Читать книгу Top Angebot - Schnell zugreifen - Marlin Schenk - Страница 3

1. Kapitel

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Die Menschen haben seit jeher alles versucht, um an etwas Süßes heranzukommen. Selbst Unannehmlichkeiten, die mit der Mühe in unmittelbarem Zusammenhang stehen, hat man dafür gerne akzeptiert. Schon die Steinzeitmenschen vor fünftausend Jahren zum Beispiel schätzten den süßen Bienenhonig so sehr, dass sie sich bei der Ernte das gelichtete Fell zerstechen ließen. Damit nicht genug, denn da sie das Rad noch nicht kannten und folglich auch nicht wussten, dass etwas rund sein oder gar im Kreis bewegt werden kann, verzichteten sie aufs Schleudern und lutschten den Blütensaft mitsamt der Wabe auf.

Tausende Jahre später, genauer gesagt: Mitte des 19. Jahrhunderts, war es zwar einfacher, Zuckerware zu ergattern, aber nicht ungefährlicher. Max und Moritz Busch, zwei Spitzbuben aus dem Harz, riskierten gar ihr Leben, um dem Zuckerbäcker des Dorfes ein paar Brezel abzuluchsen. Doch da die beiden große Hitze gut vertragen konnten, entkamen sie dem Backofen des Meisters, ein wenig verkrustet, aber heil.

Nun schreiben wir das Jahr 1991 und das Thema „Zuckerware“ ist immer noch ein Problem, zumindest für unsere Freundin Veronika Kleinschmidt, von deren andauerndem Pech die nächsten Zeilen berichten, hatte sie es doch niemals leicht, wenn sie sich etwas Süßes für ihren Gaumen besorgen wollte. Zwar trachtete ihr niemand nach dem Leben, wenn sie bei Bäcker Boltersdorf ihre Kaffeestückchen erstehen wollte, aber kurz vor dem Herzkasper war sie dann fast garantiert und fast immer.

Diesmal war es drei Uhr nachmittags, als sie sich durch die Mehlgasse der Domstadt Limburg schleppte. Ihr Ziel war, wie so oft, die Bäckerei Boltersdorf, deren Aushängeschild mit der geschmiedeten Brezel majestätisch in die Straße hineinragte. ‘Brot- und Feinbackwaren’ stand darunter geschrieben, und Frau Kleinschmidt wollte sich ihren Teil davon abholen, weil sie für fünf Uhr ein paar Freundinnen zum Kaffee erwartete (zum Gräuel ihres Mannes Herbert, der sich mit drei Zigarren und einer Flasche Wein in seine Werkstatt zurückziehen würde).

Als Veronika sich dem Schaufenster näherte und - schon in der Sekunde, in der sie es erreichte - erwartungsvoll hineinschaute, konnte sie nur zwei Apfelmustaschen auf den Blechen ausmachen, die von zahlreichen Wespen angeflogen wurden wie ein Landeplatz von Hubschraubern. Frau Kleinschmidt zog die Augenbrauen hoch und trat in den kleinen Laden ein, wo Lotte Boltersdorf damit beschäftigt war, frische Abendbrötchen in die Kästen zu schütten.

„Guten Tag“, sagte Veronika in das Klimpern der Türglöckchen hinein.

Lotte drehte sich um. „Ach, guten Tag Frau Kleinschmidt. Kann ich Ihnen helfen?“

„Machen Sie nur weiter. Ich hab’ Zeit.“

Lotte raffte die letzten Brötchen aus dem Weidenkorb. „Haben Sie einen Spaziergang gemacht?“ fragte sie.

„Das habe ich. Und nun bin ich auf dem Heimweg und will mir noch ein paar Kleinigkeiten mitnehmen.“

„Schön“, sagte Lotte. Sie nahm den leeren Weidenkorb, stellte ihn in die angrenzende Küche und zog die Schiebetür wieder zu. Sie deutete nach draußen. „Haben wir nicht einen fantastischen Spätsommer dieses Jahr? Es ist noch richtig warm.“

„Ja“, sagte Veronika gedehnt. „Tadelloses Flugwetter.“

„Flugwetter?“ Lotte schaute Frau Kleinschmidt fragend an, und diese deutete ins Schaufenster. „Ach, Sie meinen die Wespen. Grausige Biester. Ich kann sie nicht ausstehen. Erst gestern habe ich -zig davon mit dem Staubsauger von den Kaffeestückchen entfernt. Und nun schauen Sie sich das an. Wieder alles voll. Was soll ich denn da noch machen?“

„Das ist ja wirklich unappetitlich“, sagte Veronika. „Aber gottlob haben Sie ja die meisten Sachen im Haus, wo keine Wespen drankommen, nicht wahr?“ Es musste eine rein rhetorische Frage sein, denn die Vergangenheit hatte gezeigt, dass es meistens anders war, worin sich der Grund für Veronikas Anfälle wiederspiegelte, die hin und wieder bei solchen Gelegenheiten auftraten. Sie glaubte selbst nicht daran, dass es außer diesen beiden, von Wespen angenagten Exemplaren noch irgendwo Kaffeestückchen gab, aber sie hatte die Hoffnung, dass es nur dieses eine Mal anders sein würde. Diese Hoffnung wurde mit einem einzigen Wörtchen zerstört.

„Nein“, sagte Lotte.

„Nein? Wieso!“

„Was da liegt, sind die beiden letzten, Frau Kleinschmidt.“

„Aber ich wollte doch zehn Teilchen haben, (so wie jeden verflixten dritten Freitag im Monat, wenn meine Freundinnen kommen).“

„Tut mir leid. Morgen wieder.“

„Machen Sie Witze?“

Lotte stützte ihre Fäuste in die Seiten. „Liebe Frau Kleinschmidt, wenn ich sage, dass wir keine Teilchen mehr haben, dann meine ich das auch so, hm?“

„Aber heute kommen doch meine Freundinnen zum Kaffee. Das wissen Sie ganz genau.“

Lotte hob gelassen die Schultern. „Auch diese Tatsache vermehrt diese beiden Stücke nicht. Am sichersten wäre es gewesen, wenn Sie vorbestellt hätten. Wir sind ein kleiner Laden, und was wir unseren Kunden anbieten, wird täglich frisch gebacken. Aber kalkulieren Sie mal die Lust der Menschen auf Kaffeestückchen richtig. Es gibt Tage, da bleiben zwanzig oder gar dreißig übrig, und dann wieder sind es zehn zu wenig. Hätten wir täglich einen Umsatz von, sagen wir, einhundert Teilchen, dann wäre die Sache einfach. Aber so ist es nun mal nicht.“

