Читать книгу Beatrice - Rückkehr ins Buchland - Markus Walther - Страница 8

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Wenn sie nicht gestorben sind

Auf dem Brett vor dem Schaufenster des Antiquariats saß Ingo. Die Beine weit ausgestreckt und mit dem Kinn auf der Brust vermittelte er den Eindruck eines Passanten, der ein Päuschen für ein Nickerchen eingelegt hatte.

Bea kannte diese Pose besser. Ihr Mann dachte nach.

Und außerdem war er sauer. Stinksauer.

„Hi“, sagte Bea leise, als sie zu ihm herantrat.

Ingo blieb regungslos. „Kannst du mir bitte verraten, wo du gewesen bist? Ein Zettel in der Ladentür ist ja wohl nicht die richtige Methode, um mal eben früher Feierabend zu machen. Ich wollte dich eigentlich abholen, damit wir zeitig loslegen können. Ich habe hier zwei Stunden auf dich gewartet.“

„Loslegen?“ Bea war mit den Gedanken noch halb in Quirinus’ Laden. Zwei Stunden hatte dies doch gar nicht gedauert … Ihr Puls raste zwar nicht mehr so, aber dafür hatte sich ein unangenehmer Kopfschmerz hinter den Schläfen breitgemacht.

„Wir wollten in den Keller“, erinnerte Ingo sie genervt.

„Du wolltest mit mir ins Buchland?“, fragte Bea endgültig perplex. Sie fühlte sich vollkommen ausgepowert.

„Nein“, sagte Ingo gedehnt. „Ich meine den Keller unserer Wohnung. Wir wollten heute ausmisten.“ Endlich hob er den Kopf und schaute sie an. „Du bist ja total durch den Wind. Was ist passiert?“ Das klang jetzt ehrlich besorgt.

„Ich wollte nur Chaya noch schnell ein Eis spendieren und dann nach Hause bringen. Quirinus hat sie nicht abgeholt.“

„Wer ist Chaya? Und wer ist Quirinus?“ Ingo stand auf, um Bea sanft zu umarmen. „Du bist ja nassgeschwitzt!“

„Ich hatte eben so was, was man wohl einen Anfall nennt. Platzangst oder so.“

„Du zitterst.“

„Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auch …“ Ihre Beine gaben nach und wäre Ingo nicht da gewesen, um sie aufzufangen, hätte sie gleich ein zweites Mal Bekanntschaft mit dem Asphalt gemacht.

Ingo hatte Bea nach Hause gebracht und sie irgendwie die Treppe hoch geschafft. Sie lag nun auf der alten Couch im Wohnzimmer und schlürfte einen Beruhigungstee, den ihr Mann ihr gemacht hatte.

Sie fühlte sich immer noch leicht fiebrig, doch langsam aber sicher kam das Leben zurück in ihre Glieder.

„Tja“, sagte Ingo zögerlich. Er hatte sich ans Fußende gesetzt und massierte ihr die Waden. „Wie es aussieht, müssen wir unsere Aufräumaktion noch um einen Tag verschieben.“

„Prokrastinieren“, murmelte Bea.

„Pro kastrieren? Was redest du?“

Bea brachte ein dünnes Grinsen zustande. „Prokrastinieren. Das sagt man, wenn man unangenehme Dinge aufschiebt.“

„Ich sag’s ja: Du liest zu viel. Auf solche Worte kommt man nur, wenn der Sprachschatz aus der Truhe hüpft.“

„Bist du mir böse?“

„Wegen des Kastrierens?“

Bea schüttelte den Kopf. „Dummerchen. Wenn wir das Aufräumen verschieben, bist du mir dann böse?“

„Nur, wenn du mir nicht erzählst, was denn eigentlich passiert ist. Es scheint für dich ein ereignisreicher Tag gewesen zu sein.“

Der Abend kam schnell, die Nacht folgte rasch. Während die Sterne am Himmel hochkrochen, erzählte Bea Ingo alles der Reihe nach, überging aber weitestgehend ihren Ausflug in den Keller. Sie wusste, dass sie ihn damit nur verstören würde. Ingo hörte aufmerksam zu, nickte hin und wieder, blieb aber schweigsam bis zum Schluss. Schließlich endete ihre Erzählung.

