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Kapitel 6

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Mittwoch, 28. Oktober 2020 – Humboldt-Universität, Berlin

Die folgende Woche war ohne größere Zwischenfälle oder dubiose Nachrichten verlaufen. Jana hatte eisern gearbeitet, um versäumten Stoff nachzuholen. Unter den Problemen der vergangenen Wochen hatte nicht nur ihre Seminararbeit gelitten. Nachdem sie auch das Wochenende in ihrer Wohnung über Büchern und Skripten brütend verbracht hatte, fühlte sich sich wieder auf Stand im Studium.

Ihren Rechner hatte sie in der Zeit nicht angerührt. Am Montag hatte sich Nils endlich per E-Mail gemeldet und vorgeschlagen, sich am Mittwoch um 14.00 Uhr in der Mensa der Humboldt-Uni zu treffen, um ihren Laptop auf Vordermann zu bringen. Erwartungsvoll bezog Jana fünfzehn Minuten vor der verabredeten Zeit ihren Posten am Eingang der Mensa, um Nils auf keinen Fall zu verpassen. Zehn Minuten später kam er mit langen Schritten auf sie zu.

»Hi!«, grüßte er. »Was gibt es denn heute?«

»Hallo!«, erwiderte Jana. »Weiß nicht.« An Essen hatte sie nicht gedacht. Nils’ Gesichtsausdruck nach zu urteilen war er am Verhungern. Er deutete mit einer seitlichen Kopfbewegung in Richtung Essensausgabe und ging voraus. Sie folgte ihm.

»Auf dem Geburtstag meiner Tante gab es ein paar schräge Typen«, begann Jana, während sie mit Tabletts bewaffnet das Angebot sondierten. »Eine Frau hat erzählt, dass die Googles, Amazones, Facebooks dieser Welt überall Cookies hinterlassen, was im Endeffekt dazu führt, dass man einfach rausfinden kann, was ich wann mit meinem Computer mache. Noch schlimmer, dass die über die Mikrofone einen abhören und das für ihre Zwecke analysieren. Wie siehst du das?«

»Stimmt schon«, meinte Nils und griff sich eine Schüssel voll Eintopf. »Die greifen ungefragt deine Kontakte ab und benehmen sich, als würde dein Rechner ihnen gehören.« Jana nahm sich ein belegtes Brötchen und ein Mineralwasser. »Aber du hast selbst dann Probleme, wenn dein Blechkopf offline ist. Mir fällt keine plausible Erklärung ein, warum deine Maschine im Stand-by die ganze Zeit rödelt oder woher diese obskuren Prozesse kommen.« Nils brach ab und zahlte seinen Eintopf. Jana zahlte ebenso, sie holten sich Besteck und sahen sich nach einem geeigneten Platz um. Gegen 14.00 Uhr verloren sich nur noch wenige in der Mensa. Sie setzten sich nebeneinander an einen Tisch abseits, und Jana legte ihren Laptop zwischen Nils’ Schüssel und ihren eigenen Teller. Sie klappte den Rechner auf und entsperrte ihn. Nils steckte einen USB-Stick ein.

»Ich halte es nicht für undenkbar«, nahm Nils das unterbrochene Gespräch wieder auf, »dass Unternehmen Trojaner einschleusen. Moralische Bedenken haben die keine, da bin ich mir absolut sicher. Allerdings kommt so etwas unweigerlich irgendwann heraus und könnte das Unternehmen ruinieren. Nicht vorstellbar, dass die sich trauen, merkwürdige Prozesse zu starten und Sachen zu kompilieren. Google, Amazon, Instagram, Facebook, Snapchat und so weiter können wir somit ausschließen. Ein Trojaner, der deinen Rechner fernsteuert und in ein ›Botnetz‹ einbindet, scheidet ebenfalls aus. Die Teile müssen unauffällig sein. Weißt du, was das ist?«

Jana schüttelte den Kopf.

»Bot ist die Abkürzung für Roboter. ›Botnetze‹ schleusen Trojaner in alle möglichen Rechner ein und nutzen deren Rechenkapazität für krumme Sachen. Man schätzt, dass bis zu 40 Prozent aller Privatrechner in Deutschland für ›Botnetze‹ missbraucht werden.«

Jana schnappte nach Luft. Es überstieg ihr Fassungsvermögen, dass fast die Hälfte aller Rechner in Deutschland gehackt waren.

