalb nicht auf mich zukommen.
Anfangs war sie in Moskau und ich in Wien.
Dann waren wir beide in Sankt Petersburg.
Dann wieder getrennt.
Dann gemeinsam in Berlin.
Dann wieder getrennt.
Dann gemeinsam in Tiflis.
Dann wieder getrennt.
Zuletzt wollten wir uns in Kiew treffen.
Lange hätte es nicht mehr gedauert, bis eine Antwort vom Verwaltungsgericht eingetrudelt wäre. Ein paar Monate noch, bis diese Schnitzeljagd ein Ende gehabt hätte und wir endlich dauerhaft zusammen sein durften.
Aber die Zerreisprobe unserer jungen Ehe, die nach einem Jahr, einer Woche und einem Tag endete, war zu heftig gewesen.
Immer wieder mal für ein paar Wochen getrennt voneinander zu leben, das sollte drinnen sein, wenn sich zwei Menschen lieben, dachte ich. Niemals hätte ich es mir vorstellen können, nicht mehr mit dieser Frau zusammen zu sein, auch wenn es manchmal und notgedrungen eine Beziehung auf Distanz war.
Vermutlich hatte ich in meinem Leben zu viele romantische Bücher gelesen, von großen Lieben, die große Hindernisse überwanden. Und damit meine ich keinesfalls nur fiktive Erzählungen, sondern durchaus auch wahre Begebenheiten.
Mea culpa.
Ich übersah vieles, was eindeutig war. Dass mir das Alleinsein einfacher fiel als ihr. Dass sie aufgrund des Verlustes ihres Bruders die Stabilität eines Ortes gebraucht hätte, im Gegensatz zu mir. Dass ich mich mehr um unsere Situation und sie hätte kümmern müssen, anstatt stets nur alles dafür zu tun, damit die Qualität meines Schreibens sich verbesserte.
Für das Schreiben lebe ich. Gleichzeitig: Zum Teufel damit und zum Teufel mit mir, der ich meine Frau im Stich gelassen habe, als sie mich am meisten brauchte.
Gut, dass sie sich von mir entliebte. Gut für sie.