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ОглавлениеI – Nah am Affen gebaut
„Gott hat den Menschen erschaffen, weil er vom Affen enttäuscht war. Danach hat er auf weitere Experimente verzichtet.“
(Mark Twain)
Triebgesteuert
Dieses Buch über die Zukunft der Menschheit beginnt, wie der Mensch selbst: mit Sex. Natürlich durch eine neutrale Brille betrachtet, die wir uns von einem beobachtenden Wissenschaftler ausgeliehen haben.
Einige Leser werden sich fragen: „Was hat der Geschlechtsakt mit den Auswüchsen des Kapitalismus zu tun?“ Diesen antworte ich: „Mehr als Sie denken“ und „Warten Sie es ab“.
In diesem Kapitel möchte ich in einem kleinen Exkurs verdeutlichen, wie wichtig das Gehirn für unser Leben ist. Der bekannte Gehirnforscher Dick Swaab behauptet in seinem gleichnamigen Buch sogar, dass „wir unser Gehirn sind“. Das Handeln wird zu 100 Prozent vom Gehirn gesteuert. Da unser Rechenzentrum das Ergebnis einer mehr als drei Milliarden Jahre dauernden Evolution darstellt, darf es nicht verwundern, wenn biologische Restbestände unbewusst tief in uns schlummern und dafür sorgen, nicht immer erklärbare Entscheidungen zu fällen.
Der Sexualtrieb stellt einen wichtigen Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit dar. Auch deshalb eignet er sich gut, um zu zeigen, dass der Mensch vielen Tieren entwicklungsgeschichtlich näher steht als gemeinhin bekannt ist. Bereits Charles Darwin stellte 1871 fest, „dass es keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem Menschen und den höheren Säugetieren hinsichtlich ihrer geistigen Fähigkeiten gibt.“
Ohne Fortpflanzung gäbe es weder den Menschen, noch seine nächsten Verwandten, Schimpansen und Bonobos, nicht einmal Mäuse oder Fliegen. Unsere Spezies ist auf Sex angewiesen, um sich selbst zu erhalten. „Reproduktion ist zu wichtig, um sie dem Zufall zu überlassen.“1 An sich eine triviale Erkenntnis, dennoch sind Menschen immer wieder verwundert, weshalb dieser Trieb über rationale Entscheidungen gestellt wird. Viele Scheidungsanwälte können davon gut leben.
Die Sexualität ist überall auf der Welt durch Rituale und Strafen reguliert, da sie wegen der damit verbundenen Fortpflanzung nicht nur eine biologische Komponente besitzt, sondern auch wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einflüssen unterliegt. Dennoch ist folgendes festzustellen: „Ein funktionsfähiges Moralsystem löst seine Regeln selten völlig ab von den biologischen Imperativen des Überlebens und der Reproduktion.“2 Dies zeigt sich in unseren Tagen etwa in einem nach wie vor größeren „Verständnis“ für Seitensprünge von Männern und der Bevorzugung der Mutter bei einer Sorgerechtsentscheidung.
In zahlreichen Umfrageuntersuchungen behaupten Wissenschaftler, dass Männer über einen stärkeren Sexualtrieb als Frauen verfügen. Aber diese Umfragen können als Beleg dafür dienen, dass sowohl Männer als auch Frauen in Bezug auf Sexualität nicht die volle Wahrheit sagen. Bei einer Umfrage mit Collegestudenten gaben die weiblichen Testpersonen der ersten Gruppe an, dass sie durchschnittlich 2,6 Sexualpartner in ihrem Leben hatten. Die Teilnehmer der zweiten Testgruppe dachten, dass sie von einem Lügendetektor überwacht werden. Diese Frauen gaben einen Durchschnittswert von 4,4 Sexualpartnern an – 1,8 Partner mehr als die „ungeprüften“ Teilnehmer. Bei den Männern zeigte sich ein entgegengesetztes Bild – allerdings nicht so extrem. Ohne Lügendetektor gaben sie 4,0 Sexualpartner an, mit angeblicher Überprüfung des Wahrheitsgehalts ihrer Aussage 3,7 Sexualpartner.3 Die Forscher halten die sozialen Erwartungen an das sexuelle Verhalten verantwortlich für dieses „Flunkern“ – besonders bei Frauen. Dieses Experiment verdeutlichte, dass die „Paarung“ auch für Frauen wichtiger ist als gemeinhin angenommen wird.
Außerdem beweisen die traditionellen Umfragen zur Sexualität, dass viele als gesichert angesehene wissenschaftliche Fakten ein Ablaufdatum besitzen, oftmals dadurch zustande gekommen, dass die Forscher zu viel Vertrauen in die Wahrheit der Aussagen der befragten Personen hatten. Was heute noch als richtig gilt, kann morgen schon widerlegt sein.
Vorurteile bergen oftmals einen wahren Kern in sich. Aber manchmal ist auch genau das Gegenteil der Fall. Wohin schauen Männer bei Frauen zuerst? Viele Leser und vor allem Leserinnen werden jetzt mit Überzeugung behaupten, auf Brust oder Po. Weit gefehlt. Wie Tests ergaben, richtet das (heterosexuelle) männliche Geschlecht beim Anblick einer Frau in einer pornographischen Szene die Augen zuerst auf das Gesicht, um dann in südlichere Gefilde vorzudringen. Also sind Männer doch nicht so viel anders als Frauen, werden Sie jetzt denken. Doch. Frauen schauen nämlich bei Pornos zuerst auf das Glied und sehen anschließend auf das Gesicht. Glauben Sie nicht? Dann fragen Sie die Wissenschaftler vom Center for Behavioral Neuroscience in Atlanta.4 Hier kann man zwei Punkte feststellen: Manches stellt sich anders dar als man denkt und die rudimentäre Steuerung des Sexualtriebs betrifft sowohl Männer als auch Frauen.
