Читать книгу Beatrice - Rückkehr ins Buchland - Markus Walther - Страница 9

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Blindbuch

Da Ingo ziemlich verschnupft auf Beas Reaktion reagiert hatte, sprachen sie den Rest des Abends nur noch das Allernötigste miteinander. Die Aufräumaktion im Keller wurde nicht mal in Erwägung gezogen. Ingo fläzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer und probierte demonstrativ die diversen Funktionen des Lesegerätes aus. Immerhin gab es auch zahlreiche „Apps“, die über das reine Lesevergnügen hinausgingen. Das Wort „Kuriosum“ durchfuhr Beatrice. Nachdem Ingo sich über eine Stunde mit dem ergänzenden Computerprogramm für seinen PC und den dazugehörigen Updates beschäftigt hatte, widmete er sich eine weitere Stunde einigen Minispielen. Schließlich blieb er bei einem Enhanced E-Book hängen. Ob er es tatsächlich las, konnte Bea nicht feststellen. Der mitgelieferte Soundtrack quäkte allerdings blechern und lautstark aus einer kleinen Öffnung an der Unterseite des Geräts und passte sich seinem angeblichen Lesefortschritt an. Mal blieb die Musik leise und unauffällig, mal schwang sie sich zu epischen Höhen auf.

Da sie sich nicht wirklich gestritten hatten, bemühte sich Bea in keinster Weise um eine Versöhnung. Sollte ihr Mann noch ein bisschen im eigenen Saft schmoren und mit dem Teil glücklich werden. Ausgerechnet ein E-Book-Reader! Sie kam sich verraten vor. Und seine Aussage, dass sie nicht Herr Plana sei, machte sie tatsächlich wütend. Als ob sie es nicht wüsste. Sie war kein Auktoral. Das hatte sie auch nie von sich behauptet.

Andererseits … Plana war der Protagonist ihrer Geschichte. Durch diese Geschichte war das Buchland erst möglich geworden. Und das Buchland war nun real. Herr Plana war auch real gewesen. Seine Gedanken waren irgendwie aus ihrem Kopf gekommen und hatten seine Person erschaffen. Oder hatte sie alles falsch verstanden? Wieder stand sie auf dieser Treppe, die sich spiralförmig in den Himmel streckte und beim Beschreiten doch nicht nach oben führte.

Dem Tag war endgültig die Farbe vergangen. Das bläuliche Schwarz der Nacht kroch durch die Straßen. Ingo war auf dem Sofa eingeschlafen. Der Reader lag noch eingeschaltet in seiner erschlafften Hand.

Beatrice nahm das Gerät und suchte nach der kleinen Taste, die einen nach oben offenen Kreis mit einem senkrechten Strich zeigte. Sie fand stattdessen einen winzigen Hebel an der Seite. Darin eingraviert, so klein, dass es kaum lesbar war, standen die Worte: „Hiermit sollest du den Apparath ausschaltigen.“

Natürlich: Wenn man sich ein solches Gerät in einem Kuriosum zulegte, musste man mit Überraschungen dieser Art rechnen. Also tat Beatrice wie ihr geheißen und sortierte alsdann den Reader im Bücherbord zwischen den Werken von Bruce Sterling und H.G. Wells ein.

Aus dem Schlafzimmer holte sie Ingos Plumeau und deckte ihn damit vorsichtig zu. Ein zaghafter Kuss auf die Stirn (die er sofort angestrengt zusammenzog), ein leises „Ich liebe dich“. Danach ging sie zur Garderobe, zog sich eine Jacke über und machte sich auf, um ein paar Gedanken zu sortieren, denn an Schlaf war für sie gerade nicht zu denken.

Die Straße war menschenleer, das Schaufenster des Antiquariats dunkel wie ein Loch in der Zeit. Auch die anderen Läden waren unbeleuchtet. Warum ihre Füße sie gerade hierhin getragen hatten, wusste Beatrice nicht. Schon hatte sie den Schlüssel in der Hand, schloss auf und stand im nächsten Augenblick zwischen den geliebten Büchern.

Sie wisperten wieder!

Aufgeregt.

Fordernd.

Wissend.

„Was wollt ihr mir sagen?“ Beas Stimme war nur ein Hauchen. Sie wagte es nicht, laut zu sprechen, weil sie Angst hatte, ihre Freunde mit ihren Worten zu verschrecken. Die Antwort, die sie erhielt, war so vielstimmig, dass sie nichts verstand.

