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Kapitel 5
ОглавлениеSamstag, 17. Oktober 2020 – Bruchmühlbach-Miesau bei Kaiserslautern
Am nächsten Morgen half Jana nach einem schnellen Frühstück bei den Vorbereitungen zur Feier. Der Tag verging, ohne dass sich eine Gelegenheit ergeben hätte, ihre Tante wegen Abu Mujahed und Achatz um Rat zu fragen. Für ihren Geschmack viel zu früh waren die ersten Gäste gekommen, und Jana stand mit ihrer Tante und drei weiteren Argentinien-Auswanderern an einem der kleinen runden Tische, die sie überall im Haus aufgestellt hatten.
Das Gespräch drehte sich ausschließlich ums Auswandern. Jana beteiligte sich nicht daran. Was Tante Greta ans andere Ende der Welt zog, blieb ihr schleierhaft.
»Mit dem Geld, das ich habe, kann ich in Deutschland nicht ordentlich leben, in Argentinien aber schon«, hatte ihr Greta lapidar auf ihre Frage geantwortet.
»Mein Chef hat mich gefragt, ob ich Tabletten nehme«, schimpfte Mandy, eine der drei Mit-Auswanderer. »Weil ich mein Konto aufgelöst hatte und mein Gehalt in bar wollte.«
Jana hatte ihr bislang nur mit halbem Ohr zugehört, aber immerhin mitbekommen, dass die Mittfünfzigerin aus Bautzen gerade ihre Eigentumswohnung auf den 18-jährigen Sohn überschrieben, Telefon und Handy abgemeldet sowie alle Computer entsorgt hatte, um so weit wie möglich aus der Datenerfassung zu verschwinden. Sie fand, man habe sich in der DDR genug überwachen lassen müssen und wollte das nicht mehr. Gerade erzählte sie, dass sie zum Abschluss ihre Stelle gekündigt hatte. Jana kräuselte die Stirn. Wie sollte man so jemanden ernst nehmen?
»Jana, dein Glas ist leer«, unterbrach Greta ihre Gedanken. »Darf ich dir etwas bringen?«
»Nein.« Jana zwinkerte ihr zu. »Ich komme mit!«
Jana folgte Greta in die Küche, wo sie sich an einer lautstark debattierenden Vierergruppe vorbei zu den Flaschen vorarbeiten mussten.
»Was magst du denn?«, fragte Greta, nachdem sie es bis zu den Getränken geschafft hatten.
»Kannst du mir etwas Schickes mixen?«, antwortete Jana mit einer Gegenfrage. Das hitzige Gespräch der vier in ihrem Rücken war nicht zu überhören.
»Mein Rechner ist Teil meiner Privatsphäre«, wetterte Georg, den sie von den Vorbereitungen fürs Fest kannte. Der kleine Mann mit dem graumelierten Vollbart war felsenfest davon überzeugt, im Gegensatz zu allen anderen den Durchblick zu haben. Er war die treibende Kraft hinter der örtlichen Bürgerinitiative gegen Fluglärm. »Da hat niemand etwas zu suchen!« Jana drehte den Kopf und beobachtete die Szene aus dem Augenwinkel. Georg sah seine Gesprächspartner beschwörend an, die Arme vorgestreckt, als wolle er sein Gegenüber an den Schultern packen. »Keine Polizei, kein Geheimdienst, und schon gar keine Unternehmen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Ich erwarte vom Staat, dass er meine Privatsphäre schützt!«
»Georg, du bist naiv!«, entgegnete Ronna. »Dann darfst du mit deinem Rechner nicht ins Netz gehen. Es gibt zigtausende von Schwachstellen, die man nutzen kann, um in einen Rechner einzudringen, nicht nur die extra eingebauten Hintertüren für Geheimdienste. Und natürlich werden solche Schwachstellen auch von Kriminellen ausgenutzt. Es gibt sogar einen schwungvollen Handel damit. Gibt doch einfach mal ›exploit‹ in eine Suchmaschine ein. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Schließlich mache ich das beruflich für die US-Army!«
»Wenn man euch zuhört, muss man ja glauben, dass die Mafia jeden Rechner in ihrem Sinne fernsteuert«, spottete Gabriel. Der über zwei Meter große Apotheker war die Ruhe selbst. Am Handgelenk hatte er die neueste Apple-Watch. »Das Internet ist doch großartig. Man kann Sachen machen, von denen man früher nicht zu träumen gewagt hat. Und fast alles ist kostenlos, weil die Leute sich gegenseitig helfen.«
»Und sicher«, sekundierte seine Frau Verena. »Ich mache zum Beispiel alle Bankgeschäfte online. Aber von meinem Konto wurde noch nie etwas nach Sizilien abgebucht.« Sie lachte.