Wie sehr dies zutrifft, lässt sich gut an einem Thema verdeutlichen, über das nach dem Zweiten Weltkrieg der Mantel des Schweigens ausgebreitet wurde. Während sich die deutschen Männer an der Front befanden, blieben die Ehefrauen zurück und mussten oftmals die schwere Arbeit, etwa auf dem Bauernhof, alleine weiterführen. Um sie zu unterstützen, wurden Kriegsgefangene zur Hilfeleistung abgestellt. Nachdem der biologische Kern eines Menschen sich niemals ganz abstellen lässt, begannen einige dieser Frauen eine Liebesbeziehung mit einem Kriegsgefangenen, obwohl den Frauen bekannt war oder bekannt gewesen sein sollte, dass eine derartige Liaison gesetzlich untersagt war. So wurden viele Frauen zu Gefängnisstrafen verurteilt und die Kriegsgefangenen erhängt. Objektiv betrachtet ist es schon verwunderlich, wieso eine Frau unter diesen Umständen eine Beziehung beginnt. Einzige Erklärung: Ab einem gewissen Punkt übernimmt der Trieb die Steuerung und führt auch zu für sich selbst und andere gefährlichem Verhalten. Für die Natur ist dieses jedoch absolut sinnvoll. Wird so die eigene Art doch unter allen Umständen erhalten.
Ein Kampf im Inneren
Was die primitivsten Wünsche des Menschen sind, ist uns in der von Konsum bestimmten Welt oft nicht einmal mehr bewusst. Haben Sie schon einmal bei den Handygesprächen anderer Menschen zugehört? Natürlich nicht absichtlich, was soll man auch machen, wenn der Sitznachbar in der U-Bahn inbrünstig telefoniert. Ist Ihnen dabei aufgefallen, wie banal die meisten Gespräche sind? Es geht um den Freund/die Freundin, ums Essen, was man am Wochenende gemacht hat – hin und wieder sogar mit wem – und sonstige alltägliche Dinge. Hieran erkennt man gut, was für die meisten Menschen zählt. Nur selten bekommt man ein Gespräch mit über politische Themen oder wissenschaftlichen Austausch. Sicher, diese Interessenbereiche werden vermutlich eher persönlich oder im Internet behandelt. Dennoch lässt sich feststellen, dass zwischenmenschliche Interaktion sich wie bei unseren haarigen Vorfahren vor allem um zwei Dinge dreht: Wer wen gelaust hat und dass man den Bauch vollbekommt.
Treffend hat eines der „menschlichen Urbedürfnisse“ Diogenes von Sinope benannt, als ihm Alexander der Große seine Aufwartung machte. „Geh mir nur ein wenig aus der Sonne!“ – mit diesen Worten hat Diogenes auf den Punkt gebracht, was zu den wichtigsten Dingen zählt: Sonnenlicht. So banal es klingen mag. Die Krone der Schöpfung sehnt sich nach den Strahlen der Sonne. Genau wie ein Insekt an der Hausmauer oder die Kuh auf der Weide. Und wenn diese wärmenden Strahlen fehlen, wie etwa im Winter, kommt es bei vielen Menschen zu wetterbedingten Depressionen.
Um zu erkennen, welche Gründe hinter den großen drängenden Problemen der Menschheit stehen, muss man dem Menschen selbst auf den Grund gehen. 100 Milliarden Nervenzellen in unserem Gehirn bilden ein Geflecht der Intelligenz, die jeden Supercomputer immer noch wie einen Röhrenrechner wirken lassen. Dabei verbrauchen sie nur so viel Energie wie eine 15-Watt-Glühbirne. Die Gehirnzellen des Menschen sind so hoch entwickelt, dass Mäuse schlauer werden, wenn man ihnen solche einpflanzt. Dies hat eine Arbeitsgruppe um Steven Goldman und Maiken Nedergaard vom University of Rochester Medical Center festgestellt. Die „gepimpten“ Tiere lernten schneller, dass auf einen harmlosen Ton ein Elektroschock an den Füßen folgte und verfügten über einen besseren Orientierungssinn.
„Selbst wenn wir üblicherweise unsere Rationalität überschätzen, lässt sich nicht leugnen, dass menschliches Verhalten eine Kombination von Trieb und Intelligenz ist. Den uralten Drang nach Macht, Sex, Sicherheit und Nahrung können wir nur schlecht kontrollieren, aber gewöhnlich wägen wir das Für und Wider unseres Handelns ab, bevor wir ans Werk gehen.“5 Das limbische System sitzt an den Schalthebeln der Macht. Davon ist auch der Neurobiologe Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth überzeugt. Sind wir also überhaupt dazu fähig, rationale Entscheidungen zu fällen? Die klare Antwort darauf ist Jein. Denn unser Verstand kann zwar eine Handlungsalternative vorschlagen, entschieden wird jedoch immer emotional. Prof. Roth: „Das limbische System hat … gegenüber dem rationalen corticalen System das erste und das letzte Wort. Das erste beim Entstehen unserer Wünsche und Zielvorstellungen, das letzte bei der Entscheidung darüber, ob das, was sich Vernunft und Verstand ausgedacht haben, auch wirklich getan werden soll.“6
Es ist schwierig, den freien Willen zu determinieren. Drei Punkte werden häufig genannt: Es muss Alternativen, einen Grund und einen eigenen Antrieb für eine Handlung geben. „Nach dem derzeitigen Stand der Neurobiologie kann von einer völligen Freiheit nicht die Rede sein. Viele erbliche Faktoren und Umwelteinflüsse haben durch ihr Einwirken auf die Gehirnbildung in der Frühphase unserer Entwicklung die Struktur und die Funktion unseres Gehirns für den Rest unseres Lebens geprägt. Unser Verhalten ist von Geburt an schon zu einem wesentlichen Teil festgelegt.“7