„Hört sich an, als ob die Buchland-Geschichte doch noch weitergeht“, sagte Ingo. Er klang auf eine unbestimmte Art traurig. „Bist du dir sicher, dass du nicht schreibst?“

Ein Hauch von Empörung lag in Beas Stimme: „Was? Ja!“ Als ob sie ihm so was nicht erzählt hätte.

Ingo rieb sich nachdenklich den Nacken. „Ich weiß nicht. Ich kann mich an damals kaum noch erinnern. Unsere Zeit im Buchland, weißt du? Für mich verschwimmt das alles in einem Nebel. Mir kommt es manchmal vor, als wäre es nicht wirklich passiert.“

„Vielleicht ist es nicht wirklich passiert“, sagte Bea, die sich diesbezüglich selbst nie vollkommen sicher war. Das war auch der Grund, warum sie ihr eigenes Buch immer und immer wieder las. „Ich bin die Protagonistin in meiner eigenen Geschichte gewesen. Das geht doch nicht.“

„Irgendwie muss es ja passiert sein. Sonst würde uns jetzt nicht Planas Antiquariat gehören.“ Ingo zögerte. Doch da er sonst immer das Thema mied, wartete Bea ab, ob er noch mehr sagen wollte. Ein Seufzen leitete seinen nächsten Satz ein: „Das, was du geschrieben hast, wurde zur Realität. Deine Phantasie … Ähm. Nein …“ Er lächelte hilflos. Entweder konnte er es nicht in Worte fassen oder er wagte es nicht. „Bevor ich mich mit der Fortsetzung deines Romans auseinandersetze, sollte ich mich eventuell mit dem Original noch mal ins stille Kämmerlein begeben.“

„Du willst mein Buch lesen?“

„Wie sollen wir sonst vernünftig darüber reden?“

„Gar nicht. Nicht, wenn es dir um eine Fortsetzung geht. Ich werde keine Fortsetzung schreiben. Fortsetzungen sind meistens kacke. Nur weil Buchland ein Fantasyroman geworden ist, muss das Teil ja nicht gleich in Serie gehen. Nicht jeder Mist muss eine Trilogie werden.“

„Und was ist, wenn dir das Buchland gerade mitzuteilen versucht, dass du um das Schreiben der Geschichte nicht herumkommst?“

„Schon klar. Ich mache einen simplen Abklatsch vom ersten Teil. Aber halt! Geht ja nicht. Herr Plana ist ja aus dem Reigen der Figuren ausgeschieden.“

„Dafür hast du jetzt diesen Quirinus. Der könnte das Klugscheißen übernehmen.“

„Sorry, dem fehlt es eindeutig an Klasse.“

„Wenn es nicht um eine Fortsetzung geht, worum dann?“

„Es wird einfach Zufall sein. Mir ist bestimmt nur der Kreislauf abgesackt, nachdem ich im Kuriosum etwas zu viel nachgedacht habe. Neue Abenteuer brauche ich nicht. Mir reicht es, Bücher zu verkaufen.“

„Reicht das auch deinem Buchland? Und reicht es deinem Herrn Plana? Und reicht es dir wirklich? Ich nehme dir nicht ab, dass du nur Bücher verkaufen willst. Ich kenne dich dafür zu gut. Was willst du wirklich?“

Bea verstand zunächst nicht, worauf Ingo hinauswollte, doch dann fiel der Groschen. „Herr Plana hätte gewollt, dass ich seinen Platz einnehme.“

„Als Auktoral?“

„Als Auktoral.“

„Die eigentliche Frage war, was du willst.“

„Ich weiß nicht. Kennst du das Gefühl, dass man etwas mit aller Macht haben oder machen will, aber man weiß nicht, was es ist?“

Ingo blickte zum Kühlschrank, in dem früher allerhand Flaschen gestanden hatten. Er trank nicht mehr. – Nicht, weil er es nicht wollte, sondern weil er es nicht durfte. Doch das Verlangen nagte stetig an ihm. Manchmal zerfraß es ihn sogar. Er wusste also ganz genau, wonach es still in ihm schrie. Noch hatte er es im Griff, trotzdem war es da. Immer. „Ich kenne das Gefühl. So ungefähr.“

Bea bezweifelte es. Wie sollte sie das, was ihr unbewusst seit Monaten durch den Kopf ging, in Worte fassen? Sie konnte es ja nicht mal für sich selbst benennen. „Ich kann dir nicht sagen, was fehlt. Etwas fehlt. Etwas, was man vermisst, obwohl man es nicht zwingend braucht. So wie draußen am Himmel gerade der Regenbogen fehlt.“

„Es ist finsterste Nacht“, stellte Ingo irritiert fest.