Frau Kleinschmidt bekam einen weinerlichen Gesichtsausdruck. Stress dieser Art konzentrierte sich bei ihr immer auf die Tränensäcke. Eine unbekannte Kraft beschwerte dann ihre Mundwinkel, zerrte an den Backen und brachte die Lippen in Schwingung. In diesem Zustand war sie kaum zu verstehen, wenn sie mit viel Rotz und Sabber ihren Standardsatz hervorzubringen versuchte. „Mein Gott, dann muss ich ja tatsächlich nochmal in die Stadt zurückgehen. In meinem Alter. Sie wissen, dass ich Arthrose im Hüftgelenk habe. Und dann dieses Kopfsteinpflaster auf dem Kornmarkt. Da macht man schon was mit.“

*

Limburg, Einstein-Gymnasium. In dem pompösen Bruchsteingebäude aus dem vorigen Jahrhundert füllten zwölf noch mit Schulbänken aus den Sechzigern ausgestattete Klassenräume die Außenmauern. Die meisten dieser Bänke waren leer, nur zwei waren noch besetzt, und an der Tafel wanderte ein Pädagoge mit hinter dem Rücken verkrampften Händen auf und ab. Sein Blick sprang zwischen den beiden Schülern und der Kirchturmuhr hin und her, die er durch eines der Fenster klar ausmachen konnte. Zum wiederholten Male schlurfte Lehrer Colombel nun zum Fenster, stützte die Fäuste auf der Fensterbank ab und murmelte kopfschüttelnd: „Was für ein Wetter!“ Es war ihm deutlich anzusehen: Bei blauem Himmel und Sonne satt in der Klasse verweilen zu müssen, das ging ihm gehörig auf die Ketten. Offenbar war ihm aber der pädagogische Wert des Nachsitzens wichtiger als seine Freizeit, gerade weil es sich bei diesen beiden Knaben um „Ausstellungsstücke heutiger antiautoritärer Erziehung handelte“, wie er sich auszudrücken pflegte. Nicht nur, dass ihre Leistungen zu wünschen übrig ließen - Karsten Boltersdorf hatte am Morgen eine Fünf in Mathe geerntet, sein Freund Walter eine Sechs - nein, sie hatten obendrein auch noch den Kopf voller Schrumpf. Anstatt zu lernen, hatten sie es vorgezogen, die Klobrillen im Mädchenwaschhaus mit Honig einzureiben, sodass die bedauernswerten Damen, deren Augen der feuchte Glanz des Honigs im Dämmerlicht der Anlage verborgen geblieben war, nach der Pause ständig an den klebrigen Beinen rieben und so erheblich den Unterricht störten. „Dem Herrn sei Dank“, hatte Herr Colombel gesagt, „dass es noch wachsame Augen gibt.“ Denn Mitschüler Kevin Klon, Klassenbester, Schönling und Mädchenliebling, hatte von der Sache Wind bekommen und die beiden Herren breit grinsend und vor allen in der Klasse angezeigt. Dass er dafür in der nächsten Pause einer schmerzhaften Belehrung unterzogen worden war, hatte für Lehrer Colombel dann den Funken bedeutet, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Nun aber war seine Rachbegierde befriedigt. Drei Uhr, er klatschte in die Hände und rief: „Einpacken. Aber dalli. Und macht euch bloß aus meinen Augen. Raus hier, raus-raus-raus.“

Karsten packte sein Heft zusammen und steckte es in die Schultasche. „Das hätten Sie schon viel früher haben können“, sagte er.

Colombel schüttelte den Finger - kurz, krumm und knorpelig - gegen den Lausebengel, pumpte eine Antwort in seine Lunge und - winkte ab.

Die Jungen verließen die Schule. „Mach’s gut“, sagte Karsten zu Walter. „Ich muss jetzt schnell heim. Da ist bestimmt schon der Punk los, weil ich so spät bin. Und dann die Fünf in Mathe - o je. Mein Alter flippt bestimmt aus. Da hilft sicher nur die Flucht nach vorne.“

„Was soll ich denn da sagen, mit einer Sechs“, stöhnte Walter. „Aber wie heißt es doch? Was uns nicht tötet, macht uns nur noch härter.“

Karsten hob die Hand zum Gruß. „Also dann, bis später.“ Er schulterte den Ranzen und rannte los.


*

„Und womit soll ich jetzt meine Freundinnen verköstigen?“ flubberte Veronika mit immer noch extrem zittrigen Lippen. „Können Sie mir das mal sagen?“

Doch bevor Lotte eine Antwort formulieren konnte, die sowieso nie und nimmer befriedigend ausgefallen wäre, flog die Tür auf, so dass es die kleinen Glöckchen fast aus der Halterung riss. Herein kam Karsten. Er hatte den Schulranzen auf dem Rücken und ein Heft in der Hand, mit dem er freudestrahlend wedelte. Flucht nach vorne! „Wir haben die Mathearbeit zurückbekommen“, rief er. „Ich hab’ ‘ne Fünf gekriegt.“

Lotte stieg die Farbe der Peinlichkeit ins Gesicht. Sie betrachtete Frau Kleinschmidt, die lächelnd zur Decke blickte, als habe sie nichts gehört. „Karsten!!! Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Eine Fünf? Und darüber bist du so glücklich?“

„Ja, weil Walter eine Sechs hat.“

„Mach dich in die Küche. Ich komme gleich nach“, schimpfte Lotte. „Wo kommst du überhaupt jetzt erst her? Es ist schon nach drei.“

„Nachsitzen!“ Er wollte in der Wohnung verschwinden.

Lotte mochte wohl über das spektakuläre Auftreten ihres Sohnes nicht sonderlich erfreut gewesen sein. Doch Veronika Kleinschmidt sah in Karsten eine Chance, ihre Wünsche erfüllt zu bekommen. „Warte mal, Karsten“, rief sie ihm nach.