Was blieb, war das Gefühl, dass etwas Neues und Wichtiges sich ankündigte. Doch bevor sie nachfragen konnte, was genau das sein könnte, läutete hinter ihr die Ladentür. „Wir haben geschlossen“, sagte Bea mechanisch, noch ehe sie sich überhaupt darüber wundern konnte, dass um diese nachtschlafende Zeit jemand das Antiquariat betrat. Sie drehte sich um und sah …

„Chaya, was machst du denn hier?“

Da Beatrice das Licht nicht eingeschaltet hatte, blieben die Gesichtszüge des Mädchens im Halbdunkel verborgen. Dennoch hatte sich das Kind auf subtile Art verändert. Irgendwie wirkte sie nicht mehr so zerbrechlich. Der Kopf hatte sich den restlichen Proportionen des Körpers ein klein wenig angepasst. Er schien nicht mehr viel zu groß im Vergleich zum dünnen Hals. War das möglich? Oder spielte Beatrice’ Wahrnehmung ihr einen Streich?

„Ich wollte das Buch zurückbringen.“ Aus einer kleinen Umhängetasche zog sie Pippi Langstrumpf heraus. „Ich habe es leer gelesen.“

Leer gelesen? Beatrice hatte natürlich schon öfters diese Formulierung zu hören bekommen. Die Leute sagten so was. „Ausgelesen“, „zu Ende gelesen“ oder eben „leer gelesen“. Doch aus Chayas Mund klang es, als würde sie es nicht im übertragenen Sinne meinen. Als sie einen Schritt nach vorne tat und das hereinfallende Mondlicht ihre Wangen streichelte, sah Bea diesen Gesichtsausdruck, der ehrliches Bedauern und eine unausgesprochene Bitte um Entschuldigung widerspiegelte.

Bea nahm das Buch entgegen. Selbst für ein Kinderbuch lag Pippi ungewöhnlich leicht in der Hand. Es erinnerte an ein Stück Pappmaché in Form eines Buches, wie es in Möbelhäusern verwendet wurde, damit die ausgestellten Schränke nicht so leer aussahen.

Eigentlich hätte Bea fragen können, warum Chaya gerade mitten in der Nacht das Buch zurückbringen wollte oder woher sie wusste, dass Bea hier war. Stattdessen fragte sie: „Was hast du mit dem Buch gemacht?“

Denn als sie das Buch aufschlug und die Blätter zwischen ihren Fingern hindurchgleiten ließ, … rieselte zarter Papierstaub auf den Boden. Die Seiten waren grau und ungewöhnlich dünn. Sie erinnerten an ein Gebetsbuch. Die Schwärze der gedruckten Buchstaben zeigte haarfeine Risse. „Was hast du mit dem Buch gemacht?“ Beatrice wiederholte die Frage. Es gelang ihr kaum, den Blick von Pippi zu lösen.

Chaya war einen Schritt zurückgewichen. Eine Antwort war ihr jedoch nicht über die Lippen gekommen. Verstört und ängstlich schaute sie zu Beatrice auf. Aber sie sagte nichts.

Als Beatrice ungeschickterweise ihre Frage ein drittes Mal wiederholte, flog die Ladentür auf und Chaya verlor sich auf der Straße wie ein Schatten in der Dunkelheit.

„Hier geht’s nicht mit rechten Dingen zu“, flüsterte Bea verwundert und benutzte damit eine Floskel, die auf abertausenden Klappentexten ein Zuhause hatte. „Das hätte Herrn Plana irgendwie gefallen.“ Es hätte ihm sogar ein Schmunzeln ins Gesicht gezaubert.

Der brüchige Einband zerfaserte zusehends zwischen Beatrice Fingern. In wenigen Minuten würde das Buch wahrscheinlich endgültig aus dem Leim fallen. Nie hatte sie ein Buch als so leblos empfunden. Vielleicht war es Zeit für etwas Buchland-Zauber. Eine Nacht inmitten der Artgenossen würde der gedruckten Version von Pippi Langstrumpf bestimmt gut tun. Beatrice schob das Buch zurück an seinen ursprünglichen Platz im Regal und beschloss, herzhaft gähnend, diesen merkwürdigen Tag enden zu lassen. Morgen würde wieder alles beim Alten sein.