„Ja.“

„Da kann gar kein Regenbogen sein.“

Bea verdrehte die Augen. Wenn sie nicht in der Horizontalen gewesen wäre, hätte sie vermutlich sogar trotzig aufgestampft. „Ich hab doch auch keine Ahnung, wie ich es anders beschreiben soll. Vergiss es! Vielleicht ist es, weil … weil … Manchmal kommt es mir halt vor, als würde die Tapete an der Wand die Buchstaben der Welt verdecken. Die Realität versteckt nur die Phantasie.“

„Und du denkst, du könntest diese Wirklichkeit mit der Schreibmaschine einfangen und verändern. Ist es nicht so? In deinem Roman hast du es damals so gemacht. Du könntest uns jetzt, wenn du dich an die Schreibmaschine setzen würdest, einen Porsche vor die Tür schreiben. Oder ein paar Millionen aufs Konto.“ Ingo schien dieser Gedanke tatsächlich zu gefallen.

Ein Hauch von Ärger streifte Beas Züge. „Ich glaube nicht, dass das so funktionieren würde. Was ich schreibe, ist kein gewollter, bewusster Vorgang. Ich konstruiere nicht … Zuerst ist die Geschichte da. Erst dann kommen die Worte, die ihr die Gestalt geben. Herr Plana würde sagen, dass man nicht schreiben soll, weil man es will. Man soll schreiben, wenn man es muss.“ Quirinus hat es auch so formuliert, durchfuhr es Bea.

„Würde Herr Plana das?“ Ingo zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Doch dann wanderte auch ein Mundwinkel in die Höhe und nahm dem Ganzen die Schärfe.

„Zieh mich jetzt bloß nicht damit auf!“, warnte Bea. Aber auch ihr ging der Ernst verloren. Mit einem Lachen sollte man solche Gespräche immer beenden. Sie taten es.

So wurde dies eine jener Nächte, in denen Bea die Realität mit ihren Träumen zudeckte und in den Schlaf schickte. Ihre Begegnung mit Morpheus und den Oneiroi blieb ihr nicht im Gedächtnis haften. Als sie jedoch am folgenden Morgen erwachte, fühlte sie sich nicht mehr so ausgelaugt und leer.

Sie lag noch immer auf dem Sofa. Ingo hatte sie gestern offenbar noch unter die alte Steppdecke gepackt und war dann selbst leise ins Schlafzimmer gegangen.

Jetzt stieg Bea der aromatische Duft eines guten Kaffees in die Nase. Auf dem Wohnzimmertisch stand ein Becher, aus dem eine dünne Dampffahne emporwehte. Auf der Tischplatte lag einer dieser kleinen gelben Klebezettel. Darauf geschrieben waren drei Buchstaben: „HDL“. Außerdem platzierte sich ein Semikolon mit einer Klammer dahinter. Viele Worte machte Ingo in den wichtigen Dingen des Lebens wirklich nicht.

Nachdem sie sich aufgerichtet hatte und während ihr Körper innerlich seine Checkliste abspulte, nippte sie an der kostbaren Ambrosia.

„Wie geht es dir?“ Ingo trat zur Wohnungstür herein. In der Hand hielt er eine Papiertüte vom Bäcker. Bea wusste nicht, wann er zum letzten Mal frische Brötchen für sie gekauft hatte.

„Besser.“

„Das ist schön. Du hast auch wieder ein bisschen Farbe im Gesicht. Trotzdem solltest du es heute langsam angehen lassen.“

„Und was ist dann mit dem Keller?“

Ingo grinste schief. „Den können wir kastrieren.“

Der Tag meinte es gut mit Bea. Das Wetter zeigte sich von seiner sommerlichen Seite und das Gemüt der Kunden im Antiquariat erwies sich ebenfalls als sonnig. Natürlich gab es auch die Speziellen, die mitunter anstrengend, meistens aber amüsant waren. Da war zum Beispiel der Herr im Nadelstreifenanzug, der unbedingt dieses eine, bestimmte Buch für sein Kind haben wollte.

