Читать книгу Top Angebot - Schnell zugreifen - Marlin Schenk - Страница 4

2. Kapitel

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Wie wohl man sich doch fühlt, wenn man gut geschlafen hat und der junge Tag ein sonniger ist. „Ha, ist das herrlich heute!“ Eberhard war allerbester Laune, als er sich am nächsten Morgen wie versprochen mit Helga durch die Menschenmengen in der Altstadt grub.

Auch Rainer hatte es mollig warm. Nicht irgendwo im Freien, wo ihm die Altweibersonne seine vollen, dunkelblonden Haare aufheizte, sondern in der Backstube, wo er gähnte und den Unmut auf seinen Bruder konzentrierte, ‘diesen verdammten Mistkerl’, der ihn nachts wachrasselte.

Rainer hatte gerade einen Korb mit frischen Brötchen und Weißbroten bestückt. Nun, da er ihn aufnehmen wollte, bückte er sich, krallte seine Fäuste um die Griffe, dass die Knöchel weiß hervortraten und gähnte erneut, dass man mit einer Luftflinte auf sein Gaumensegel hätte ballern können. Nach Eberhards nächtlicher Erkundigung hatte Rainer nicht mehr einschlafen können, weil er wieder einmal darüber nachdenken musste, wie er es diesem ‘miesen Specht’ heimzahlen könnte. Erst Minuten, bevor der Wecker rasselte - so schien es ihm zumindest - war er noch einmal weggetreten. Das Erwachen danach hatte sich als entsprechend grausig erwiesen, weshalb er nun müde und auf breiigen Beinen mit dem Korb zu seinem Kombi im Hof schlurfte, ihn in den Kofferraum stellte und wieder zurück schlich. „Um ein Uhr nachts weckt mich dieser Lump“, brummelte er. „Mein Herr Bruder kann morgens bis zehn Uhr in der Kiste liegen, während ich in der Backstube schwitze. Und dann hat er auch noch die Unverfrorenheit, bei mir seine Brötchen zum Frühstück einzukaufen. Aber das zahle ich dir heim, Eberhard. Glaub ja nicht, dass du dir diesen Spaß noch öfter erlauben kannst.“

Auch Lotte hatte das Telefon gehört, war aber danach gleich wieder eingeschlafen. Dennoch litt sie an diesem Morgen unter stresslichen Hormonschüben, verursacht durch einige Kunden und deren Wünsche. Die Ausschüttungen ließen sie nun vom Laden in die Backstube stürzen, die eigenen Beine als Stolperknüppel in der Quere. „Haben wir noch Weißbrote?“ fragte sie, als sie in die Mehlküche gefallen kam.

Rainer gähnte wieder und schüttelte sich, dass die Backen wackelten. „Nein.“

Lotte hob hilflos die Hände. „Die Leute kaufen heute wie verrückt Weißbrot. Können wir noch welches backen?“

Rainer drückte sich hoch und stemmte eine Hand ins Kreuz, wobei er schmerzhaft das Gesicht verzog. Er blies hörbar aus. „Nutzt wohl jeder noch mal das warme Wetter für eine letzte Grillparty“, stöhnte er. „Aber wie soll ich denn jetzt noch einmal Weißbrot backen? Dann werde ich ja mit den Auslieferungen nicht fertig.“ Er ging vorsichtig in die Knie, hob den Korb und zeigte ihn Lotte.

„Da sind ja noch Weißbrote“, rief sie.

„Alles vorbestellt.“ Rainer drehte sich um, ging nach draußen und ließ Lotte mit ihrem Problem allein.

„Aber es fehlen mindestens zwanzig Brote“, rief Lotte ihm nach.