Gefühle liegen in drei verschiedenen Arten vor: Als körperliche Bedürfnisse wie Durst, Hunger, Müdigkeit, Geschlechtstrieb und dem Wunsch nach sozialem Kontakt. Zudem als Affekte wie Zorn, Aggressivität, Wut und Hass. Und schließlich in der Form von Emotionen oder Gefühlen im engeren Sinn: Freude, Glück, Hoffnung, Enttäuschung, Furcht, Angst. „Körperliche Bedürfnisse und Affekte werden vom Hypothalamus erzeugt und reguliert, während für die Emotionen und die emotionale Konditionierung der Mandelkern, die Amygdala, zuständig ist.“8
„Auch auf unsere moralischen Entscheidungen haben wir wenig Einfluss. Wir billigen oder missbilligen Dinge, nicht weil wir intensiv darüber nachgedacht haben, sondern weil wir nicht anders können. Die Ethik ist eine Ausgeburt unserer uralten sozialen Instinkte, die, wie schon Darwin sagte, auf ein Handeln ausgerichtet sind, das der Gruppe nicht schadet.“9
Wir führen einen großen Teil der Zeit ein Leben auf Autopilot, in der wir „aus dem Bauch heraus“ entscheiden. Wenn hinter dem Busch ein Säbelzahntiger lauerte, hieß es erst handeln, und dann denken. Wer sich mit der Keule in der Hand dem Tiger stellte, hatte zumindest eine winzige Chance, den Jäger so zu überraschen, dass dieser von seiner zweibeinigen Beute abließ. Wer davon rannte, hatte zumindest die Hoffnung, dass er schneller rannte als einer seiner Gruppenmitglieder. Nur wer stehen blieb und überlegte, was er machen sollte, endete als Katzenfutter. An diesem Grundkonzept hat sich nicht viel geändert. Nur dass keine Säbelzahntiger hinter irgendwelchen Büschen lauern und dieses Verhalten in der modernen Zeit kontraproduktiv ist.
„Der Wissenschaftsjournalist Malcolm Gladwell schildert in seinem Buch Blink. Die Macht des Moments eindrucksvoll, welche wichtigen und komplexen Entscheidungen unser unbewusstes Gehirn innerhalb weniger Sekunden trifft. Und doch geschieht das erst, nachdem unser unbewusster Computer eine gigantische Anzahl von Analysen erstellt hat.“10
Das logische Denken und intuitives Entscheiden finden in verschiedenen Bereichen des Gehirns statt. „Nur bei intuitiven Entscheidungen werden der insulare Cortex und der vordere cinguläre Cortex aktiviert. Unser Gehirn muss zu einem wesentlichen Teil automatisch und unbewusst funktionieren, denn wir werden mit einer Unmenge von Informationen bombardiert. Mit Hilfe selektiver Wahrnehmung greifen wir unbewusst heraus, was für uns wichtig ist.“11 Täten wir das nicht, müssten wir riesige Köpfe mit riesigen Gehirnen auf unseren Schultern sitzen haben, die unser Körper nicht tragen könnte. Oder die Entscheidungen würden zu lange dauern.
Bei unbewussten Entscheidungen spielen sowohl kulturelle und gesellschaftliche Faktoren eine große Rolle als auch Emotionen, an denen „das vegetative Nervensystem umfassend beteiligt ist. Bei moralischen Urteilen spielen Emotionen sogar eine ausschlaggebende Rolle. […] All diese Entscheidungen unbewusst zu treffen hat natürlich auch seine Nachteile. Denn oft gewinnen unsere unbewussten rassistischen und sexistischen Einstellungen, zum Beispiel in Bewerbungsgesprächen an Relevanz.“12
Aufgrund der ständigen unbewussten Entscheidungen unseres überlasteten Gehirns spricht der in Harvard arbeitende amerikanische Psychologe Dan Wegner nicht von einem „freien Willen“, sondern von einem „unbewussten Willen“. „Der unbewusste Wille trifft anhand der Dinge, die sich in der Umgebung abspielen, rasend schnell Entscheidungen, für die Art und Weise unserer Hirnentwicklung und das bisher Erlernte ausschlaggebend sind. Da wir in einem komplizierten, sich stets wandelnden Umfeld leben, kann nicht davon die Rede sein, dass unser Leben auf vorhersehbare Weise determiniert ist, ebenso wenig ist aufgrund der Art und Weise, in der sich unser Gehirn entwickelt hat, ein völlig freier Wille möglich.“13
Neurowissenschaftler weisen immer wieder darauf hin, dass sie bei der Erforschung des Zusammenspiels von Verstand, Vernunft und Gefühlen erst noch am Start einer langen Forschungsreise stehen. „Benjamin Libet wies in seinem berühmten Experiment nach, dass das Bewusstsein bei sensorischen Reizen, die nahe am Schwellenwert liegen, und bei Handlungen, die von der Hirnrinde initiiert werden, etwa eine halbe Sekunde hinterherhinkt. Seine Schlussfolgerung, dass der ‚bewussten‘ Erfahrung eine unbewusste Hirnaktivität (Bereitschaftspotential) von etwa einer halben Sekunde vorangehe, die die Handlung in Gang setze, hat erhebliche Zweifel an der Möglichkeit gesät, aus freiem Willen zu handeln.“14 Allerdings werden Libets Beobachtungen zurzeit noch heftig diskutiert.