„Wie heißt es denn?“, fragte Bea freundlich.

„Wozu brauchen Sie denn den Namen meiner Tochter?“

„Nein“, erklärte Bea geduldig, „den Namen Ihrer Tochter möchte ich nicht wissen. Aber wie das Buch heißt, müssen Sie mir schon verraten.“

„Pfft“, machte der Herr. „Keine Ahnung. Es ist blau.“

Solche Gespräche brachten die besondere Würze in den Arbeitstag. Und zwischendurch blieb Bea immer genug Zeit, um selbst in einem Buch zu schmökern.

Gegen Abend flatterte eine Abwechslung anderer Art mit dem Wind herein. Schmal, klein, unproportioniert erschien Chaya in der Tür. Gekleidet in eine grau gestreifte Strumpfhose, ein schwarzes Röckchen und ein ebenso schwarzes Shirt, ging sie mit geneigtem Kopf auf Bea zu. Die Haare umwehten sie dabei, gaben ihr eine finstere Aura, während ihre Augen Bea auf unheimliche Art und Weise fixierten. Es hätte Bea vermutlich nicht gewundert, wenn die Pupillen plötzlich rot aufgeblitzt hätten. Instinktiv wich sie hinter den Verkaufstresen zurück, obwohl das Mädchen ihr gerade mal bis zum Gürtel reichte. „Was zum …“

Chaya blieb vor der Kasse stehen und legte die vermeintliche Boshaftigkeit wie einen alten, schweren Mantel ab. Die Schatten aus ihren Zügen verschwanden. „Hallo Frau Liber.“

„Hallo … Chaya.“ Bea schluckte. „Kann ich was für dich tun?“

„Lesen“, antwortete Chaya. Ihre Körperhaltung änderte sich subtil. Leicht x-beinig drückte sie die Knie zusammen, ein Fuß drehte sich so weit, dass nur noch die Schuhspitze den Boden berührte. Eine Schulter hob sich um ein paar Millimeter, die andere senkte sich ebenso. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Sie können so schön vorlesen“, erklärte sie mit schüchternem Augenaufschlag.

„Ähm. Weiß denn dein Cous- dein … Quirinus, dass du hier bist?“

„Er hat mich hergeschickt.“

Na, dachte Bea, der macht es sich ja einfach. „Ich weiß nicht, ob ich Zeit dafür habe.“ Chaya deutete auf das Buch, in dem Bea gerade noch gelesen hatte und was jetzt neben der alten Anker-Kasse stand. Ertappt! „Was möchtest du denn vorgelesen bekommen?“

Das Mädchen setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Genau dort und genau so, wie die Kinder es gestern bei der Leserunde getan hatten. „Suchen Sie etwas aus.“

„Okay“, sagte Bea und ging zu den Kinderbüchern. Sie streckte wieder mal einen Arm aus, ließ wieder die Hand an den Buchrücken vorbeistreifen. Zumindest wollte sie es so tun. Doch sie griff zunächst ins Leere. Es war, als wären alle Bücher kollektiv einen Schritt zurückgetreten. Allerdings konnten Bücher eigentlich keine Schritte gehen, weder vor noch zurück. Verblüfft schaute Bea genauer hin. Vor den Büchern war ein Zentimeter mehr Platz als sonst. Sie konnte deutlich einen kleinen staubfreien Bereich vor ihnen erkennen. Nur ganz links stand noch ein mutiges Buch auf seinem angestammten Platz. Astrid Lindgren? Ja, warum nicht?

„Was hältst du von einem Ausflug mit Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf ins Taka-Tuka-Land? Wir könnten den Neg- äh- Südseekönig besuchen. Das ist ein Buch, das ein Kind in deinem Alter einfach kennen muss. Ich würde dir gerne daraus vorlesen.“

Chayas Miene blieb unverändert ruhig.

„Du musst nicht gleich eine Laola-Welle starten. Aber etwas mehr Begeisterung hätte ich schon erwartet. Soll ich was anderes vorlesen?“

Chaya drückte den Rücken durch und saß nun stocksteif und aufrecht wie eine Yoga-Schülerin. „Taka-Tuka Langstrumpf wäre toll. Ich freue mich darauf.“ Eine Tonbandansage klang enthusiastischer.