Der Junge ließ seinen Ranzen in die Küche fallen und kam zurück. „Ja bitte?“

Frau Kleinschmidt lächelte freundlich. Dieser Lausbub, einer von der Sorte, die den Kleinschmidts einen sandgefüllten Fußball vor die Haustür gelegt hatten, woran sich Herbert den rechten Fuß verknackste - vielleicht war es sogar dieser Läuselümmel gewesen - er war nun die letzte Rettung. Veronika überwand im Bruchteil einer Sekunde jede Abneigung gegen ihn und sagte: „Tust du mir einen Gefallen?“

„Klar.“

Sie legte ihre Fingerspitzen gegeneinander und fragte mit dem süßesten Blütenduft im Atem: „Könntest du für mich auf den Kornmarkt gehen und ein paar Kaffeestückchen holen?“

„Ähhh...“

„Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst.“ Lotte stemmte erneut die Fäuste in die Seiten. „Mein Junge soll für Sie bei der Konkurrenz einkaufen gehen? Frau Kleinschmidt!“

Veronika sah sich Lottes Entgeisterung völlig unbeeindruckt gegenüber. Warum regte sie sich so auf, denn damit wären sie doch alle aus dem Schneider. Eins war doch klar, und daran gab es nichts zu rütteln: „Ich brauche zehn Teilchen. Und das bis fünf Uhr. Mit meinen alten Knochen schaffe ich es nicht mehr bis auf den Kornmarkt.“ Wieder schaute sie Karsten an. „Du bekommst auch zwei Mark.“

Karsten tippte sich an die Stirn und grinste frech. „Dafür krieg ich ja nicht mal ‘ne Schachtel Kippen.“

Das freche, überhebliche, herausfordernde Grinsen in Verbindung mit einer beleidigenden Geste bestätigte, was Veronika schon lange wusste: Dieser Knabe war ein Drecksack. Nun hatte sie die Gewissheit. Und er hatte bestimmt auch den steinharten Ball auf die Treppe gelegt, den Herbert nach einem Sturmklingeln in der Nacht wutentbrannt weggekickt hatte. Ganz sicher. Die Abneigung war rechtens. So!

„Ach, dieser Junge“, jammerte Lotte, was soll man denn dazu noch sagen? Verschwinde, Karsten, und mach deine Aufgaben.“


*


In Limburg gab es eine reiche Anzahl von Bands, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlugen. Eine davon waren die ‘Black Hangmen’, deren heimlicher Chef das Multitalent Jockel war. Gerade brachen sich die letzten kreischenden Töne eines alten Stones-Hits an den Wänden der Rockkatakombe, einer stillgelegten und zu Proberäumen für Rockbands umgebauten Fabrikhalle.

Jockel legte seine Stöcke beiseite. Er stand auf, zupfte seine Lederkleidung zurecht und schüttelte die rabenschwarze Mähne, die ihm weit über die Schulterblätter hinab fiel. Dann streckte er sich. „Klappt prima!“ Seine Worte blieben ungehört, weil Manfred die Gitarre aufjaulen ließ, an den Knöpfen drehte und eine oder zwei Saiten nachspannte.

Dann klopfte es am Fenster. Draußen stand ein junges Mädchen, eine liebliche Erscheinung, eine Pupillenerweiterung. Sie lächelte süß, als Jockel sich umdrehte und das Fenster öffnete. „Hallo, Schatz“, sagte sie. „Probe beendet?“

„Klar, eh“, antwortete Jockel. „Hast du was Bestimmtes vor?“

„Weißt du es denn nicht mehr?“ fragte Annette. „Du hast es mir versprochen.“

Jockel setzte sich einen Klatscher vor die Stirn. „Ein Kleid, richtig? Ich wollte dir eines schenken. Sollen wir shoppen gehen? Jetzt gleich?“

Annette schüttelte den Kopf, dass die langen, blonden Locken flogen. „Nein-nein. Aber heute Morgen sind neue Kataloge gekommen. Da sind ganz tolle Sachen drin. Die könnten wir doch zusammen durchblättern, oder?“

Jockel nickte lächelnd. „Komme sofort. Er schloss das Fenster und verabschiedete sich von seinen Jungs.


*


„Wir haben frisches Brot, Frau Kleinschmidt“, sagte Lotte. „Und die Abendbrötchen sind noch warm. Was meinen Sie, wie gut ein frisches Brot mit Butter und Marmelade schmeckt. Das wäre doch mal was anderes, oder?“