Für die Psychologin Susan Blackmore ist das Bewusstsein eine Geschichte, die im Nachhinein erzählt wird. Es ist noch nicht geklärt, ob man ein Veto gegen eine beabsichtigte Handlung einlegen kann. „Doch selbst wenn das Bewusstsein der Realität ein wenig hinterherhinkt, ist es nach wie vor nützlich. Denn wenn wir uns der Schmerz einer Wunde oder einer Entzündung nicht bewusst würde, wäre unsere Chance, darauf zu reagieren, und damit unsere Überlebenschance gering. Darüber hinaus werden wir eine solche Situation das nächste Mal tunlichst vermeiden. Die Tatsache, dass sich wesentliche Bereiche unseres Handelns unbewusst vollziehen, schließt nicht die Möglichkeit aus, unsere Aufmerksamkeit auf etwas zu konzentrieren, und damit bewusst zu handeln.“15
Dennoch sollte niemals die Macht der „rudimentären Entscheidungsstrukturen“ im menschlichen Gehirn unterschätzt werden. „Menschen können, haben Neurowissenschaftler herausgefunden, nachdenken und grübeln, so viel sie wollen, wenn die diversen sich ihnen bietenden Optionen nicht auch emotional gewichtet werden, können sie niemals zu einer Entscheidung oder Überzeugung kommen … Das ist bei der moralischen Willensbildung entscheidend, denn wenn überhaupt etwas, dann hat moralisches Verhalten etwas mit festen Überzeugungen zu tun. Zu solchen Überzeugungen kommt man nicht – oder besser: kann man nicht kommen – durch kühle Rationalität; sie erfordern die Sorge um andere und mächtige ‚Bauchgefühle‘, was richtig und falsch ist.“16
Im Rahmen des „Kampfes“ zwischen den verschiedenen Entscheidungssystemen des Gehirns kann es zu einer kognitiven Dissonanz kommen. Diese entsteht, wenn ein Spannungszustand zwischen freiwillig getroffener Entscheidung und vorhandenen Überzeugungen besteht. Um diesen als negativ empfundenen Gefühlszustand zu beenden, wird versucht, eine Begründung für das Verhalten zu finden. Gelingt dies nicht, wird die Wahrnehmung im Nachhinein an die getroffene Entscheidung angepasst, etwa durch Herunterspielen. Hintergrund dieses nachträglichen Rechtfertigens: Die betroffene Person möchte den Schein von der bewussten Kontrolle über das eigene Tun weiterhin aufrechterhalten. Desmond Morris, britischer Zoologe und Verhaltensforscher, beschrieb uns in seinem Werk Der nackte Affe so: „Dieser ebenso ungewöhnliche wie äußerst erfolgreiche Affe verbringt einen Großteil seiner Zeit damit, sich über seine hohen Zielsetzungen den Kopf zu zerbrechen, und eine gleiche Menge Zeit damit, dass er geflissentlich über seine elementaren Antriebe hinwegsieht.“17
Zu bestaunen ist eine Abweichung von dieser Kontrolle immer wieder bei dem Thema, ohne das die Hälfte der Lieder ungeschrieben geblieben wäre: die Liebe. Man kann es volkstümlich zusammenfassen: „Die Liebe ist ein Wort mit fünf Buchstaben, drei Vokalen und zwei Idioten.“ Oder wissenschaftlich wie Ambrose Bierce: „Liebe ist eine vorübergehende Geisteskrankheit, die durch Heirat heilbar ist.“
„Niemand der sich an das leidenschaftliche, blitzartige Erlebnis intensiver Verliebtheit erinnern kann, wird die Wahl seines Partners als ‚einen freien und wohldurchdachten Entschluss‘ charakterisieren können.“18 Der Gefühlszustand der Liebe ist ein Sinnbild für die teilweise „Unzurechnungsfähigkeit“, die unser Gehirn in bestimmten Situationen befällt. Denn die Hirnrinde, Sitz von Gedächtnis und Bewusstsein, spielt bei der Wahl unseres Partners nur eine geringe Rolle. Die tief in uns liegenden Strukturen übernehmen das Kommando. Erst nachdem die heftige Verliebtheit abgeflaut ist, übernimmt die Hirnrinde wieder das Zepter.
Nach der leidenschaftlichen Anfangsphase kommen emotionale Intimität und Vertrautheit hinzu – das Stadium der romantischen Liebe ist erreicht. Folgt auch noch eine kognitive Bindung, ist der Zustand der vollendeten Liebe erreicht. Eine präzise Definition für Liebe können Wissenschaftler immer noch nicht abgeben. Sie wissen jedoch, dass das Hormon Oxytocin eine wichtige Rolle spielt, sorgt es doch nach Ansicht der Forscher für Intimität und Bindung der Paare.
Oben und unten
Im menschlichen Zusammenleben spielt die Rangordnung eine große Rolle. Überall im Tierreich findet man diese wieder. Es scheint sich dabei um eine effektive Art der natürlichen Auslese zu handeln. Auch der Mensch neigt dazu, seinen Status in der Gruppe abzustecken. Besonders offensichtlich wird dies im Berufsleben. Verbunden mit einem hohen Status oder Rang ist die sich daraus ergebende Macht. Im Tierreich werden die Männchen an der Spitze mit Frauen belohnt, während sich die ranghohen Weibchen mehr und besseres Futter sichern, was für das Überleben des eigenen Nachwuchses aufgrund des erhöhten Kalorienbedarfs während Schwangerschaft und Stillzeit hilfreich ist. Im Menschenreich stellt sich die Sachlage ähnlich dar. So haben mächtige Männchen Zugriff auf viele Weibchen. Dafür haben Anthropologen zahlreiche Beweise vorgelegt, darunter auch diesen: 16 Millionen Männer in Asien stammen von einem männlichen Vorfahren ab, der vor rund 1000 Jahren lebte. Die Experten tippen dabei auf Dschingis Khan.
Bei Frauen stellt sich der Drang nach Macht nicht so direkt dar, was auch den geringeren Anteil an Frauen in Spitzenpositionen erklären mag.19 Von den 1226 Milliardären, die 2012 weltweit von Forbes gezählt wurden, waren nur 8,5 Prozent weiblich. Beim schwachen Geschlecht steht hingegen oftmals die Wahl des richtigen Partners im Vordergrund, jahrzehntelanger Emanzipation zum Trotz. Und mit richtig sind nicht körperliche Vorzüge, gutes Aussehen, ein liebenswerter Charakter oder Humor gemeint. Man muss sich nur einmal in einschlägigen Anzeigenblättern oder Internetforen die Menge an Millionärs-Anglerinnen ansehen. Salopp ausgedrückt lässt sich diese Erkenntnis dahingehend weiterspinnen, dass die wahre Belohnung für die beruflichen Anstrengungen eines Mannes nicht auf seinem Konto liegt, sondern in seinem Bett – oder manchmal auch auf seinem Schreibtisch.