„Nicht so überschwänglich“, sagte Bea ein wenig argwöhnisch, schnappte für sich und das Kind jeweils ein Sitzkissen und hockte sich neben sie auf den Boden. Das angenehme Knistern und Rascheln erfüllte leise und doch unüberhörbar den Raum, als sie das Buch aufschlug und die ersten Seiten umblätterte. Dann begann sie gefühlvoll von der Villa Kunterbunt, der kleinen, kleinen Stadt mit ihren hübschen und gemütlichen Straßen, den niedrigen Häusern und den Gärten mit den Blumenbeeten zu erzählen.

Um sie herum setzte sanftes Wispern ein. Es war kaum hörbar, klang beschwörend und machtvoll, zugleich aber auch kindlich und aufgeregt. Die Bücher, es waren die Bücher! Sie flüsterten wieder. Ja, sie flüsterten wieder. Erst dadurch fiel Bea auf, dass sie irgendwann vorher offenbar verstummt sein mussten.

Bis Feierabend blieben sie ungestört und schafften es, drei der kurzen Kapitel zu lesen. Als Ingo eintraf, um sie abzuholen, sprang Chaya wie eine aufgezogene Feder auf. Sie lachte, hüpfte, tanzte. Nicht wie Quirinus, nein, es war die fröhliche, kindliche Art, wie man es bei Grundschülern sieht, die zuvor etwas zu lange still bleiben mussten. Chaya warf singend ihren Kopf hin und her. Das diffuse Licht der Abenddämmerung zauberte dabei einen rötlichen Schimmer in ihre fliegenden Haare. Vielleicht waren die Haare auch tatsächlich leicht rot; Bea vermochte es nicht recht zu erkennen. „Darf ich mir das Buch bis morgen ausleihen?“, fragte Chaya, nahm es Bea aber schon aus der Hand, ohne die Antwort abzuwarten.

„Klar“, sagte Bea perplex und fragte sich insgeheim, wer die Kleine ausgewechselt hatte. Wie ein Wirbelwind stürmte Chaya nach draußen, an Ingo vorbei, der ihr ebenso erstaunt wie Bea hinterherblickte.

Er steckte den Kopf zur Tür herein, ohne jedoch seinen Füßen zu gestatten, ins Antiquariat zu schreiten. „War das diese Chaya?“, fragte er.

„Ja.“

„Hast du mir nicht erzählt, dass sie sehr passiv und vielleicht ein bisschen gaga ist?“

Bea schnappte sich ihre Jacke und den Ladenschlüssel. „Von gaga war nie die Rede“, sagte sie und schloss beim Hinausgehen sorgsam die Ladentür hinter sich ab. „Sie ist etwas … merkwürdig.“

„Ja, so hast du mir sie gestern beschrieben. Merkwürdig.“ Ingo gab ihr herausfordernd einen leichten Klaps auf den Po. „Das heißt mit anderen Worten gaga.“

„Für gaga bist du der Spezialist.“

„Oh, dieses Kompliment gebe ich gerne an dich zurück. Wie war es heute auf der Arbeit?“ Ingo reichte Bea den Arm und sie hakte sich bei ihm unter.

„Nichts Besonderes“, antwortete sie, „nur dass ich eine kleine Lesesession für Chaya gemacht habe. Sie scheint die Geschichte regelrecht aufzufressen. Ich kenne nur einen, der mir so konzentriert zugehört hat.“

„Lass mich raten.“ Ingos Stimmung wurde eine Nuance schlechter. „Herr Plana?“

„Warum sagst du das so komisch?“

Ingo seufzte. „Keine Ahnung. Vielleicht, weil Plana dir immer noch auf eine Art und Weise nahe ist, die ich nicht …“

Bea wartete kurz, ob Ingo den Satz beenden würde. Er tat es nicht. Offenbar war es ihm unangenehm. „Bist du eifersüchtig auf den alten Mann?“

„Nein“, beeilte sich Ingo zu sagen, „wie könnte ich eifersüchtig auf einen Toten sein?“

