Читать книгу Mohnblumen - Markus Szaszka - Страница 7
ОглавлениеErstes Kapitel
»Mama? Wo bist du?«, fragte Linh verspielt, obwohl sie wusste, dass ihre Mutter sie nicht hören würde. Zu weit war das Mädchen vom Patientenzimmer weggegangen, um verwaiste Krankenhausflure zu erkunden.
Um zwanzig Uhr hätte ihr Papa sie abholen sollen und um fünfzehn nach acht war sie losmarschiert, trotzig, unruhig und voller Tatendrang.
Er verspätete sich häufig, weil er als Jurist eine ernste Arbeit hatte, die viel von ihm abverlangte. Nicht zuletzt war das ein Grund, weshalb Mama und Papa seit geraumer Zeit getrennt lebten, wusste das Kind.
Linh war es nicht anders von ihm gewohnt, hatte sogar Verständnis für ihren armen, überarbeiteten Vater und fühlte sich deshalb nicht traurig.
Die Langeweile allerdings, die konnte sie kaum aushalten. Das war schon immer so gewesen.
Fünfzehn Minuten auf jemanden zu warten, stillsitzend und Däumchen drehend; ein unmögliches Unterfangen.
Vielmehr noch war es an diesem Abend so, dass Linh sich über sein Zuspätkommen sogar freute, denn sie hatte ein Gefühl, als ob es gut wäre, noch ein bisschen im Krankenhaus zu bleiben und es zu erforschen – ein Abenteuer zu haben.
Für ihre jungen neun Jahre war Linh sehr keck. Mutiges kleines Ding sagte ihr Vater immer, wenn sie sich unerlaubterweise der elterlichen Aufsicht entzog, aus dem Staub machte und auf eine ihrer berüchtigten Erkundungstouren ging.
Oft hatten sie sich schon Sorgen gemacht, wenn sie nach Schulschluss noch im Gebäude blieb und im Biologie-Zimmer über die präparierten Tiere in Gläsern staunte. Oder wenn sie im Einkaufszentrum ins Spielzeuggeschäft flüchtete, um dort mit ein paar Teddybären in einem aufgeschlagenen Zelt zu spielen. Oder jetzt, wenn sie sich aus Langeweile im Krankenhaus umsah, um etwas zu tun zu haben.
Linh machten solche Ausflüge einen Riesenspaß, nur ihre Eltern litten unter dieser frühreifen Selbstständigkeit. Und all das Geschimpfe und Ermahnen, nicht ohne Vorwarnung zu verschwinden, war stets spurlos an dem Kind vorbeigegangen.
Meistens fürchtete sich Linh nicht, wenn sie allein herumstrolchte, aber an diesem Abend war ihr zumindest ein wenig mulmig zumute.
Die sterilen Gänge des AKH konnten nämlich etwas Einschüchterndes an sich haben, vor allem spätabends und nachts, wenn die meisten Tagesbesucher nicht mehr da waren.
Denn dann hörte man nur noch das Knistern der Leuchtstoffröhren an den Decken und hin und wieder Geräusche aus den Kranken-, Tierversuchs- und Laborzimmern.
Die Besuchszeit endete für gewöhnlich um neunzehn Uhr. Und die Passanten, die gerne mal durch das Krankenhaus hasteten, weil es eine Abkürzung zwischen dem Währinger Gürtel und der Spitalgasse sein konnte, lagen um diese Zeit bereits selig auf ihren Couchen. Die meisten Ärzte auch. Die Medizinstudenten, die tagsüber in den Hörsälen paukten, befanden sich in Kneipen und das Nachtpersonal hütete die Bereitschaftszimmer.
Es gab noch die Ambulanz, sie befand sich in einem Eckchen des Erdgeschosses, und da war immer was los. Aber dorthin verirrte sich Linh an diesem Abend nicht.
Zunächst hatte sie sich bloß die hübsch gestalteten Wände der Station angesehen, in der ihre Mutter lag, und dann war sie einem ulkig aussehenden Doktor in einen der Aufzüge gefolgt. Er hatte ein plüschenes Kätzchen unter seinem Arm getragen und war in sein Klemmbrett vertieft gewesen, sodass er das Mädchen, das mit ihm im Personalaufzug nach unten fuhr, nicht einmal bemerkte.
Dann war er in einem der vielen Zimmer der dritten Ebene verschwunden, die sich zwei Ebenen unter dem Haupteingang befand.
Linh tapste ihm hinterher und las Nuklearmedizin auf der Tür, die er gut hörbar verschloss.
»Hm«, überlegte sie, kaum von dieser Zwickmühle beeindruckt, die sie nicht vorausgesehen hatte. So etwas brachte ihre Verträumtheit nun einmal mit sich. Das war sie gewohnt. »Blöd! Wie komme ich jetzt nur zurück zu Mama?«
Die naheliegende Idee, die auch Linh einfiel, war zurück zu den Aufzügen zu gehen und hinaufzufahren. Nur hatte sie sich dummerweise nicht gemerkt, auf welcher Ebene ihre Mutter lag und ihr Vater womöglich schon schimpfend auf sie wartete.