Nils sprach unbeirrt weiter. »Ich denke, du hast einen neuen Virus oder ein ähnliches Tierchen im Rechner, und das werden wir gleich beseitigen.« Dabei pochte er auf den USB-Stick und grinste lausbübisch. »Auf dem USB-Stick habe ich die neuen Signaturen und die passenden Programme, um sie einzuspielen.« Nils tippte einen Befehl ein. »So, das war’s. Jetzt lassen wir den Virenscanner die ganze Festplatte von Grund auf abgrasen, und die Sache hat sich.« Er deutete auf ein Bildschirmfenster, das den Fortschritt anzeigte. Nebenbei löffelte er seinen Eintopf. Jana betrachtete schweigend den Bildschirm, wo der Prozentwert der Fortschrittsanzeige gleichmäßig anwuchs, bis er schließlich 100 erreichte. Unter einem grünen Balken erschien der Hinweis, dass alles in Ordnung sei.

Jana sah zu Nils, der mitten in der Bewegung innehielt und für einen Moment mit vollem Löffel vor dem offenen Mund dasaß.

»Das gibt es doch nicht.« Nils legte den Löffel zurück in den Teller. »Das Teil hat nichts gefunden.«

Jana verschränkte die Arme. Ihr lief es eiskalt über den Rücken. »Habe ich eine Zeitbombe im Rechner, die alle meine Daten löscht oder mein Bank-Passwort abgreift?« Sie kratzte sich hinter dem Ohr.

»Mach dir keine Sorgen.« Nils machte eine beschwichtigende Geste in ihre Richtung, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. »Das werden wir in den Griff bekommen. Dauert aber ein paar Tage. In der Zwischenzeit könntest du das selber im Auge behalten und mir Bescheid sagen, falls sich etwas ändert. Du machst den Affengriff und klickst hier, um den Task-Manager zu starten. Damit hast du die Anzeige mit den laufenden Prozessen. Abschießen geht über rechte Maustaste und klick.«

»Ich musste eben, als du von Tierchen auf meinem Rechner gesprochen hast, an Cooties denken«, bemerkte Jana, während sie den Rechner zu sich nahm und probeweise den Task-Manager aufrief. »Hast du davon schon mal gehört?«

»Die eingebildeten Läuse aus dem Kinderspiel? Das spielen doch nur die Amis.«

»Du kennst das? Ich habe letztes Wochenende zum ersten Mal davon gehört, und seitdem muss ich mich laufend kratzen. Ich werde ich das Gefühl nicht los, ich hätte so eine widerliches Pseudoungeziefer, das man nicht wieder loswird.«

»Ach, komm. Du bist ein Mädchen, da kann ich helfen. Wie ging der Spruch mit dem Immunisieren?«

Wer hätte gedacht, dass Nils richtig charmant sein kann?, dachte Jana.

Am nächsten Morgen war Jana spät dran für die Lüneburger-Vorlesung, die sie keinesfalls verpassen wollte. Sie hatte nach der Arbeit in der Whiskybar noch gelernt, am Morgen fast verschlafen und zu allem Überfluss ihre S-Bahn verpasst. Zehn Minuten fror sie im kalten Nebel, bis endlich Lichter über dem Gleis auftauchten und der nächste Zug kam. Sie stieg ein, setzte sich auf eine freie Bank und schloss die Lider, um ein wenig zu dösen. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit und sie fröstelte. Nach 20 Minuten musste sie am Bahnhof Friedrichstraße aussteigen. Das kurze Stück von dort zur Humboldt-Uni legte sie im Laufschritt zurück. Trotzdem war es fast Viertel nach neun, als sie den menschenleeren Gang erreichte, an dessen Ende ihr Hörsaal lag. Eine Neonröhre flackerte und verlieh dem fensterlosen Korridor eine Atmosphäre, die an einen Hitchcock-Film erinnerte. Mit langen Schritten eilte sie über den dunkelgrauen Steinboden. Die Hörsaaltür war zu. Unsicher öffnete Jana die Tür und trat ein. Lüneburger war noch nicht da. Erleichtert verschnaufte sie.

Eine kleine Gruppe von Studenten bemerkte Jana und ihr Gespräch erstarb abrupt. Eine kleine Frau, rothaarig mit Igelschnitt, starrte sie feindselig an, bevor sie sich zu den anderen umdrehte und aufgeregt zu tuscheln begann. Was sollte das? Sie kannte die Rothaarige kaum, wusste nur über eine gemeinsame Bekannte, dass sie Renate hieß. Die Übrigen kannte sie gar nicht.

Jana schüttelte den Kopf und kämpfte gegen die Beklemmung an, die begann, ihre Kehle zu verstopfen. Sie entdeckte Wibke, die wie üblich in einer der hinteren Bänke außen saß, und dachte nicht mehr an die rothaarige Renate. Jana ging zu ihrer Freundin und setzte sich neben sie. Dabei beschlich sie das unangenehme Gefühl, dass sich Blicke in ihren Rücken bohrten.