„Ja“, sagte Bea nachdenklich, „das frage ich mich gerade auch.“

„Was hältst du davon“, fragte Ingo, um möglichst schnell das Thema zu wechseln, „wenn wir uns das Kuriosum mal gemeinsam anschauen? Ich bin neugierig, was das für ein Laden ist. Als ich eben daran vorbeigekommen bin, war der Laden noch offen. Diesem Quirinus möchte ich gerne mal auf den Zahn fühlen.“

Bea blickte nach vorn. Chaya war schon außer Sicht. Ob sie Quirinus mit einer Umarmung begrüßen würde, um ihm dann voller Enthusiasmus von Pippi Langstrumpfs Abenteuern zu berichten? Wie würde Quirinus darauf reagieren? Bea stellte fest, dass sie das wirklich brennend interessierte. Vor allem, weil sie sich eine entsprechende Szenerie so überhaupt nicht ausmalen konnte. „Quirinus auf den Zahn fühlen? Das ist eine gute Idee.“

„Ich habe nur gute Ideen!“ Ingo schnalzte mit der Zunge und ließ die Augenbrauen bedeutungsvoll wippen. Dann ging er im Stechschritt los und zog Bea neben sich her.

Das letzte Licht des Tages mogelte sich an den Streifen der Markise vorbei ins Schaufenster. Die Auslage hatte sich innerhalb eines Tages komplett gewandelt. Auf rotem Samt standen nun unzählige Telefone. Die meisten davon waren uralt, hatten Wählscheiben, Kurbeln oder sogar beides. Der Apparat aus dem Antiquariat hätte sich hier problemlos einreihen können. Auch ein scheinbar prähistorisches Handy, groß wie ein Koffer und mit einer langen, langen Antenne lag dort. Um dem Anblick etwas Abwechslung zu verleihen, waren im Hintergrund einige Computer, Lochstreifen-Apparaturen und Magnetband-Lesegeräte installiert. Ganz in der Mitte, auf einem mit Samt ausgelegten Podest, stand ein modernes E-Book-Lesegerät. Ein kleines Verkaufsschild wies es als iRead aus. Der angegebene Preis war exorbitant.

Vor dem Laden gab es ebenfalls eine Neuerung: Eine weiße Parkbank war vor dem Fensterbrett platziert worden. Darauf saß, in äußerst männlicher Pose, Quirinus. Mit gespreizten, weit ausgestreckten Beinen, nach links und rechts über die Rückenlehne gelegten Armen, schaute er Bea und Ingo durch eine schwarze Ray Ban Sonnenbrille entgegen. Breit grinsend rief er: „Wie herrlich, dass so kurz vor Ladenschluss noch so zwei liebreizende Kunden den Weg zu mir finden. Je später der Abend, umso schöner die Gäste! Da ist was Wahres dran. Ich sehe Ihnen an, lieber Ingo, dass Sie heute ein grandioses Geschäft bei mir tätigen werden. Treten Sie nur heran. Mein fachkundiges Personal wird Ihnen Dinge zeigen, von denen Sie gar nicht wussten, dass Sie sie brauchen.“ Auch wenn die Worte mit Quirinus’ Mund gesprochen wurden; sie klangen nicht, als wären sie seine eigenen. Aufgesetzt und gespielt kam es rüber, als ob ein Prolet die Sprache feiner Herrschaften verwenden wollte.

„Woher weiß er meinen Vornamen?“, fragte Ingo leise, doch bevor Bea auch nur mit den Schultern zucken konnte, öffnete sich die Tür und der Verkäufer eilte auf die Straße. „Ah!“, machte dieser, löste Ingo aus Beas Arm, um ihn dann eilends in den Laden zu führen. „Ich vermute, ich habe genau das Richtige für Sie.“ Das Manöver geschah so schnell, dass an Gegenwehr nicht mal im Ansatz zu denken war.

„Setzen Sie sich an meine grüne Seite, Frau Liber. Genießen wir die Sonne, solange sie für uns noch scheint.“ Quirinus reckte den Hals, damit das letzte Sonnenlicht des Tages die Gelegenheit bekam, möglichst viel von seiner Person zu erwischen. Da er nicht gewillt war, etwas zur Seite zu rutschen und auch die Arme auf der Rückenlehne beließ, platzierte sich Bea soweit es ging nach außen. Deshalb saß sie recht unbequem auf einer Pobacke und stützte sich mit einem Bein ab.

