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Die schöne Wodarka
ОглавлениеEs war einmal – so fangen alle Märchen an – im Land der vielen Fließe. Die Bewohner, auch Spreewälder genannt, lebten so recht und schlecht auf Kaupen (Erdhügeln) in strohgedeckten Häusern. War ihr Alltag schwere Plage, so verstanden sie es aber auch zu feiern. Oft saß man zusammen und wenn der Tag der Nacht den Vorrang ließ, es also zeitig finster wurde, kuschelte man sich am Feuer des Kamins und lauschte den Geräuschen der Dunkelheit.
Oftmals, so erzählte man es sich hinter vorgehaltener Hand, geisterten Gestalten durchs Land der Fließe, die den Bewohnern Respekt und auch Angst einflößten. Ob Mann, ob Frau, ob Greis, ob Kind – jeder erwies diesen ›unsichtbaren‹ Geistern eine gewisse Ehre.
Nur einer nicht. Er wurde von seinen Dorfnachbarn der ›kecke Jirko‹ genannt. Suchten die anderen den Schutz der Häuser, wenn es dunkel wurde, so ging Jirko ›auf die Pirsch‹. Es machte ihm riesen Spaß, mit dem Kahn durch die Fließe zu staken, die sich wie Silberfäden durch den Schatten der Bäume woben. Den ›kecken Jirko‹ erschreckte nichts. Keine aufgescheuchte Ente, kein röhrender Hirsch und keine Schatten, die sich im Nebel der Wiesen hervorhoben.
So geschah eines Tages etwas, das Jirkos Leben fortan sehr beeinflussen sollte. Jirko stakte wieder einmal seinen Kahn in die verwachsenen Ecken, als er in der Ferne ein Mädchen singen hörte. Neugierig geworden, näherte er sich ganz leise und entdeckte recht bald, dass dieses Mädchen wunderschön war. Ein weißes Leinenkleid, dessen Saum recht nass war, ihre langen dunklen Haare und die Stimme verzauberten Jirko so, dass er innehalten musste.
Das Mädchen war umgeben von Leinentüchern, die zum Bleichen im Grase lagen. Es selbst saß am Spinnrad und spann einen Faden, so fein, dass man ihn kaum sehen konnte. Jirko war wie gebannt und entdeckte, dass die Unbekannte rote Strümpfe trug.
Als er von seinem Tagtraum erwachte, schrak er zusammen und stakte schnell nach Haus. Den ›kecken Jirko‹ hatte es ganz schön erwischt, denn das schöne Mädchen ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Am nächsten Tag regnete es in Strömen. Aber das störte die Mädchen und Burschen nicht, war doch im Dorfkrug Tanz angesagt. Auch Jirko war dabei, wollte er schließlich und endlich eine Frau finden.
Heute fiel ihm das Tanzen aber schwer, denn er vergaß das schöne Mädchen mit dem weißen Kleid und den roten Strümpfen nicht. Es geisterte in seinem Kopf herum, sodass ihm gar nicht gleich auffiel, dass eine Fremde den Dorfkrug betreten hatte.
Erst als die Musik zum Tanz aufspielte und sich alle anderen Burschen um das Mädchen drängten, entdeckte er im Gewirr das weiße Kleid, die schönen langen Haare und – er glaubte seinen Augen nicht zu trauen – die roten Strümpfe. Das war seine Traumfrau!
Noch ehe er an sie herankam, war sie wieder aus dem Dorfkrug verschwunden. Eine Wasserspur blieb auf dem Tanzboden zurück. Die Dorfältesten erstarrten und flüsterten hinter der vorgehaltenen Hand: »Das war die Wasserfrau, sie bringt uns noch mehr Regen!« Recht bald hatte die Jugend den Zwischenfall vergessen, aber Jirko schaute noch immer voller Sehnsucht zur Tür.
Am nächsten Tag versuchte er erneut sein Glück und stakte zu der bekannten Stelle. Er hörte die Schöne schon von Weitem singen, sah bereits ihre roten Strümpfe leuchten und wie sie sich ihr langes Haar kämmte. Jirko war wieder wie verzaubert. Kam er jedoch näher, war sie verschwunden. Es glitzerten nur noch einzelne Fäden wie Gold in der Sonne. Bevor diese nicht untergegangen war, fuhr Jirko nicht nach Hause. Dort schloss er sich ein und träumte.
So vergingen die Tage und die Jahre. Aus dem ›kecken Jirko‹ wurde ein alter, einsamer Mann. Keiner nahm ihn mehr wahr, denn tagsüber fuhr er zu ›seinem Mädchen‹ und nachts lag er im Bett und träumte von ihr.
Die Alten ahnten, was mit Jirko passiert war. Schon Jahrzehnte, ja Jahrhunderte erzählte man sich besonders geheimnisvoll die Geschichte von der Wasserfrau, wenn es wieder einmal heftig regnete.
Der ›kecke Jirko‹ war ihr wohl begegnet, der ›schönen Wodarka‹. Sie be- und verzauberte Menschen so sehr mit ihrer Schönheit, dass diese leider ihre Mitmenschen vergaßen und sehr, sehr einsam wurden.
Jirko war eines Tages verschwunden, aber zum Erstaunen der Dorfbewohner hingen ein paar rote Strümpfe an seinem Haus. Im Spreewald setzte eine Dürrezeit ein und ließ die Bewohner sehnsüchtig auf Regen warten …