Frau Kleinschmidt schüttelte den Kopf. Ihre vorgeschobene Unterlippe zeigte, dass es sich um reinen Trotz handelte, und außerdem ging es ja auch ums Prinzip. „Wir essen immer Teilchen zum Kaffee, Frau Boltersdorf.“ „Oder Schmalzbrot. Wie wär’s mit Schmalzbrot.“ „Teilchen.“ „Käsebrötchen?“ Wollte diese Boltersdorf es nicht raffen, oder konnte sie es nicht? Verdammt nochmal: „Teil - chen!“ Lotte holte tief Luft. „Das wäre wirklich kein Problem, wenn wir eine Großbäckerei wären. Rainer würde so gerne ein Café in der Altstadt eröffnen. Seit Jahren sucht er nach einem geeigneten Objekt, aber glauben Sie, wir würden etwas finden? Es ist wie verhext.“ Veronika verschränkte die Arme vor der Brust und schaute erhobenen Kopfes schräg zur Seite. „Was geht mich ihr nicht existentes Café an, Frau Boltersdorf? Und was würde es ändern, wenn es doch bestünde?“ Lotte nahm nun die Fäuste von den Hüften und hob erklärend die Hände. „Wir würden mehr Auswahl haben als hier in dem kleinen Provinzladen.“ Frau Kleinschmidt tippte mit dem Zeigefinger gegen den Daumen. „Erstens, haben Sie kein Café, und zweitens keine Kaffeestückchen. Und nach dieser Armut, die ich heute hier antreffe, werde ich mir gut überlegen, ob ich nicht den Bäcker wechsle. Das nächste Mal bringe ich mir meine Teilchen gleich aus der Stadt mit (so, wie ich es dritten Freitag androhe). Dann bin ich wenigstens sicher, etwas auf dem Tisch zu haben, wenn meine Freundinnen kommen.“ Diese widerliche Ignoranz zwirbelte Lottes Puls hoch. Sicherlich schütteten die Nebennieren auch eine Festtagsportion Adrenalin aus, weshalb sie nach Erleichterung suchte. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag.“ „Ach was, echt?“ Lottes Fäuste krampften sich in die Schürze. „Ja. Verlegen Sie ihre Kaffeekränzchen doch einfach auf einen Tag, an dem wir Teilchen übrig haben.“ Veronika machte kehrt und riss die Tür auf. Das Geschepper der Glöckchen stand dem von Karstens Auftritt in nichts nach. „Unverschämtheit. Auf Wiedersehen.“ In diesem Moment kam Bäcker Rainer Boltersdorf in den Laden. „Gibt es Probleme, Frau Kleinschmidt?“ Sie schmollte. „Nein, jetzt nicht mehr.“ „Wieso? Haben Sie eine Quelle gefunden, aus der bis fünf Uhr ein paar Kaffeestückchen sprudeln?“ Die Kundin drehte sich auf dem Absatz um. „Sie haben alles mit angehört, was?“ Rainer nickte. „Richtig. Sie hätten gerne zehn Teilchen. Ich will sie Ihnen geben.“ Lotte fiel die Klappe runter, sodass ihr Mann hätte drauftreten können und Veronika schaute verunsichert Rainer an. Rainer lauerte. „Das ist ein Top-Angebot. Sie sollten schnell zugreifen. Also?“ „Hmmm“, machte Veronika. „Und wo kommen die so schnell her? Ich dachte, Sie haben keine.“ „Ich hab’ welche. Frisch gebacken. Noch heiß. Na, wie klingt das?“ „Tja, Herr Boltersdorf, wenn Sie mich fragen...“ „Zwölf Mark, Frau Kleinschmidt, für zehn heiße Kaffeestückchen.“ „Einpacken“, antwortete Veronika. „Ich bin ja wohl von Ihnen abhängig. Rainer ging in die Backstube zurück, öffnete den Ofen und holte ein gemischtes Sortiment von zehn Teilchen heraus. Behutsam schob er sie in eine Tüte mit der Aufschrift ‘Aus 100% Altpapier, dafür garantiert Ihr Bäcker Rainer Boltersdorf’. Dann ging er wieder nach draußen und überreichte die duftende Ware seiner Kundin. Lotte hielt die Hand auf und wackelte mit den Fingern. „Zwölf Mark“, sagte sie knapp. Den Zusatz ‚Aber dalli‘ verkniff sie sich, auch wenn er ihr auf der Zunge brannte. „Wirklich sehr mysteriös“, murmelte Veronika, hob die Schultern, bezahlte und ging. „Wo kommen die denn so plötzlich her?“ flüsterte Lotte, als könne Frau Kleinschmidt sie noch hören. Rainer grinste. „Reste von gestern. Sie wollte ja unbedingt welche haben, also hab’ ich schnell ein paar aufgebacken. Der Ofen war eh noch warm.“ Lotte küsste ihren Mann. „Du bist ein raffiniertes Ekel.“ „Mit einem Altstadtcafé würde uns das nicht passieren“, sagte Rainer. „Oh Mann, wenn ich mir doch nur diesen Wunsch erfüllen könnte. Ich würde alles dafür geben.“ Lotte strich ihrem Mann zart über die Wange. „Ich weiß, mein Lieber. Aber selbst, wenn wir ein geeignetes Haus dafür fänden, wie wolltest du deine Wünsche denn finanzieren?“ Rainer hob die Schultern. „Diese Frage stellt sich uns zurzeit nicht, und ich frage mich, ob sie sich uns je stellen wird. Es wird wohl kaum jemand sein Haus in der Altstadt verkaufen. Die einzige Alternative wäre, geeignete Räumlichkeiten anzumieten. Aber auch da sieht es schlecht aus. Also vergessen wir die Frage nach der Finanzierung.“ „In Ordnung“, sagte Lotte. „Hast du jetzt noch etwas zu tun?“ „Ja, ich muss noch mal in die Backstube.“ Lotte seufzte. „Nun gut. Aber komm erst einmal mit in die Küche. Da sitzt einer, der mir Sorgen bereitet.“ Sie gingen in die Küche und setzten sich an den Tisch, wo Karsten in einem Comicheftchen blätterte. Lotte riss ihm das Heft aus der Hand. „Sag mal, bist du noch ganz dicht? Kommst einfach so holterdiepolter in den Laden, während ich mich mit Frau Kleinschmidt unterhalte und verkündest freudestrahlend, dass du in Mathematik eine Fünf geschrieben hast.“ Flatsch, die Schelle saß. Karsten rieb sich die Backe. „Ich hatte aber mit einer Sechs gerechnet“, verteidigte er sich. „Sei bloß still, Freundchen“, zischte Lotte. „Wir hätten dich nicht auf die Realschule schicken sollen. Dafür hast du eben nicht genug Grips.“ „Red so keinen Unsinn“, sagte Rainer. „Der Junge ist nicht dumm.“ „Dann ist er eben nur faul. In jedem Fall müsste man sich mehr um ihn kümmern.“ Rainer zog die Augenbrauen hoch. „Schau mich nicht an. Ich muss noch mal in die Backstube.“ Lotte holte tief Luft. „Also bleibt es wieder an mir hängen. Wo steckt eigentlich Annette? Die könnte das ja schließlich auch einmal übernehmen.“ „Die ist doch mit Jockel unterwegs“, sagte Karsten mit einer abfälligen Handbewegung. „Auf die ist doch kein Verlass.“ „Spar dir deine lockeren Worte und nimm dein Mathematikheft raus“, zischte Lotte. Rainer baute sich bedrohlich vor seinem Sohn auf. „Und vor allem, erwähne diesen Namen nicht noch mal. Hast du verstanden?“ „Du meinst: Jockel?“ fragte Karsten. Und dann bekam er erschöpfend Auskunft. Rainers Hand flutschte ihm ins Genick, was unmissverständlich klar machte, dass er sich mit seiner Ahnung, es könnte sich um den Namen ‘Jockel’ handeln, auf dem richtigen Weg befand. Karsten rieb sich die brennende Stelle und sagte: „Okay, okay. Aber was hast du eigentlich gegen - ich meine -“ „Verschone mich mit diesen verdammten Amerikanismen“, schimpfte Rainer nun. „Wir haben genug schöne Ausdrücke in unserer deutschen Sprache. Da muss man sich nicht dieses ausländischen Wirrwarrs bedienen. Anstatt ‘okay’ kann man zum Beispiel ‘in Ordnung’ sagen. Außerdem: welcher vernünftige Mensch redet schon in Abkürzungen, es sei denn, er ist faul? Was heißt schon ‘okay’? Sagen wir in Deutschland vielleicht iO, wenn alles in Ordnung ist?“ „Oh Mann, seid ihr heute beschissen drauf“, stellte Karsten fest. „Das geht mal wieder alles auf – sein – Konto, nicht wahr? Den hast du doch gefressen.“ „So ist es.“ Rainer schlug sich die Hand vor die Stirn. „Einen, der solch einen Zimt redet, kann man doch nicht ganz ernst nehmen.“ „Jetzt reicht es aber“, fuhr Lotte auf. „Wir machen jetzt Mathematik, und du verschwindest in der Backstube.“ Sie drehte sich Karsten zu. „So. Schlag dein Heft auf. Wird’s bald?“ Der Junge gehorchte. Er öffnete ein Heft, das mit Butter- und Kakaoflecken ausgeschmückt war. Irgendein Künstler hatte außerdem versucht, die Flecken mit Kugelschreiber zu verschönern. „Allmächtiger Heiland“, stöhnte Lotte, „das ist doch wohl nicht dein Schulheft?“ „Doch. Aber das hat Walter getan“, versicherte Karsten. „Egal, wer das war. Mit diesem Heft kannst du nicht mehr vor den Lehrer treten. Jetzt nimmst du ein neues heraus und führst die letzte Aufgabe zu Ende. Wollen doch mal sehen, ob wir dich nicht auf Vordermann bringen.“ Karsten ging an den Küchenschrank, in dessen breiter Schublade allerhand Kleinkram residierte. Er wühlte sich durch Unmengen von Kugelschreibern, Streichholzschachteln Schmierblöcken, Batterien, Büroklammern, Bleistiftspitzern und Radiergummis hindurch, bis er in diesem Chaos ein neues Heft gefunden hatte. Er nahm es heraus und setzte sich damit wieder an den Tisch. „So“, sagte Lotte kampflustig, „nun zeig mir mal, was ihr zuletzt gemacht habt.“ Karsten blätterte das verunstaltete Heft durch, so dass Lotte die Hände über dem Kopf zusammenschlug, bis er eine Seite mit wüster Schmiererei fand, bei der selbst der gebildete Lehrer Colombel nicht mehr durchgeblickt hätte. „Karsten“, entfuhr es Lotte. „Ja, ja, ich weiß.“ „Also ein bisschen mehr Ordnung musst du dir schon angewöhnen. Dieses Geschmier - also wirklich, Karsten. So geht es nicht. Und nun zeigst du mir, woran du zuletzt gearbeitet hast.“ „Hier“, sagte Karsten und deutete auf ein Gewirr von Linien und Buchstaben.“ „Was ist denn das?“ „Das Pascal’sche Dreieck.“ „Aha. Und was macht man damit?“ „Das Pascal’sche Dreieck findet Verwendung zur Lösung mathematischer Klammerausdrücke mit einer Hochzahl, zum Beispiel (a+b)².“ So ein Besserwisser! Lottes Miene verfinsterte sich. „Das hast du ja fein auswendig gelernt.“ Und während sie über der Thematik grübelte, bimmelten die Glöckchen an der Ladentür. Lotte ignorierte sie. Schließlich war Rainer in der Backstube und wusste, dass sie sich um Karsten kümmerte. Er würde den Kunden bedienen können.