Schon Friedrich Nietzsche attestierte dem Menschen einen „Willen zur Macht“. In der Psychologie und Politik hingegen wird dieser Umstand jedoch nur selten thematisiert. So stellen sich Politiker gerne als Diener des Volkes dar. Dass ihr Antrieb in den meisten Fällen eben besagter Wille zur Macht ist, lassen sie außen vor. Wie tief im menschlichen Wesen die Rangordnung verankert ist, mag die Forschungsarbeit von Stanford Gregory, Soziologieprofessor an der Kent State University in Ohio, verdeutlichen. Seit den frühen 1980er Jahren erforscht Gregory die Rolle der Stimme in der Kommunikation. Er ging davon aus, dass das Frequenzband unterhalb von 500 Hertz Informationen über den sozialen Status von Gesprächspartnern transportiert. „Am Beispiel von 25 Gästen der US-Talkshow ‚Larry King Live‘ hatte der Soziologe schon Mitte der 1990er Jahre nachgewiesen, dass sich rangniedere Personen in ihrer Stimmführung an ranghöhere anpassen. Sie verändern ihre Intonation – also den Tonhöhenverlauf – derart, dass sie sich dem des Statushöheren angleicht. […]
Gregory und sein Kollege Stephen Webster überprüften die Rolle der Stimmgewalt 2002 am Beispiel von 19 TV-Duellen der Präsidentschaftskandidaten. Es stellte sich heraus: Derjenige, der seine Stimme weniger an seinen Widerpart anglich, gewann schließlich auch die meisten Wählerstimmen.“20
Der bedeutende Zoologe und Verhaltensforscher Frans de Waal ist überzeugt davon, dass der Homo sapiens Grundzüge sowohl von Schimpansen als auch von Bonobos in sich trägt. Der Mensch stellt gewissermaßen ein verhaltensmäßiges Zwitterwesen dar. Während der eine ein „bärbeißiger, in Aggressionsbewältigungsangelegenheit ambitionierter Geselle ist, … ist der andere ein egalitärer Anhänger eines lockeren Lebenswandels.“21 Bei Bonobos ist es durchaus üblich, dass aus einem Streit heraus direkt in den Sexmodus gewechselt wird. Im Gegensatz dazu tragen Schimpansen ihre Streitereien sprichwörtlich gerne mit den Fäusten aus. Aber bei beiden Arten geht es im Endeffekt immer um das eine: Frauen. „Der grundlegende Unterschied zwischen unseren beiden engsten Verwandten besteht darin, dass der eine sexuelle Konflikte mit Macht löst und der andere Machtkonflikte mit Sex“22, fasst de Waal diesen Sachverhalt treffend zusammen.
Noch immer streiten die Forscher, ob unsere menschliche Anständigkeit nichts weiter ist als eine dünne Lackschicht über unserem tierischen Kern, oder ob wir doch auch in diesem Kern soziale Instinkte mit unseren tierischen Vorfahren gemein haben. So wie sich unter „der Haut von Walen … winzige Überbleibsel von Bein- und unter der von Schlangen Reste von Beckenknochen [finden].“23
Biologisch gesehen sind wir auf alle Fälle nach wie vor ein Tier – mit „Narben der Evolution“. So werden körperliche Probleme bezeichnet, die daraus entstehen, dass der Bauplan eines Lebewesens gegenüber seinen evolutionären Vorfahren nur geringfügig verändert wurde. Körperteile komplett neu zu entwickeln ist nicht möglich – jedenfalls nicht innerhalb einer aus evolutionstechnischer Sicht kurzen Zeitspanne. So plagen wir uns etwa mit Füßen, die wie bei einem Notbehelf mit Bändern zusammengehalten werden, einer für den aufrechten Gang zurechtgebogenen Wirbelsäule und Weisheitszähnen, die nicht mehr in unsere verkleinerten Kiefer passen. Unser Gehirn trägt ebenfalls solche „Narben der Evolution“ in sich. Es gilt als gesichert, dass evolutionsgeschichtlich „die emotionale Steuerung des Verhaltens der bewusst strategischen Planung vorausging.“24
Dass sich der Mensch nicht so weit von anderen Tieren abhebt wird auch im Vergleich zu Menschenaffen deutlich. „Relativ einfache und uralte Emotionen [bringen] scheinbar raffinierte Verhaltensweisen bei Schimpansen [hervor].“25
Was sind wir mehr: aggressiver Schimpanse oder erotischer Bonobo? Fest steht auf alle Fälle, dass nicht nur Menschen und Schimpansen Vertreter der eigenen Spezies töten. Auch bei anderen Tieren wie Löwen oder Hyänen wurde ein solches Verhalten beobachtet, ganz zu schweigen von Ameisen, wo regelrechte Kriege an der Tagesordnung sind. Aber was der Mensch perfektioniert hat, ist die Organisation bei diesen tödlichen Auseinandersetzungen.
Noch stärker unterscheidet den Menschen von anderen Tieren vermutlich die Empathie. Die Wissenschaft geht davon aus, dass sich diese aus der elterlichen Sorge um den Nachwuchs entwickelte und „evolutionäre Kontinuität mit anderen Säugetieren“26 aufweist. Empathie kann als „innere Nachahmung“ der Gefühle anderer bezeichnet werden. „Dementsprechend wäre sie ein unfreiwilliger Routineprozess. […] Berichte, die Empathie als einen höheren kognitiven Prozess darstellen, vernachlässigen diese instinktiven Reaktionen, die viel zu rasch erfolgen, als dass sie bewusst gesteuert sein könnten.“27
Sogenannte Spiegelneuronen sind dafür verantwortlich, dass wir „mitfühlen“, wenn wir jemanden sehen, der sich zum Beispiel am Ellbogen anschlägt. Spezielle Nervenzellen weisen hierbei die gleichen Aktivitätsmuster auf, als stießen wir uns selbst mit dem Ellbogen an einer Kante. Wir empfinden den Schmerz ebenfalls.