»Guten Morgen«, grüßte Jana. »Das war knapp. Ich hasse es, zu spät zu kommen.«

»Morgen«, erwiderte Wibke eisig. »Mit dir habe ich heute gar nicht gerechnet.« Wibke wandte sich zu ihr um und betrachtete sie mit dem Gesichtsausdruck einer Sphinx. Sie war gewohnt elegant gekleidet und stark geschminkt, doch heute wirkte sie mit dem karminroten Lippenstift und dem strengen Dutt regelrecht unnahbar. Wibkes sündhaft teures Parfum stand wie eine Mauer zwischen ihnen.

»Guten Morgen«, tönte es von vorne und lenkte Janas Aufmerksamkeit ab. »Professor Lüneburger ist heute verhindert, sodass ich die Vorlesung halten werde.« Jana sah zu Alexander Maybach, Lüneburgers Assistenten, der ihn gelegentlich vertrat. »Das Thema heute heißt ›Anker setzen‹. Sie alle kennen das Prinzip. Geschicktes Verhandeln bedeutet, rechtzeitig eine konkrete Zahl ins Spiel zu bringen …« Wibke musterte sie die ganze Zeit von der Seite, statt Maybach zuzuhören.

»Ist etwas?«

»Tu nicht so!«, zischte Wibke. Ihre karminrot lackierten Fingernägel trommelten fordernd auf dem kleinen Pult.

»Was … was ist denn?«

»Das besprechen wir am besten nach der Vorlesung. Dabei muss ich dir in die Augen sehen.« Demonstrativ drehte Wibke sich Maybach zu.

Den Rest der Vorlesung hätte Jana sich sparen können. Wibke würdigte sie keines Blickes, und sie zermarterte sich das Hirn, was in ihre Freundin gefahren sein könnte. Nach dem Ende der Vorlesung verließen die meisten Studenten schnatternd den Hörsaal. Nicht wenige warfen Jana beim Vorbeigehen abfällige Blicke zu und tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Wibke zog wortlos ihren Rechner hervor und sah sich um. Schräg hinter ihnen lungerte die Gruppe der Studierenden um Renate am Ausgang herum. Ungeschickt versuchten sie, Jana und Wibke zu beobachten. Wibke schaute sie herausfordernd an, bis sie verschwanden. Dann klappte sie ihren Rechner auf.

»Erklär mir bitte, was das soll!«, forderte Wibke und zeigte Jana eine E-Mail mit Absender »jane-the-lion@web.de«.

Hi, warum hast du mir nie erzählt, dass der Penner auf dem Bild unten dein richtiger Vater ist. OMG!

Jana las, betrachtete das Bild eines Obdachlosen und blickte entgeistert zurück zu Wibke, deren Mund ein schmaler roter Schlitz war.

»Oder das!«

Wibke zeigte ihr eine Whatsapp-Nachricht, in der unterstellt wurde, sie hätte sich in ihrer Schulzeit prostituiert – versandt von Jana!

»Oder das!« In einem Facebook-Eintrag wurde gewarnt, dass Wibke illegale Schneeballgeschäfte anstoße. Der Eintrag war in einer neuen Whatsapp-Gruppe gepostet, der außer Wibke und Jana nur fünf weitere Personen angehörten, alle aus ihrer gerade gegründeten Lerngruppe, zu der sie sich demnächst erstmals treffen wollten.

Angelegt hatte die neue Gruppe eine »Liowa Colonia«, von der auch der Facebook-Post stammte.

»Keine Ahnung«, stammelte Jana. »Ich sehe das alles zum ersten Mal. Du glaubst doch nicht, dass das von mir ist?«

»Es fällt mir schwer, das nicht zu glauben. Weißt du, ich habe die anderen gefragt. Niemand kennt eine ›Liowa Colonia‹. Bleibst du. ›jane-the-lion‹ hört sich so nach Jana Loewe an, dass es dich fast entlastet, so schwachsinnig ist es. Aber schau mal auf die Zeile unter der Signatur. ›Zu viel Mathe schadet dem Gehirn.‹ Hast du mir nicht kürzlich erzählt, dass das dein Lieblingsspruch auf der Schule war?«

Jana schluckte. Ihr wurde eiskalt. »Du musst mir glauben«, flüsterte sie. »Ich habe damit nichts zu tun!«

Wibke schnaubte empört, doch es wirkte eine Spur weniger aufgebracht als eben.