*


In der Backstube war es mollig warm. Wenn auch der Ofen im Abkühlen begriffen war, so heizte doch die Septembersonne noch kräftig ein. Rainer schwitzte und fuhr sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn. Er hätte sich auch gerne die Nase geputzt, aber er hatte die Hände voller Teig und Mehl, so dass er den Rotz mit Hochziehen auf einer bestimmten Ebene hielt.

Von je her hatten die Boltersdorfs ihre häusliche Gemeinschaft mit Arbeitsteilung im Griff gehabt. Da Rainer der Bäcker war, brauche ich nicht besonders hervorzuheben, dass er für die Kreation, das Herrichten und Fertigstellen der Backware zuständig war. Diese dann gegen harte D-Mark über den Ladentisch zu bringen, war Lottes Aufgabe. Annette und Karsten hatten sowohl hier, als auch da auszuhelfen. Wenn Lotte auch außerdem den Haushalt führte - pingelig bis unter die Fußleiste - so sah man sie dennoch oft genug in der Backstube, wo sie mitunter Brötchenteig rollte oder Bleche sauber kratzte. Andererseits sah Rainer seine Pflichten mit der Backstube erfüllt, weshalb er sich höchst selten und nur, wenn nicht anders machbar, in den Laden bemühte. Also ignorierte er das helle Bimmeln, denn erstens war Lotte in der Küche. Sie würde den Kunden bedienen können. Und zweitens war Rainer mitten in den Vorbereitungen für den nächsten Tag, seine Hände waren voller Mehl und die Nase lief.

Etwa eine halbe Minute nach dem ersten Läuten, bimmelten die Glöckchen wieder. „Lotte“, rief Rainer.

Lotte gab keine Antwort und musste wohl im Laden sein.

Wieder rappelten die Glöckchen, nun wilder als zuvor.

Rainer schüttelte den Kopf. „Ein Betrieb ist das, so kurz vor Ladenschluss.“

Die Glöckchen gaben keine Ruhe.

Entweder war der Laden nun berstend voll, oder Lotte war nicht im Laden, weshalb jemand auf sich aufmerksam machen wollte. „Lotte!“

Diesmal hatte sie ihn gehört. „Geh doch mal in den Laden, herrje“, dröhnte es aus der Küche. „Ich hab’ jetzt keine Zeit.“