Mit geballter Faust
Aber genauso mitfühlend der Mensch sein kann, genauso grausam kann er werden. Man vergegenwärtige sich, welche Gräueltaten in Kriegen verübt werden. Mit diesem dem Menschen unwürdigen Geschehen, dass emphatischem Verhalten diametral gegenübersteht, werde ich mich im siebten Kapitel näher auseinandersetzen. An dieser Stelle möchte ich mich mehr auf die allgemeine menschliche Aggressivität konzentrieren, die fortlaufend zu Tage tritt.
So weist die Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2012 520.000 Fälle von Körperverletzung auf. Und dabei werden nur die körperlichen Auseinandersetzungen erfasst, in denen die Polizei eingeschaltet wurde. Die Dunkelziffer in diesem Bereich dürfte enorm hoch sein.28 Besonders bei Gewalt im häuslichen Bereich werden viele Übergriffe aus unterschiedlichen Gründen nicht zur Anzeige gebracht.
Generell gilt: In einer lebenswerteren Zukunft muss Gewalt grundlegend geächtet sein. Entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung dieses Vorhaben wäre, „dass die Aggression vom Verstand im Zaum gehalten wird. […] Betrüblicherweise sprechen unsere höheren Hirnzentren dann, wenn es um Dinge wie Revierverteidigung geht, allzu leicht auf das Drängen der tieferen Zentren an.“29
Als Ausrede sollte man in diesem Zusammenhang auch nicht gelten lassen, dass „der Mensch eine aggressive Tierart ist“30, wie der Neurobiologe Swaab feststellte. Ebenso wie der Schimpanse, mit dem wir unsere Vorfahren teilen. Bei diesen Menschenaffen gebe es „zwei Kategorien von Aggressionen: die eine innerhalb der eigenen Gruppe zurückhaltend und ritualisiert, die andere zwischen den Gruppen enthemmt, grundlos und tödlich“.31 Hintergrund dieser tödlichen Feindschaft sind wohl gemeinsame Interessen, die denen der gegnerischen Gruppe entgegenstehen. Reste dieses Verhaltens finden sich in der weitverbreiteten Xenophobie in der heutigen Zeit wieder. Darauf werde ich im dritten Kapitel näher eingehen.
Verpflichtungen gegenüber uns nahestehende Menschen schränken die moralische Einbeziehung Außenstehender ein.32 Aber nicht nur gegenüber fremden Gruppen kam und kommt es zu Aggressivität. Männer sind aggressiver als Frauen, was auf den höheren Testosteronspiegel zurückzuführen ist. Der Zusammenhang zwischen schlechten sozialen Verhältnissen und fehlender Bildung sowie daraus folgendem aggressivem und strafbarem Handeln ist bekannt. Dies zeigt sich bei Untersuchungen auch an der Verbreitung kriminellen Verhaltens nach Schulart: „8,1 Prozent der Hauptschüler [wurden] als Intensivtäter eingruppiert, aber nur 4,6 Prozent der Realschüler und 1,5 Prozent der Gymnasiasten.“33
Neben der Kriminalität Einzelner bedroht noch eine andere Art Gesetzesverstöße unser friedvolles Zusammenleben. 2012 schätzte die UNO den Jahresumsatz des organisierten Verbrechens auf 2,1 Billionen US-Dollar, vergleichbar mit dem Bruttoinlandsprodukt von Großbritannien. Die Einnahmen aus Drogen- und Menschenhandel, Schutzgelderpressungen und anderen kriminellen Aktivitäten entsprechen 3,6 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Und die Übergänge zwischen den Reichen und den Vertretern der organisierten Kriminalität sind, besonders in Schwellenländern, oftmals fließend.
Aggressivität äußert sich auch in dem Drang, sich selbst zu verteidigen. Schätzungen gehen davon aus, dass ein Drittel bis die Hälfte der US-Haushalte über eine Schusswaffe verfügt. Dies führt dazu, dass Kinder im Alter von 5 bis 14 Jahren im Vergleich zum Durchschnittswert von 25 anderen Ländern 13-mal so häufig ermordet werden, sich 8-mal so oft selbst mit einer Waffe töten und 10-mal so viele Kinder nach einem Waffenunfall sterben.
Kontrolle ist gut
„Die Wirkung der sozialen Instinkte auf die Psyche ist beharrlich und mild, während die der Begierden vorübergehend und heftig ist. Soziale Tiere sind daher häufig der Verlockung ausgesetzt, ihre sozialen Instinkte zugunsten ihrer Begierden zu verletzen, etwa, wenn ein Tier seinen Nachwuchs vernachlässigt, während es sich paart. Aber es ist eine vertraute Erfahrung, dass die Befriedigung der Begierde wichtiger erscheint, wenn man tatsächlich in ihrem Bann steht, als nach ihrer Befriedigung. Sobald also die mentalen Fähigkeiten eines sozialen Tieres sich bis zu dem Punkt entwickelt haben, an dem es sich erinnern kann, dass es solchen Versuchungen nachgibt, werden ihm diese als nicht lohnenswert vorkommen, und es wird lernen, solche Impulse zu beherrschen. Unsere Fähigkeit, von dem gebieterischen Wörtchen ‚sollen‘ motiviert zu werden, vermutet Darwin, hat seinen Ursprung in dieser Art von Erfahrung.“34
Die soziale Interaktion ist der Grundpfeiler für den Fortbestand und die Weiterentwicklung der Gruppe. Wie Darwin nachweisen konnte, setzt sich in der Natur derjenige durch, der überlebt und sich fortpflanzt. Wie diese natürliche Auslese erfolgt, ist dabei nebensächlich. Hier ist der Weg einmal nicht das Ziel. Ob durch Aggression oder Kooperation macht keinen Unterschied, solange am Ende das Überleben der eigenen Art steht.