Beatrice stellte fest, dass nichts wieder beim Alten war. Während die ersten Kunden im Laden stöberten und die üppig beladenen Auslagen betrachteten, klebte Beas Blick immer wieder entgeistert an dem schwarzen Strich fest, der durch die Lücke in den ansonsten geschlossenen Reihen im Bücherregal entstanden war. Dort, wo sie gestern das Kinderbuch eingeschoben hatte, lag ein klägliches Häuflein Staub. Wie konnte das sein? Wie konnte ein Buch innerhalb so kurzer Zeit zerfallen? Das hatte Beatrice noch nie erlebt. Schon gar nicht hier im Antiquariat. Hier starben keine Bücher! Hier lebten sie auf. Egal, was es zu bedeuten hatte: Es konnte nichts Gutes sein. Aber wenn sie Antworten finden wollte, gab es nur einen Ort, an dem sie danach suchen konnte. Während der Zeiger langsam über das Zifferblatt ihrer Armbanduhr kroch, überkam sie mehr und mehr ein Gefühl der Unruhe. Die Angst, dass etwas ihre Bücher bedrohte, machte sich schmerzhaft spürbar in ihren Knochen breit. Da war noch immer das Wispern um sie herum. Doch entgegen aller Erfahrungen, die sie bislang zwischen den Büchern gemacht hatte, klang es nun kläglich, geradezu krank.

Kurz vor Mittag entschied sie kurzerhand, den Laden zu schließen. Wenn in ihrem Antiquariat Bücher verschwanden, duldete es keinen Aufschub. Dass sie einer ihrer besten Kundinnen, Frau Richter, dabei die Tür quasi vor der Nase zusperrte, nahm sie in Kauf.

Sie eilte zum Maschinentelegraphen, ließ den Hebel an der richtigen Stelle einrasten und riss die Tür zur Kellertreppe auf. Sie war schon die ersten Stufen hinuntergerannt, bis sie abrupt stehen blieb.

„Was zum …“

Die in Stein geschlagenen Stufen wanden sich wie ehedem hinab. Die Finsternis wurde von den Glühbirnen in die Fugen zwischen den Steinen verbannt, doch ihr Licht wurde feucht glitzernd zurückgeworfen. Von der halbrunden Decke hingen kleine, schleimig grüne Stalaktiten herab. In der Luft schwebte ein unangenehmer Geruch, der an faulende Eier erinnerte.

„Es wäre schön, wenn ich jetzt meinen Herrn Plana an meiner Seite hätte“, flüsterte Bea in die Kälte, die ihren Atem in weiße Dunstschwaden verwandelte. „Ein Auktoral wüsste, was das zu bedeuten hat.“

Weitaus langsamer setzte sie ihren Weg hinunter fort. Dabei musste sie aufpassen, dass sie nicht ausglitt, denn mit jedem Schritt wurden die Stufen glitschiger. Moos, Schimmel und Schwamm hatten sich ausgebreitet, machten den Abstieg zu einem gefährlichen Unterfangen.

Unten angekommen nahm sie sich die Taschenlampe. Die Beleuchtung reichte zwar bis in die Abteilung mit den aktuellen Kinderbüchern, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass etwas zusätzliches Licht nicht schaden konnte. Die Regale mit den Grüffelos und Elfen waren nicht weit entfernt und im Vergleich zu den restlichen Themengebieten relativ überschaubar. In einer Viertelstunde konnte sie da sein, sich ein neues Exemplar von Pippi nehmen und schleunigst wieder …

Entsetzt hinderte sie sich daran, den Gedanken zu Ende zu spinnen. Sie liebte das Buchland! Es war doch kein Ort, von dem sie fliehen wollte. Beatrice hob die Schultern, reckte das Kinn vor und wagte endlich, ihren Weg mutig fortzusetzen. Immerhin war hier unten alles in Ordnung. Was auch immer da im Treppenabgang passierte: Es passierte nur dort.

Alles in Ordnung!

Irgendwo knackte es.

Etwas Anderes trippelte über den steinernen Boden.

Kicherte da etwas? Oder jemand?

Bea drehte sich langsam um. Der Gang hinter ihr war genauso leer wie der Gang voraus. „Buh!“ Nein, das hatte niemand gesagt. Es lag nur unausgesprochen in der Luft.