„Das darf doch wohl nicht wahr sein“, schimpfte Rainer und stürzte mit mehlbestäubten Händen in den Laden. Nicht vier Personen befanden sich hier, sondern nur eine. Es war Oberstudienrat Brahm, ausgerechnet Oberstudienrat Brahm. Er war ein pensionierter Lehrer vom alten Schlag, kleinlich und korrekt, grummelig und giftig. Bei ihm hatte Rainer sein letztes Schuljahr abgesessen - was Brahm ihm bis heute noch nicht verzeihen konnte - und bei ihm hatte Karsten sein erstes Jahr absolviert. ‘Genauso frech und verdorben wie sein Vater’, hatte Brahm damals befunden, ‘und Gott sei Dank werde ich nun pensioniert, damit mir Menschen dieser Gattung in Zukunft erspart bleiben.’ Offenbar konnte Dr. Brahm jedoch nicht vollkommen von Rainer lassen, denn seit er im Ruhestand lebte, bemühte er sich dreimal die Woche in Boltersdorfs Laden, obwohl eine andere Bäckerei wesentlich günstiger lag. Und da die Qualität des nahen Bäckers durchaus mit Rainers Backwaren zu vergleichen war, gab es nur eine einzige Erklärung für Dr. Brahms regelmäßigen Ausflug zu den Boltersdorfs: Er übte Rache für vergangene Schändlichkeiten an seiner Person als Oberstudienrat. Einen Schulverweis hatte er damals nicht gegen Boltersdorf durchsetzen können, aber jetzt... „Der Herr Doktor Brahm“, schnurrte Rainer. „Kann ich Ihnen dienlich sein?“ „Um das herauszufinden, bin ich hier“, antwortete der Pädagoge a.D., „aber so, wie Sie sich mir präsentieren, bezweifle ich es fast.“ Wir sehen, der Herr Doktor hatte sich inzwischen auf das ‚Sie‘ verlegt. Es gab ihm die Möglichkeit, Rainer sachlich und in aller Form auf den Sack zu gehen. Er musste irgendwie einen Riecher dafür haben, wann er Rainer im Laden antreffen würde. Es klappte nicht immer, aber doch recht oft. „Eigentlich wollte ich ein paar Abendbrötchen haben. Aber wagen Sie es nicht, die Ware mit Ihren verschmutzten Händen anzufassen.“ „Entschuldigen Sie, Herr Doktor“, murmelte Rainer. Er ging in die Küche, wo er Lotte zurechtstutzte, während er sich die Hände säuberte. Dann kam er zurück in den Laden. Demonstrativ hob er die Hände und drehte sie. „Sauber genug, Herr Doktor?“ „Lassen Sie das. Packen Sie mir lieber sechs Brötchen ein. Sind die auch frisch?“ „Ich bitte Sie, Herr Doktor.“ „Und noch ein Roggenbrot, falls es von heute sein sollte.“ „Ist es, Herr Doktor.“ Rainer legte die Tüte mit Brötchen auf die Theke und nahm ein Brot aus dem Regal, als die Tür wieder aufgestoßen wurde. Rainer sah nicht, wer der Kunde war, bis er das Brot in Papier eingeschlagen hatte und sich wieder umdrehte. „Das macht dann...“ Der Preis blieb ihm im Halse stecken, als er den späten Kunden sah, der gerade abfällig von Doktor Brahm gemustert wurde. Rainer schluckte und versuchte, ein Grinsen zurechtzubiegen, konnte jedoch nicht verhindern, dass sein Gesicht die Nuancen einer Tomate annahm. „...sechsmarkzwanzig“, krächzte er schließlich. „Hallo Paps.“ Ein Kuss schlüpfte ihm auf die Wange, als Annette an ihm vorbei in die Küche hüpfte, gefolgt von - Jockel. Dr. Brahm schaute den beiden nach, sodass er vergaß, das Kleingeld aus seinem Portemonnaie herauszuzählen. „Ein schönes Paar“, krähte er. Rainer spürte die Ironie, die sich über ihn ergoss wie ein Eimer Pampe. Sie zauberte eine Gänsehaut auf seinen Nacken. „Wächst diesem Individuum auch noch was anderes als Haare?“ „Sie sind in der Tat etwas üppig“, bemerkte Rainer. „Und pechschwarz, wie seine ausgeflippte Lederkleidung. Ich sag’ Ihnen was, Herr Boltersdorf. Wenn dieses Wesen in Ihrer Backstube arbeiten würde, dann müssten Sie auf mich als Kunden verzichten. Guten Tag.“ „Sechsmarkzwanzig“, rief Rainer dem Kunden in Erinnerung. „Ja doch“, sagte der Doktor knapp und mürrisch und zählte das Geld auf den Pfennig genau ab, bevor er es auf die Theke legte und gehen wollte. „Herr Doktor Brahm?“ Brahm stoppte seinen Schritt, zögerte und drehte sich noch einmal um, bevor er die Glöckchen rappeln ließ. „Was!?“ Dieses Gesicht hatte Rainer schon damals, vor 25 Jahren in der Schule immer aufsitzen gehabt, wenn er pampig werden wollte. „Sie beurteilen einen jungen Mann nach seinem Äußeren, ohne ihn zu kennen“, sagte Rainer. „Dabei sind Sie ein studierter Mensch.“ Das war schon heftig genug. Und als er dann noch draufpflückte: „Aber Gott sei Dank sind Sie nicht mein einziger Kunde“, da wurde Brahm blass im Gesicht. Sein mobilisierte sämtliche Energiereserven, brachte den Kreislauf in Schwung und füllte seine Lunge mit einer Portion Luft, die für zwei lapidare Worte wie: „Bodenlose Frechheit!“ eigentlich zu reichlich war, so dass er den Rest in die Lautstärke investierte. Aber das war noch nicht alles. „Noch was, Herr Doktor. Jockel hat keinen Haarausfall, wie Sie sehen, was man von Ihnen nicht behaupten kann. Ich würde also lieber ihn in der Backstube beschäftigen als Sie. Bei ihm fällt kein Haar in den Teig.“ Das reichte. Brahm hatte den Kick erhalten, den er dreimal die Woche brauchte. Rainer blickte ihm nach, wie er sich mit seinem Spazierstock die Ladentreppe hinunter tastete. Er wusste selbst nicht, warum er diesen Jockel verteidigt hatte. Oder hatte er seinen Laden in Schutz genommen? Egal. Er rannte in die Küche, wo Jockel neben Karsten saß und ihm das Pascal’sche Dreieck und die Polynomdivision erklärte. Er tat es auf eine Weise, die der Junge schluckte wie Limonade. Er hat was drauf, musste Rainer sich murrend eingestehen. Dieses fellbewachsene Monstrum schaffte es tatsächlich mit Leichtigkeit, Karsten ein Stück Mathe nahezubringen, das seinem Sohn immense Schwierigkeiten bereitete. Und als Jockel sah, dass Karsten es gerafft hatte, schlug er ihm auf die Schulter. „Klasse, Boy.“ Dann drehte er sich zu Rainer und Lotte um und meinte: „Eh, Mann, er hat’s intus. Wow eh.“ Rainer musste sich mühsam ein Lob abringen. „Nicht schlecht“, brachte er heraus. „Aber würdest du mir einen Gefallen tun?“ „Keine Frage, Mann.“ „Komm in Zukunft nicht mehr durch den Laden, ja?“ Jockel grinste. „Der ist wohl nur für die Kundschaft, was?“ „So könnte man es umschreiben, Jockel. Und du bist kein Kunde. Bis heute hast du noch nicht ein einziges Brötchen bei mir gekauft, was nicht heißen soll, dass du keine verzehrt hast.“ Karsten, der zwischen Jockel und seinem Vater saß, erhob sich vom Stuhl und beendete das Streitgespräch. „Danke für die Hilfe, Jockel“, sagte er, und als er den Namen aussprach, duckte er sich unwillkürlich, weil er mit der kräftigen Hand seines Vaters rechnete. Aber sie kam nicht. Er klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Spielst du mir was auf der Gitarre vor?“ „Klar, Boy.“ Annette trat mit dem Fuß auf. „Nicht schon wieder. Jockel, wir wollten doch die Kataloge durchblättern. Das hast du mir versprochen. Ich brauche noch ein neues Kleid für den Herbst. Also komm jetzt.“ Sie fasste ihn am Pferdeschwanz und zog ihn hinter sich her. „Du bist eh zu fett für ein Kleid“, rief Karsten seiner Schwester nach. „Bin ich nicht“, rief sie zurück. „Mama, sag ihm, dass ich nicht fett bin.“ „Müsst ihr euch denn immer streiten?“ schimpfte Lotte. „Für eine, die Model werden will, bist du zu fett“, stichelte Karsten. „Tolle Figur“, sagte Jockel und hob den rechten Daumen. „Gefällt mir echt, eh.“ „Lass den kleinen Spinner“, sagte Annette. Energisch drängte sie Jockel aus der Küche. Karsten gab sich nicht geschlagen. „Zu fett für’n Model“, rief er ihr noch einmal nach. „Schluss jetzt“, bestimmte Lotte. „Räum deine Sachen weg, und dann geh meinetwegen spielen.“ „Dann geh ich zu Walter“, sagte Karsten. „Damit er dir beibringt, wie man Sechsen schreibt?“ „Wenn Papa nichts gegen Jockel hätte, würde ich Einsen schreiben“, sagte Karsten beleidigt. „Nicht so laut“, zischte Lotte. „Jockel muss es ja nicht gerade hören.“ „Papa sagt aber immer, dass man zu dem stehen muss, was man sagt.“ „Geh zu Walter“, sagte Lotte. „Aber um Sechs wird zu Abend gegessen.“