Menschen wollen Teil einer Gruppe sein, weil sie sich darin sicherer fühlen. Diese Funktion übernehmen in unseren Tagen vor allem das gemeinsame Heimatland, die gemeinsame Religion und das gemeinsame Volk.
Allerdings ist auch „der Drang des Menschen, sich von anderen abzuheben, … in unzähligen Studien dokumentiert. Demnach ändern Menschen ihre Aussagen, wenn ihnen fälschlicherweise gesagt wird, dass diese dem Durchschnitt entsprechen. Und wenn Probanden das Gefühl vermittelt wird, sie gehörten zum Mittelmaß, dann verkünden sie den Wunsch nach außergewöhnlichen Aktivitäten. Schließlich, so haben andere Studien gezeigt, halten sich die meisten Menschen für besonders tolerant, altruistisch und beziehungsfähig. Und besser Auto fahren als die anderen Idioten auf der Straße kann ohnehin fast jeder.“35
Bei aller Betonung der Individualität darf niemals die Bedeutung der Gruppe vergessen werden. Der Mensch kann auch in dieser Hinsicht als gespaltene Persönlichkeit betrachtet werden. Er möchte Gruppenmitglied sein, und sich dennoch von den anderen Mitgliedern abgrenzen.
„Ein Wolf, der seinen kleinen, individuellen Interessen Vorrang gibt, kann bald allein Mäuse fangen.“36 Dies gilt auch für den Menschen. „Individualisten und Eigenbrötler hatten keine Überlebenschance; aus dem Grund ist in unserem Erbgut das Abweichen von der Mehrheitsmeinung überhaupt nicht vorgesehen.“37 Die meisten Menschen scheuen es, sich gegen den Standard zu wenden. Man könnte despektierlich sogar von einem Herdentrieb sprechen, wenn Menschen zum Beispiel eine Organspende ablehnen, wenn man sich aktiv dafür entscheiden muss, dieser jedoch nicht widersprechen, wenn der gesetzliche Rahmen als Standard die Organentnahme vorsieht.
Dass diese Konformität auch bereits bei Tieraffen besteht, konnte durch einen Versuch der Primatologen Erica van de Waal und Andrew Whiten von der University of St. Andrews und Christèle Borgeaud von der Université Neuchâtel nachgewiesen werden. Sie fütterten zwei Gruppen Grüne Meerkatzen mit zwei Sorten unterschiedlich gefärbtem Popcorn. Eine Sorte war jedoch zuvor mit einem Bitterstoff ungenießbar gemacht worden – in jeder Gruppe eine andere. Nachdem zehn Männchen in eine andere Tiergruppe versetzt worden waren, übernahmen neun von ihnen die Vorliebe der neuen Gruppe, obwohl nun wieder beide Sorten Popcorn genießbar waren. Nur ein Alpha-Männchen ignorierte die Vorgabe und griff weiter zu dem für ihn vertrauten Futter.
Im Zusammenleben mit anderen Gruppenangehörigen gilt es, diesen zu helfen, um die Überlebenschancen zu steigern. Diese Hilfe beinhaltet stets einen Schuss Eigennutz. Nach dem Motto: Helf ich dir, hilfst du mir. Dies geht sogar so weit, dass man nicht explizit eine Gegenhilfe von der Person erwartet, der man geholfen hat. Dieses „Recht“ liegt mehr als ein Anspruch gegenüber der gesamten Gruppe vor. Wenn jeder jedem hilft, ist damit auch allen geholfen.
Ein gravierendes Problem aus diesem Pfeiler unseres Verhaltens ergibt sich jedoch, wenn sich Teile der Gruppe nicht an dieses ungeschriebene „Gesetz“ halten. Und nachdem unsere Gruppe im Laufe der Zeit immer größer wurde und im Endeffekt jetzt mindestens die Bevölkerung Deutschlands umfasst, durch die Globalisierung vermutlich sogar die ganze Weltbevölkerung, muss man entsprechend auch darauf achten, wer aus dieser gigantischen Gruppe dieses soziale „quid pro quo“ bricht. Auf genügend Beispiele werde ich im Laufe des Buches noch eingehen.
Wie umfangreich sich die Bandbreite menschlichen Verhaltens darstellt, fasst de Waal so zusammen: „Dass wir einzig und allein egoistisch und gemein sind und unsere Moral eine Illusion ist, bedarf der Revision. Wenn wir im wesentlichen Menschenaffen sind, … dann werden wir mit einem ganzen Spektrum von Neigungen – von den niedersten bis zu den nobelsten – geboren. Unsere Moral … ist ein Produkt desselben Ausleseprozesses, der auch unsere Aggressivität und unser Konkurrenzverhalten formte. […] … dann erkennen wir eines der am meisten mit inneren Konflikten geplagten Tiere auf der Welt. Es ist in unglaublichem Maße zur Vernichtung sowohl seiner Umwelt als auch seinesgleichen fähig, und zugleich verfügt es über Quellen der Empathie und der Liebe, die tiefer reichen als alles zuvor gekannte. Da dieses Tier die Herrschaft über alle anderen erlangt hat, ist es umso wichtiger, dass es ehrlich in den Spiegel blickt, damit es sowohl den Erzfeind erkennt, der ihn da anblickt, als auch den Alliierten, der bereit ist, ihm beim Bau einer besseren Welt zu helfen.“38
Um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe zu stärken, werden jedoch oftmals Mitglieder stigmatisiert. Für die Gruppe ergibt sich ein Machtgefühl, wenn Schwächere verachtet werden. Auch in unseren Tagen ist dies noch häufig zu beobachten, etwa bei HIV-Infizierten oder Menschen mit psychischen Krankheiten. Hieran zeigt sich einmal mehr, wie gespalten sich das menschliche Verhalten offenbart.