„Kommen Sie ruhig etwas näher. Ich beiße nicht“, sagte Quirinus. Widerwillig gehorchte Bea den Gesetzen der Höflichkeit. Doch da der Kuriositätenhändler immer noch keine Anstalten machte, seinen Komfortbereich zu verkleinern, hatte Bea nun seine Hand fast im eigenen Nacken, was ihr äußerst unangenehm war.

Nachdem sie ein Weilchen schweigend dagesessen hatten, nahm Quirinus endlich die Hand fort und deutete vergnügt auf die andere Seite der Straße. Dort lag eine leere, rote Getränkedose. „Gesehen?“, fragte er lakonisch.

„Ja.“

„Ein Kuriosum, so eine Dose.“ Quirinus nahm die Hand runter und legte sie auf seinen Bauch, den er beiläufig zu streicheln begann. „Es hat lange gebraucht, bis erkannt wurde, dass es nichts Dämlicheres als diese Art der Verpackung gibt. Aluminium ist ein Umweltsünder hoch drei. Der Abbau ist eine Vergewaltigung der Natur. Und obwohl man das Metall wunderbar wiederverwenden könnte, ist es viele, viele Jahre in der Müllverbrennung gelandet. Ein Kuriosum. Weißblech ist übrigens kaum besser.“

„Ich wusste gar nicht, dass es Cola in Dosen noch zu kaufen gibt“, warf Bea ein.

„Vom Markt sind sie nicht. Auch ich habe immer ein paar Paletten im Sortiment“, merkte Quirinus an. „Direkt neben den Einwegplastikflaschen.“

„Die sind doch nicht selten“, stellte Bea verblüfft fest.

Quirinus grunzte belustigt. „Aber sie sind ein Kuriosum. – Ein Kuriosum, wenn man den gleichen Maßstab wie bei der Dose ansetzt. Wussten Sie, dass die Einwegflasche die Glaspfandflasche fast vollständig aus den Läden verdrängt hat? So knapp kann das Erdöl dann wohl nicht sein. Plastik hier. Plastik da.“

Ein Teenager näherte sich der Dose. „Jetzt kommt der spaßige Teil des Tages“, kommentierte Quirinus. Er beugte sich interessiert vor. „Eine Dose auf dem Bürgersteig plus ein Halbstarker auf dem Weg nach Hause. Was glauben Sie, Frau Liber, wird passieren?“

Bea verstand, was Quirinus meinte. Bevor sie antworten konnte, holte der junge Mann mit dem rechten Bein weit aus, um der Dose einen kräftigen Tritt zu versetzen.

„Das wird guuuut“, freute sich Quirinus.

Als der Fuß die Dose traf, hätte es eigentlich ein lautes Scheppern geben sollen. Es machte allerdings nur stumpf „Klack“. Das Behältnis, offensichtlich gar nicht so leer und so leicht, wie es äußerlich den Anschein erweckte, kullerte knirschend knapp einen Meter weit. Der junge Mann brach mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Mit beiden Händen umklammerte er den Fuß und wälzte sich wie ein Mittelfeldspieler nach einem groben Foulspiel über den Boden.

„Blei“, erklärte Quirinus lakonisch. „Ich hatte noch etwas übrig. Hab gestern die Dose damit ausgegossen. … es gibt Geschichten, die folgen zwangsläufig unsichtbaren Regeln. Man kann sie prima ins reale Leben übertragen. Die Ich-trete-eine-Dose-Story ist der allerbeste Beweis. Ein herrliches Klischee, das durch meine winzige Abwandlung sogar eine Pointe bekommt.

Wir sollten hineingehen, bevor der Hauptdarsteller dieser kleinen Anekdote nachfragen kann, von wem die Dose stammt. Ich bin außerdem neugierig, ob Ihr Mann in meinem Fundus fündig geworden ist.“

Das Innere des Kuriositätenladens hatte sich auch geändert. Zwar waren die Wände, die sich um das Schaufenster bogen, noch immer voller Regale. Doch die Exponate waren komplett ausgetauscht worden. Da waren Spieluhren, Plastikroboter und Handys, Schneidebrettchen mit Brotmesser, Tablet-PCs und leere Konservendosen, die mit einer Schnur verbunden waren. Neben der Tür, die zum Bücherraum führte, stand nun eine englische Telefonzelle. Auf unterschiedlich hohen Podesten in der Mitte des Raumes hatte jemand verschiedenste Schreibutensilien platziert. Gänsefedern, Kugelschreiber, Füllfederhalter und Stempel in allen Größen.