»Mensch, Verena«, brach es aus Georg hervor. »Hast du schon mal Skype benutzt?«
»Natürlich, fast täglich. Meine Tochter ist zu einem Austausch in den USA.«
»Darüber wurde der erste Bundestrojaner installiert. Von dem hast du doch gehört? Glaubst du, dass niemand sonst auf die Idee kommt, dir auf die Art einen Trojaner einzuschleusen? Wer ist hier naiv?«
Jana fand Georg unsympathisch – ein überspannter Verschwörungstheoretiker, der Gabriel und Verena intellektuell nicht das Wasser reichen konnte. Sie spürte Gretas Hand an ihrem Arm. »Magst du French 69? Derzeit mein Lieblingscocktail.«
»Das werde ich jetzt herausfinden«, sagte Jana und griff das Glas, das ihre Tante ihr anbot. »Lass uns wieder ins Wohnzimmer gehen. Hier ist es mir zu eng und zu hitzig.«
»Gerne. Erzähl mal. Wie läuft es so in Berlin?«
»Ganz okay. Der Uni-Wechsel war richtig, und wenn es so weitergeht, habe ich in einem Jahr den Master in der Tasche.«
»Dein Gesichtsausdruck passt aber nicht zu den glänzenden Aussichten. Was ist? Liebeskummer? Ärger mit dem Vermieter? Oder bist du abgebrannt?«
»Nichts von allem. Ich habe einen Job in einer coolen Whiskybar, und mein Vermieter ist zwar ein Oberspießer, aber ich komme klar. Das Einzige, was nervt, ist Spam. Irgendwie haben irgendwelche Typen viel über mich herausgefunden und schreiben mich sehr gezielt an. Fast schon unheimlich.«
Sie näherten sich dem alten Tisch, und Mandy kam wie ein Tiger auf Beutefang auf sie zu.
»Jana, du nutzt doch sicher Facebook?«, unterbrach sie das Gespräch mit Greta.
»Ja, natürlich.«
»Seht ihr!«, warf Mandy triumphierend über ihre Schulter, bevor sie Jana die nächste Frage stellte: »Weißt du, was das Facebook-Tracking-Cookie ist?«
Jana runzelte die Stirn.
»Seht ihr!«, tönte Mandy erneut nach hinten.
Jana bekam ein ungutes Gefühl. Entweder waren das hier allesamt kauzige Spinner oder sie ein naiver Tropf.
»Wovon reden Sie? Was macht dieses Facebook-Cookie?«
»Die speichern etwas auf allen deinen Geräten, sodass jeder deine Identität auslesen kann. Einfach so. Von wegen Internet 2.0 und sich unerkannt im Netz bewegen.«
Allem Anschein nach unterschätzte man die kleine Frau mit der Fistelstimme.
»Dann kann also jeder herausfinden, welche Geräte ich benutze und letztlich, wer ich bin, nur weil ich Facebook benutze?«
»Klar, und du wusstest das nicht, wie die Allermeisten. Das Beste ist, dass du inzwischen nicht einmal mehr bei Facebook sein musst, um so beglückt zu werden. Günther und Tatjana wollen mir das nicht glauben.«
»Versuch mal, dich bei FB einzuloggen, wenn du Cookies deaktiviert hast.« Ronnas raue Stimme war die Ruhe selbst. »Hast du dich nie gewundert, wieso du im Nullkommanix die passende Werbung überall eingeblendet bekommst, nachdem du in irgendeinem Online-Shop warst? Es reicht sogar, nur über die Sachen zu reden. Mikrofone im Smartphone oder Rechner lauschen mit, Spracherkennung und künstliche Intelligenz im Hintergrund erledigen den Rest.«
Unwillkürlich versteifte sich Jana. Sich als Dummchen abkanzeln zu lassen tat weh. »Es ist doch viel besser, gleich passende Angebote zu bekommen, statt ewig zu suchen«, erwiderte sie zaghaft. Der Grat zwischen maßgeschneiderten Angeboten und arglistiger Verführung war schmal, und es störte sie gewaltig, wenn sie nicht Herr ihrer Entscheidungen war.
»Auch, wenn man dafür aufzeichnet, was du kaufst, mit wem du Kontakt hast, wo du herumläufst, wann du was machst?« Mandy fand das offensichtlich unzumutbar.
Jana stimmte ihr grundsätzlich zu, aber das wollte sie nicht zugeben. »Schön«, erwiderte sie mit einem Schulterzucken. »Aber das stört mich nicht. Die paar privaten Daten, die ich damit freigebe – ich habe ja nichts zu verbergen, und dafür bekomme ich das alles kostenlos.«
»Bist du sicher, dass du überhaupt private Daten hast?« Mandy schnaufte abschätzig.
Jana antwortete nicht. Die Situation war ihr unangenehm. Schön, sie hatte eine Menge Dinge erfahren, die sie erst einmal verdauen musste.
»Kann mir jemand sagen, wo Greta ist?«, fragte sie. Ihre Tante war nicht stehen geblieben, als Mandy sie auf dem Rückweg von der Küche abgefangen hatte.
»Sie ist auf die Terrasse gegangen«, sagte Ronna.
Jana bedankte sich und steuerte die Terrassentür an. Sie rieb ihre feuchten Handflächen aneinander. Die Probleme waren nicht in Berlin geblieben. Ihr Versuch, sich über eine neue E-Mail-Adresse zu tarnen, war kläglich schiefgegangen. Man hatte ihre wahre Identität herausgefunden – wer auch immer man war. Sie hoffte, dass Nils ihr helfen konnte, bevor etwas wirklich Schlimmes passieren würde.