Ein wichtiger Schritt auf der Entwicklungsleiter des Menschen war die stärkere Zusammenarbeit mit anderen Gruppen. Zwar kam es auch immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen und Überfällen, aber der friedliche Austausch mit „fremden Kulturen“ fand bereits sehr früh statt. Daraus folgt: „Wir müssen die emotionalen Reaktionen, die durch Millionen von Jahren des Lebens in kleinen Stammesgruppen in unsere biologische Natur eingeprägt sind, nicht als unumstößlich hinnehmen. Wir sind fähig zum Vernunftgebrauch und können Entscheidungen treffen, und wir können diese emotionalen Reaktionen ablehnen. […] Wir allein – einzig und allein auf der Erde – können uns gegen die Tyrannei der egoistischen Replikatoren auflehnen.“39
Indem man die Mitglieder einer anderen Gruppe nicht mehr nur als Bedrohung ansah, wurde das Tor aufgestoßen zu gewinnbringender Kooperation. „Friedenschließen ist eine erworbene soziale Fähigkeit und kein Instinkt. Es ist Teil der sozialen Kultur. Jede Gruppe stellt ihr eigenes Gleichgewicht zwischen Konkurrenz und Kooperation her. Das gilt [auch] für Menschen.“40
Globales Affentheater
In diesem Kapitel habe ich einen sehr weiten Bogen gespannt von der Sexualität des Menschen über die Funktionsweise seines Gehirns bis hin zu hierarchischen Ordnungen. Mir war dabei besonders wichtig zu zeigen, dass der Mensch mehr Tier ist als er weiß oder eingestehen möchte. Nur mit diesem Verständnis ist es in meinen Augen möglich, das Dilemma zu erkennen, in dem sich die menschliche Spezies zu Beginn des 21. Jahrhunderts befindet. Von mächtigen Interessengruppen wird eine Scheinwirklichkeit aufgebaut, die der Bevölkerung vorgaukelt, dass zumindest in den Industriestaaten gerechte Zustände herrschen. Sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch in rechtlicher und sozialer. Die meisten Menschen sind dafür sogar dankbar und hinterfragen diese „künstliche Realität“ nicht. Wie Marionetten lassen sie sich von einzelnen Vertretern der Menschheit an unsichtbaren Fäden über eine Bühne führen. Und diese Bühne befindet sich im Affentheater Erde. Die Gründe dafür, dass so viele Bürger dies nicht zu erkennen vermögen, liegen vor allem im animalischen Kern des Menschen.
1 Waal, Frans de: Der Affe in uns, S. 125
2 Waal, Frans de: Primaten und Philosophen, S. 181
3 http://researchnews.osu.edu/archive/sexsurv.htm (Abgerufen am 9.8.13)
4 http://www.shortnews.de/id/663391/studie-frauen-schauen-beim-mann-als-erstes-auf-den-penis (Abgerufen am 9.8.13)
5 Waal, Frans de: Der Affe in uns, S. 303
6 Siehe http://www.zfu.ch/service/fartikel/fartikel_03_jub.htm. (Abgerufen am 24.6.2013).
7 Swaab, Dick: Wir sind unser Gehirn, S. 402ff.
8 Siehe http://www.zfu.ch/service/fartikel/fartikel_03_jub.htm. (Abgerufen am 24.6.2013).
9 Swaab, Dick: Wir sind unser Gehirn, S. 402ff.
10 Swaab, Dick: Wir sind unser Gehirn, S. 405
11 Swaab, Dick: Wir sind unser Gehirn, S. 405
12 Swaab, Dick: Wir sind unser Gehirn, S. 406f.
13 Swaab, Dick: Wir sind unser Gehirn, S. 408
14 Swaab, Dick: Wir sind unser Gehirn, S. 408f.
15 Swaab, Dick: Wir sind unser Gehirn, S. 409f.
16 Waal, Frans de: Primaten und Philosophen, S. 37
17 Morris, Desmond: Der nackte Affe, S. 7
18 Swaab, Dick: Wir sind unser Gehirn, S. 402
19 Eine Diskussion darüber, inwieweit die Benachteiligung durch Männer hier eine Rolle spielt, würde an dieser Stelle zu weit führen.
20 Geist und Gehirn 11/2012, S. 16ff.
21 Waal, Frans de: Der Affe in uns, S. 12
22 Waal, Frans de: Der Affe in uns, S. 31
23 Waal, Frans de: Primaten und Philosophen, S. 40
24 Waal, Frans de: Primaten und Philosophen, S. 108
25 Waal, Frans de: Primaten und Philosophen, S. 114
26 Waal, Frans de: Primaten und Philosophen, S. 43
27 Waal, Frans de: Primaten und Philosophen, S. 57
28 http://www.polizei-beratung.de/opferinformationen/koerperverletzung.html (Abgerufen am 9.8.13)
29 Morris, Desmond: Der nackte Affe, S. 165
30 Swaab, Dick: Wir sind unser Gehirn, S. 223f.
31 Waal, Frans de: Der Affe in uns, S. 188f.
32 Waal, Frans de: Primaten und Philosophen, S. 183
33 Hormel, Ulrike; Scherr, Albert: Diskriminierung, S. 229
34 Waal, Frans de: Primaten und Philosophen, S. 133f.
35 Süddeutsche Zeitung, 7. November 2012, S. 16
36 Waal, Frans de: Der Affe in uns, S. 296
37 Krämer, Walter: Die Angst der Woche, S. 74
38 Waal, Frans de: Der Affe in uns, S. 322ff
39 Waal, Frans de: Primaten und Philosophen, S. 168f.
40 Waal, Frans de: Der Affe in uns, S. 205