»Und was hätte es für einen Sinn, dich zu beschimpfen? Meine beste Freundin auf der Uni.«

»Hmm«, knurrte Wibke. »Wenn du es nicht warst, wer war es dann?« Prüfend sah sie Jana in die Augen, als wolle sie sie hypnotisieren.

»Mit so einem Mist würde ich mich total isolieren«, beteuerte Jana. »Wer kann denn so etwas wollen?«

»Wer kann so etwas wollen?«, wiederholte Wibke leise, wobei sie an Jana vorbei hinunter zur Tafel sah. »Du selbst scheidest aus. Jedenfalls bist du zu klug, und von einer masochistischen Ader habe ich an dir bislang nichts bemerkt.« Wibke wandte sich wieder Jana zu, und ihr Blick wärmte wie ein Kaminfeuer auf einer Skihütte. »Folglich jemand anderes. Wer könnte dich isolieren wollen? Ha!« Ein triumphierender Ausdruck legte sich auf Wibkes Gesicht. »Wie heißt dieser Typ, den wir neulich getroffen haben? Der, den du wegen deines Rechners um Hilfe gebeten hast.«

»Nils? Wie kommst du auf Nils?«

»Der will dir an die Wäsche. Das sieht doch jeder Blinde! Und nach allem, was du mir erzählt hast, kann der Typ mit deinem Rechner alles machen, was er will. Spätestens, wenn du online bist! Der Kerl hat keine Freundin, oder?«

»Nils? Das ist ausgeschlossen. Nils ist hilfsbereit, und ansonsten lebt er in seiner Welt aus Computern, Rudern und Go-Spielen. Aus Frauen macht der sich nichts.«

»Rudern? Der Hänfling! Mädchen – sei nicht so blauäugig! So ein Kerl sammelt Infos, wie und wo er dir nachstellen kann.«

»Das ist absurd«, widersprach Jana. Überraschenderweise klang es bei Weitem nicht so überzeugend, wie sie es klingen lassen wollte. Was Wibke sagte, war nicht unvorstellbar. Andererseits fühlte sie sich wohl mit Nils, und soweit sie sich erinnern konnte, hatte Nils stets gerne geholfen und nie jemanden gelinkt. Warum sollte er bei ihr darauf aus sein? »Nein, Wibke, du kennst Nils nicht. Das ist nicht so einer. Ausgeschlossen. Und Rudern können auch Hänflinge. ›Leichtgewichte‹ nennt sich das.«

»Und wie erklärst du sonst den Dreck?« Mit Nachdruck zeigte sie auf den Bildschirm ihres Rechners. Ihr Mund schrumpfte zurück zu dem schmalen Strich.

»Keine Ahnung. Es muss eine andere Erklärung geben. Vielleicht hat Nils eine Idee?«

Wibke zuckte zusammen, als sie Nils’ Namen aussprach. »Na, dann ist alles gesagt«, stellte sie fest und klappte den Rechner zu. »Ich muss los.«

Sie stand auf, drehte sich um und stieg die Treppe zum Ausgang hoch. Jana folgte ihr aufgewühlt. Irgendwer hatte es auf sie abgesehen und war in der Wahl seiner Methoden nicht zimperlich. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, dass sich ihre beiden einzigen Freunde in Berlin gegenseitig an die Gurgel gingen.

Das Scharnier quietschte leise, als Wibke den Ausgang aufdrückte und hindurchging. Draußen blieb sie stehen und sah Jana durchdringend an, während hinter ihnen dumpf die Tür zufiel. Der Getränkeautomat gegenüber schien hämisch zu feixen.

»Glaub mir. Dieser Nils steckt dahinter!«, drängte Wibke.

Jana fühlte einen Kloß in ihrem Hals. Lief es auf er-oder-ich hinaus? Sie sah ihre Freundin verständnisheischend an. Wibkes Gesichtsausdruck verhärtete sich. Eine Freundschaft mit Wibke würde immer nach Wibkes Regeln ablaufen, begriff Jana, und in diesem Augenblick zweifelte sie daran, dass Wibke ihr je eine echte Freundin sein könnte, eine, der sie blind vertraute und mit der sie durch dick und dünn ging.

»Man sieht sich«, unterbrach Wibke ihre Gedanken, wandte sich ab und ging kerzengerade davon.

Der Takt, den ihre Stöckelabsätze auf den Steinfliesen schlugen, klang in Janas Ohren wie ein böses Vorzeichen. Sie sah ihr nach, bis sie verschwunden war. Der dunkelgraue Boden unter ihren Füßen fühlte sich an wie ein Sumpf, in dem sie zu versinken drohte. Wer oder was hatte sich gegen sie verschworen?

Tödliche K. I.

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