*


Nach dem Abendessen verließen Annette und Jockel das Haus. Onkel Eberhards Kneipe war das Ziel.

Um neun Uhr wurde Karsten zu Bett geschickt, und um zehn Uhr suchten Lotte und Rainer die Gemächer auf. Um halb drei in der Frühe würde der Wecker seine Pflicht tun, was Rainer wenig störte. In all den Jahren hatte er sich so an das zeitige Aufstehen gewöhnt, dass es ihn sogar sonntags spätestens um Sechs aus den Federn zog.

Als sich Lotte mit einem Kopf voller Wickler neben ihm in die Kissen kuschelte, lag er mit verschränkten Armen unter dem Kopf auf dem Rücken und starrte gegen die Decke.

„An was denkst du?“ fragte Lotte.

„An das Altstadtcafé.“

Lotte rollte die Augen. „Zu diesem Thema ist doch schon alles gesagt.“

Rainer drehte sich zu ihr um. „Aber es muss, es wird eine Möglichkeit geben.“ Lotte seufzte. „Wir haben doch sowieso kein Geld dafür.“ Sie strich ihrem Mann eine Locke aus der Stirn. „Ich würde es dir ja von Herzen gönnen, aber...“ Rainer schüttelte den Zeigefinger. „Wir könnten mehr Geld haben, wenn sich dieser langhaarige Hungerleider nicht bei uns durchfressen würde. Weißt du, wie viele Brötchen er heute Abend wieder verschlungen hat?“ Er hielt die Hand hoch und spreizte die Finger. „Fünf Stück, Lotte. Fünf. Und wie er sie belegt hat. Mit Salami und Käse. Fingerdick.“ Lotte versuchte, ihren Mann zu beruhigen. „Nun lass ihn doch. Auch wenn er ein bisschen verwildert aussieht. Er ist kein schlechter Kerl.“ Davon wollte Rainer nichts wissen. „Von ihm ist nichts zu erwarten, Lotte. Er hängt alles in eine brotlose Kunst hinein. Rockmusik! Welche deutsche Band hat damit schon so viel Erfolg, dass sie davon leben kann? Die kann ein schlechter Schreiner an den beiden Fingern seiner verstümmelten Hand abzählen.“ „Erwartest du etwa, dass er dir etwas zu seinem Café zuschießt?“ „Quatsch. Das kriegen wir auch noch alleine hin. Dazu brauchen wir diesen Dürrmagen nicht.“ Nun wollte Lotte aber wissen, wie der Herr Gatte diesen Traum finanzieren wollte. „Wir haben satten Bausparverträge“, erklärte Rainer. „Den Rest schaffen wir mit Krediten heran. Wenn der Laden läuft, können wir diese aus dem Handgelenk abbezahlen, ohne uns dabei zu übergeben. Aber was red’ ich denn da? Wir haben sowieso kein Haus dafür.“ Rainers Augen leuchteten noch einmal auf. „Hach, ein Fachwerkhaus in der Altstadt.“ „Lass uns schlafen, ja?“ „Das interessiert dich wohl nicht, was?“ „Natürlich interessiert es mich! Dass du aber auch immer gleich eingeschnappt sein musst.“ Rainer drehte seiner Frau beleidigt den Rücken zu. „Du verstehst mich nicht“, murmelte er in die Kissen hinein. Eine Hand kroch unter seine Decke und kitzelte ihn an den empfindlichsten Stellen, bis er laut lachend aus dem Bett flüchtete. „Lass das jetzt“, keuchte er. „Ich muss morgen wieder früh raus. Also schön, schlafen wir.“ Sie küssten sich und löschten das Licht. Sie hatten gerade drei Stunden geschlafen, als Rainer unruhig wurde. Irgendetwas zupfte an seinen Sinnen. Er wälzte sich im Bett hin und her, schlug die Augen auf und versuchte, sich zu orientieren. Aha! Das Telefon klingelte. Es stand auf seinem Nachttisch und summte in periodischen Abständen leise vor sich hin, bis er sich nach dem Hörer streckte und ihn aus der Gabel hebelte.

„Boltersdorf“, murmelte er verschlafen.


*


In der Altstadtkneipe ‘Zum Alten Faß’ war lebhafter Betrieb. Sie war gut besetzt, aber nicht zu voll. Ein paar moderne Schlager quakten aus den Boxen über der runden Theke, die sich in der Mitte des Raumes befand. In diesem von Gästen belagerten Ring war Eberhard Boltersdorf emsig damit beschäftigt, gepflegtes Bier in Pilsgläser abzufüllen. Die Nachfrage war so groß, dass er damit fast nicht nach kam und manche mürrisch und lautstark um Nachschub bettelten.

„Mir auch noch’n Bier, Onkel Eberhard“, rief Jockel durch Rauchschwaden dem Wirt zu. „Und für Annette’n Wasser.“

„Du sollst mich nicht immer ‘Onkel’ nennen“, warnte Eberhard. Er ließ den Zapfhahn los, griff in seine Lederschürze, nahm einen Block und einen Kugelschreiber heraus und kritzelte etwas drauf. Dann knallte er Jockel den Zettel hin und sagte: „Hier hast du’s schriftlich. Beim nächsten Mal gibt’s Hausverbot. Klar?“

Nun war Jockel doch ein wenig erschrocken, und als Eberhard sein blasses Gesicht sah, schlug er ihm lachend auf die Schulter.