Beatrice schluckte trocken. Der Kloß im Hals blieb davon unbeeindruckt. Er ließ ein zaghaftes „Hallo?“ der Kehle entweichen. Ein Echo, das unnatürlich laut zurückhallte, kam einer Antwort gleich. „Hallo!“

„Ist da jemand?“

Das Echo zerhackte ihren Satz. Aus allen Richtungen drangen ihre Worte zu ihr zurück. „Ist da jemand … da jemand … jemand … ist … da … jemand … da ist jemand.“

Herr Plana, dachte Bea, hätte jetzt gesagt: „Das Echo, welches Bücher erzeugen, ist nicht akustischer Natur.“ Nein, hier unten konnte es nicht so einen Widerhall geben. Sie hielt sich doch nicht in einer Schlucht aus Kalk und Granit auf. Hier gab es nur Holz und Papier.

Das Licht über ihr flackerte. Noch bevor sie nach oben blicken konnte, machte es über ihr leise „patsch“. Dann rieselten kleine Glasscherben herunter. Schützend hob sie die Arme über ihren Kopf, spürte, wie warme Splitter von ihr abprallten und mit leisem Klirren auf dem Boden aufschlugen. „Patsch, patsch, patsch.“ Überall um sie herum wiederholte sich das Geschehen und ließ sie schließlich in absoluter Finsternis zurück.

Vorsichtig ließ Beatrice die Arme sinken, schüttelte sich, um das Glas vom Körper zu bekommen. Ein paar kleine Schnitte brannten in der Haut, doch alles in allem war sie wohl unverletzt. Sie erlaubte sich, wieder zu atmen, und rang die aufkommende Panik nieder. Das Zittern ihrer Finger bekam sie auch in den Griff. Sie schaffte es, die Taschenlampe einzuschalten.

Wahrscheinlich wäre es nun das Vernünftigste gewesen, so schnell wie möglich den Rückweg anzutreten. Aber Beatrice spürte in sich eine ungekannte Art von Trotz, die allerdings nicht mit Mut zu verwechseln war. „Hey Pippi Langstrumpf. Trallali“, flüsterte sie. Das entsprechende Regal war ja nicht mehr weit.

Als sie es erreichte, entfuhr ihr ein erstauntes Pfeifen. Ein imposanter Anblick. Sie schätzte das Gesamtwerk Astrid Lindgrens auf knapp 100 Titel. Dazu kamen zig Spezialeditionen, Neuauflagen, illustrierte Fassungen und allerhand Drehbücher, bei denen Frau Lindgren als Co-Autorin mitgewirkt hatte. Darüber türmten sich die unzähligen Übersetzungen in die Höhe. Das spärliche Licht in ihrer Hand erlaubte Beatrice nur eine begrenzte Sicht. Von hier unten sah das Regal deshalb aus, als würde es sich bis unter das ferne Deckengewölbe recken. Oder weiter. „Das wird ein Weilchen dauern.“

Sie zog eine Leiter auf Rollen vom Nachbarregal heran und machte sich forsch an den Aufstieg. Die Taschenlampe klemmte sie dabei zwischen die Zähne, um mit beiden Händen sicheren Halt zu haben.

Etwa drei Meter über dem Boden fand sie das Brett mit den deutschsprachigen Titeln. Da standen sie: Pippi Langstrumpf, Pippi geht an Bord und dann … eine Lücke, die, gefüllt mit leuchtend blauem Nebel, den Umriss eines Buches formte. Vorsichtig griff Beatrice in die Lücke. Das Gefühl eines Déjà-vu stellte sich ein. Sie tastete nach dem Dunst, der aber körperlos ihrem Griff entfloh. Stattdessen spürte sie ein Stück Karton, das am angrenzenden Buch lehnte. Sie zog es hervor.

„Eine Postkarte“, entfuhr es ihr erstaunt. Dann las sie: „Vergriffen. Regalplatz 09081979. Die Geschichte eines mutigen Mädchens auf einer Südseeinsel. Lesen Sie die Abenteuer der kleinen Pippi und ihrer treuen Freunde. Tauchen Sie ein in eine anarchische Erzählung für Kinder. ISBN 978-3789116322. Weitergehende Informationen erhalten Sie in der Buchbinderei.“

Beatrice - Rückkehr ins Buchland

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