»Ach Menno! Ich glaube, es war eine zweistellige Ebene. Zwölf? 19? 14? Hühnerkacke! Ich weiß es nicht mehr«, sprach das mutige kleine Ding mit sich selbst, um die aufkeimende Nervosität zu verscheuchen. »Was mache ich denn jetzt?«
Und just in diesem Moment sauste ein jugendliches, vielleicht fünfzehn- oder sechzehnjähriges Punk-Rock-Mädchen auf einem Skateboard aus einem der Seitengänge und direkt auf Linh zu, die ein bisschen erschrocken »Wow!« rief. Aber sie beruhigte sich gleich wieder, weil das Mädchen harmlos aussah – und cool – alles an ihm;
Die schwarz-grün gestreiften Strumpfhosen, der weiß-pinke Hello-Kitty-Kapuzenpullover, die Jeanskutte mit den vielen Aufnähern, der kleine, niedlich gestaltete Totenkopfanhänger und auch der schöne Ponyhaarschnitt, der ihm zu den Schultern ging. Es sah aus wie die große Schwester, die Linh sich manchmal wünschte, aber als Einzelkind nicht hatte.
Das Teen zog sich die Kopfhörer von den Ohren, blieb neben Linh stehen, kickte das Board mit einem gekonnten tritt in die Luft, fing es mit einer Hand, lächelte und fragte: »Hey, Kleine, weißt du vielleicht, wo die Ebene mit der Nummer siebzehn ist? Ich glaube, ich habe mich ein bisschen verfahren.«
»Ähm, nein, tut mir leid, ich habe mich aber auch verlaufen. Ich muss zu meiner Mama, aber ich weiß nicht, wo ihr Zimmer ist.«
»Oh, das ist ja ein Zufall. Hallo, mein Name ist Mori und wie heißt du?«, sagt sie und streckt Linh eine Hand entgegen.
»Ich bin Linh.«
»Cool. Ich mag dich. Du bist klein und süß und noch so jung. So lebendig!«
»Ähm, danke, nehme ich an«, Linh musste über beide Ohren grinsen, weil Moris Ausdrucksweise ungewöhnlich war. »Ich mag dich auch. Du hast tolle Klamotten.«
»Danke. Was meinst du? Sollen wir zusammen versuchen, zu finden, wonach wir suchen? Ich helfe dir und du hilfst mir.«
»Okay!«, jubelte Linh.
»Super.« Mori musterte den langen Hauptgang dieser Ebene und kratzte sich an der Stirn. »Schon komisch, dass wir hier unten gelandet sind. Hier gibt es doch gar keine Patienten. Ich glaube, wir müssen ein wenig weiter nach oben. Was denkst du?«
»Ja, wahrscheinlich. Ich bin mit dem Aufzug gekommen.«
»Wollen wir die Treppen nehmen? Die sind dort vorne. Die habe ich schon häufig genommen.«
»Ja, okay. Das heißt, du kennst dich hier aus?«
»Ein bisschen.«
Sie machten sich auf ihren Weg, beide erfreut darüber, nicht mehr allein rumstrolchen zu müssen.
»Und was für tolle Aufnäher du hast, Mori. Das sind alles Monster, oder?«
»Sind doch ganz süß, was meinst du?«
»Mhm, die meisten zumindest«, meinte Linh, der manche der Aufnäher zu grauslich waren.
»Aber dein Outfit ist auch nicht ohne. Ein Bärchen-Pulli. Ein Klassiker.«
»Ja! Das ist mein Lieblingspulli.«
»Und das zu Recht!«
»Und was sagst du zu meinen Strümpfen und zu meinem Tutu? Habe ich ganz neu bekommen, damit ich gut tanzen kann. Alles in Rosa, weil das meine Lieblingsfarbe ist. Meine alten, aber hübschen Tanzschuhe habe ich zu Hause, weil meine Sportschuhe bequemer sind. Leider sind sie weiß.«
»Die sind auch sehr schön. Sie passen gut zu dir, genauso wie deine Zöpfe und die Schleifchen darin.«
»Die habe ich selbst gebastelt, in der Schule. Ich habe sie bunt gemacht, weil sie so am besten zu meinen dunklen Haaren passen.«
So gingen die beiden nebeneinander einher, der Nacht entgegen, stiegen Treppen, liefen Gänge entlang, hielten nach einem Mitarbeiter des Krankenhauses Ausschau, den sie nach dem richtigen Weg fragen konnten, fanden aber niemanden. Manchmal huschte jemand weit entfernt über einen Flur, aber meistens sahen sie ihn nur aus dem Augenwinkel und dann war er wieder weg.
»Es ist wie verhext«, stellte Linh fest.
»Ja, irgendetwas ist Besonders an dieser Nacht. Ich spüre es auch.«
Also gingen sie weiter, suchten nach der Ebene Nummer siebzehn und Gängen, die Linh bekannt vorkamen. Diejenigen, bei denen ihre Mutter lag, trugen hübsche Mohnblumenmalereien auf den Wänden.