„Na, mein Lieber“, sprach Quirinus Ingo gönnerhaft an, „haben Sie etwas in meinen Schätzen gefunden?“

Überrascht stellte Bea fest, dass ihr Mann tatsächlich einen kleinen Drahtkorb in der Hand hielt. Der Verkäufer legte gerade einen in Leder eingebunden E-Book-Reader hinein. Dabei strahlte er, als hätte er den Rockefellers einen Trabanten zum Preis eines Lamborghinis aufgeschwatzt. „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst“, entfuhr es Bea.

Ingo lächelte verlegen. „Wenn man ihn zuklappt, sieht er aus wie eines deiner Bücher.“

„Wenn man ihn aufklappt“, sagte Bea mit aller ihr zur Verfügung stehenden Ironie, „kannst du sogar darin lesen.“

„Ja, aber es passen 3500 Titel drauf. Ist doch nett.“

„Wie viele Bücher hast du in diesem Jahr gelesen?“

„Äh. Vier.“ Ingos Blick huschte hilfesuchend zum Verkäufer. Der nickte ihm auffordernd zu. „Ich kann sogar die Schrifthöhe variieren.“

„Siehst du schlecht?“

Ingo suchte die Flucht im Angriff: „Was hast du bloß gegen E-Books?“

„Herr Plana hätte gesagt …“, begann Bea.

„Du bist nicht Herr Plana“, unterbrach Ingo. Es klang grober, als es gemeint war.

Eine besonders scharfe Antwort lag Bea bereits auf der Zunge, doch Quirinus, der sich offenbar gerade köstlich amüsierte, sagte: „Ah! E-Book-Lesegeräte. Die Cola-Dosen unserer Zeit. Hier sieht man Blech, Kunststoff, Aluminium, ein Sondermüll-Akku und etwas Silikon. Auf der anderen Seite zeigt sich ein Produkt aus nachwachsenden Rohstoffen, das biologisch abbaubar ist.“ Er drehte sich zu Bea: „Man soll sich dem Neuen nicht verschließen, sage ich immer.“ Jetzt wandte er sich Ingo zu. „Aber man darf es hoffentlich hinterfragen, ohne dass jemand böse wird.“

„Sie mögen auch keine E-Books?“, fragte Ingo irritiert.

„Doch! Doch!“ Quirinus legte einen Arm um Ingos Schulter und führte ihn in Richtung Kasse. „Ich bin der Inhaber eines Ladens voller Kuriositäten. Ich bestreite meinen Unterhalt mit so was.“ Ohne Punkt und Komma plapperte Quirinus einfach weiter, während er mit rascher Feder eine Quittung vorbereitete. „Sie haben eine gute Wahl getroffen! Egal, aus welchen Tiefen des Antiquariats Ihre Frau ein Buch hervorholt, Sie werden es sich schon vorher – vielleicht sogar kostenlos – aus dem Internet besorgen können. Irgendwann ist das Internet die wahre babylonische Bibliothek. Fitzek, Flemming oder Follett sind nur einen Klick entfernt. Ich kenne da ein paar Plattformen, auf denen Sie ganz umsonst … Ach, das kriegen Sie noch raus. Aber selbst wenn Sie Ihre Bücher kaufen möchten, sind Sie billiger dran. Buchhändler! Wer braucht die schon?“ Das alles klang nicht so, als würde er sich über Ingo lustig machen. Nein. Es hörte sich wie eine halbwegs sachliche Beschreibung der gegebenen Tatsachen an … wenn sie von einem fleißigen Versicherungsvertreter vorgetragen wurden. „Alles in allem – wenn Sie drei Jahre lang so richtig, richtig viel lesen – sieht die Umweltbilanz auch viel besser aus; besser als die beim althergebrachten Buch.“ Nun, zum Schluss seiner Ausführungen zwinkerte Quirinus Beatrice zu. Verschwörerisch. Hinterlistig. Teuflisch. „Im Allgemeinen habe ich natürlich nichts gegen Buchhändler.“

Beatrice - Rückkehr ins Buchland

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