Jockel entspannte sich wieder. Jetzt musste auch er lachen.

Eberhard stellte Jockel das Bier hin und kratzte ihm einen Strich auf den Deckel.

„Trink doch nicht so viel“, schimpfte Annette.

„Ist doch erst das fünfte“, sagte Eberhard.

Eberhards Frau Helga bahnte sich einen Weg zur Theke und schob ihrem Mann ein Tablett voller leerer Gläser zu. „Sechs Bier“, rief sie.

Eberhard ergriff das Tablett und zeigte es Jockel. „Weißt du, wie dieses Ding im tiefen Westerwald genannt wird?“ fragte er.

Jockel schüttelte den Kopf.

„Hintragblech“, keuchte Eberhard und schlug sich vor Spaß auf die Oberschenkel.

„He, das ist echt cool, Mann“, sagte Jockel. „Ist das nicht griffig, Annette? Hintragblech!“

Das Mädchen konnte der Pointe keinen humoristischen Wert abgewinnen. Lustlos nuckelte sie an ihrem Wasser.

„Trink doch mal was anderes, damit du in Stimmung kommst“, riet Jockel.

„Damit ich weiter zunehme? Hast ja gehört, was Karsten gesagt hat.“ Sie schmollte.

Jockel deutete mit dem Daumen auf das neben ihm sitzende Mädchen. „Sag selbst, O… äh, Eberhard. Ist Annette zu dick?“

Eberhard rieb seine Schürze, unter der sich ein ansehnliches Verdauungsorgan spannte. „Unsinn. Ich wünschte, ich hätte ihre Figur. Komm, Annette, ich spendiere dir einen Krefelder, ja?“

Zwei Wesen kämpften in ihr, bis die Lust nach einem Colabier siegte. „So werde ich nie Model“, stöhnte sie.

Jockel forderte Eberhards Rat. „Sag mal was. Mit diesen blonden Haaren, die wie Seide bis auf die Taille fallen, mit diesem Engelsgesicht und dem Liebreiz, den sie ausstrahlt, steht ihr doch eine Weltkarriere offen.“

„Natürlich“, schwor Eberhard.

„Du sollst zapfen und nicht dumm daherreden“, donnerte Helga, die auf ihre sechs Bier wartete.

„Gleich ist eh Schluss“, sagte Eberhard. „Es ist fast ein Uhr. Erst letzte Woche habe ich eine saftige Strafe wegen wiederholten Ignorierens der Sperrstunde bezahlt. Und ich will nicht, dass der Laden dichtgemacht wird. Die letzte Runde“, trommelte er. „Jeder kann noch ein Getränk bestellen, und dann ist Schluss.“

Die Menge meuterte, aber an diesem Abend blieb Eberhard stur, und eine halbe Stunde später war die Kneipe geräumt.

Eberhard war einer jener Scherzkekse, die sich einen Spaß daraus machten, anderen auf die Nerven zu gehen. In gewisser Weise konnte man ihm eine Spur Sadismus bescheinigen, denn er konnte sich köstlich amüsieren, wenn es ihm gelang, jemanden bis auf die Knochen zu erschrecken, wenn jemand einen von ihm präparierten Gegenstand anfasste, oder wenn er jemanden zur Weißglut getrieben hatte. So war es schon früher, als die Boltersdorf-Brüder noch Jungs waren, und so war es bis heute geblieben. Rainer eignete sich da hervorragend als Objekt. Er konnte sich so herrlich-leicht aufregen. Auch heute war er wieder reif, denn als Annette und Jockel gegangen waren und Helga die letzten Gläser spülte, ging Eberhard zum Telefon. „Mal sehen, ob mein Bruder schon schläft“, sagte er.

„Lass ihn doch in Frieden“, sagte Helga gedehnt und müde. „Er muss morgen früh raus.“

Helgas Worte verschallten ungehört in dem nun fast leeren Gastraum. Eberhard nahm den Hörer ab und wählte Rainers Nummer. „Seine Schuld, wenn er Bäcker ist.“ Endlos tutete der Freiton. „Mein Gott, hat der einen Schlaf. Aha. Na endlich.“

Rainers verschlafene Stimme erschien am anderen Ende der Leitung. „Boltersdorf.

„Backen Sie morgen Brötchen?“ fragte Eberhard.

Rainer war zu verschlafen, um geeignet reagieren zu können, sodass ihm nur ein laues ‘selbstverständlich’ über die Lippen kam.

„Dann backen Sie mir bitte eins mit, ja?“

Ein Rascheln vermittelte Eberhard, dass Rainer aus den Federn hochfuhr. „Eberhard, du miese asiatische Buckelwutz“, dröhnte es blechern. „Das ist nun schon das dritte Mal in diesem Monat, dass du mich mit so einem Scheiß nachts aus dem Bett klingelst. Letzten Freitag wolltest du dir eine Mistgabel leihen, davor hast du gefragt, ob ich meine Schlaftabletten genommen hätte. Gehen dir nicht bald die Ideen aus? Noch ein Anruf, und wir sind geschiedene Leute. Merk dir das.“

Der Hörer krachte auf die Gabel.

Eberhard schwitzte vor Lachen. „Ganz schön sauer, mein Bruder“, keuchte er.

„Ist ja wohl kein Wunder“, sagte Helga grinsend, auch wenn sie es zu verbergen versuchte. „Stell dir vor, das würde jemand mit dir machen.“ „Geht nicht“, sagte Eberhard schniefend. „Wir haben ja kein Telefon im Schlafzimmer.“ „Bis du ihn wieder einmal brauchst, nicht wahr? Würde mich nicht wundern, wenn er dann ‘nein’ sagen sollte.“ „Ist ja gut“, sagte Eberhard. „Bist du fertig? Dann lass uns gehen.“ „Oh ja, ich bin fertig, Herr Boltersdorf. Hättest mir ruhig ein wenig helfen können. Dass mir von der Arbeit das Kreuz und die Füße wehtun, juckt dich überhaupt nicht.“ „Komm, Liebes.“ Eberhard legte seinen Arm um Helgas Schulter. „Morgen sieht alles wieder ganz anders aus. Dann schlafen wir schön lange, holen uns bei Rainer frische Brötchen, frühstücken gut und machen dann einen Bummel durch die Altstadt, ja?“ Helga nickte, und dann verließen sie müde die Gaststube.



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