„Warum bestellen diese Menschen dann das Brot nicht vor?“ brüllte er vom Hof aus und hoffte, dass alle im Laden es hören würden. „Wir haben schon seit Tagen schönes Wetter.“ Er schob den Korb in den Kombi und ging wieder zurück in die Backstube. „Ich kann doch nicht ahnen, dass heute jeder ein Weißbrot will“, sagte er, nun ein wenig leiser. „Wir hatten heute die gleiche Menge wie letzten Samstag. Da waren neun Brote übriggeblieben. Daraus haben wir Paniermehl gemacht.“

„Herrje!“ Lotte knallte die Tür zu und ging wieder in den Laden, wo sie die Kundschaft schonend darauf vorbereitete, dass es heute keine Französischen Weißbrote mehr geben würde.

Rainer hob gelassen die Schultern. Dann nahm er den letzten Korb und trug ihn zum Wagen. Er startete seine Samstagstour, um Menschen, die etwas außerhalb der Stadt wohnten, mit Brot und Kuchen fürs Wochenende zu beliefern.

Als er von der Auslieferungsfahrt zurückkam, saßen bereits alle am Mittagstisch und warteten auf ihn. Rainer setzte sich hinzu. „Eins, zwei, drei, vier Teller“, zählte er. „Isst Jockel heute nicht mit uns?“

Annette reagierte nicht.

Lotte warf ihm einen bösen Blick zu und begann, die Speisen auf die Teller zu verteilen.

Annette bekam einen Klumpen Kartoffelkuchen mit Speck hingeflatscht. Bei der zweiten Schippe hielt sie die Hände drüber. „Mir nicht so viel.“

Karsten freute sich über das wohlgemeinte Stichwort, das der Vater ihm bezüglich Jockel gegeben hatte. Mit einem hinweisenden Blick auf Annettes Teller meinte er: „Dabei könnten wir ihn locker durchfüttern.“

„Ach ja?“ sagte Rainer.

Karsten nickte heftig. „Ja. Annette isst ja nicht mehr so viel, weil sie sonst zu fett wird.“

Annette fixierte Karsten, der ihr gegenübersaß, mit verfinstertem Blick. „Halts Maul, du frecher Zwerg.“

„Wenn ich ein Zwerg bin, dann bist du...“

„Sag’s nicht, Brüderchen, sonst lernst du meine Handschrift kennen.“

„Wollt ihr euch wohl vertragen?“ schob Lotte dazwischen.

Sie gehorchten und Annette widmete sich wieder ihrem spartanisch gefüllten Teller.

Karsten schob eine Ladung ein, kaute, bückte sich dann und schaute unter dem Tisch hindurch auf seine Schwester, die ihm genau gegenüber saß.

„Was treibst du denn da unten?“ fragte Rainer.

Karsten kam wieder hoch. „Von da unten kann man es genau erkennen.“

„Was denn?“ fragte Rainer.

„Annettes Wampe. Wenn sie sitzt, drückt sich die Schwarte über den Gürtel.“

Annette warf die Gabel hin. „Das muss ich mir nicht gefallen lassen“, schrie sie.

„Nun lass sie doch auch in Ruhe“, wetterte Lotte.

„Ich bin ja sowieso gleich fertig“, sagte Karsten. „Dann gehe ich wieder zu Walter. Darf ich?“

Lotte nickte. „Von mir aus. Und du, Annette?“

„Ich gehe mit Jockel zur Probe. Die machen echt tolle Musik.“

„Tolle Musik“, echote Rainer. „Wie heißt denn seine Band überhaupt?“

Annette stocherte auf ihrem Teller herum.

„Weißt du’s nicht, Töchterlein, oder willst du es mir nicht sagen?“

Sie schwieg.

„Gut, dann sag ich es“, warf Karsten ein.

„Halt dich da raus, Zwerg“, zischte Annette.

„Black Hangmen“, johlte Karsten. „Das heißt auf Deutsch...“

Annette ballte die Faust. „Ich hau dir eine Acht in die Zahnspange.“

„...Schwarze Henker. Aua. Sie hat mich getreten, Papi.“

Rainer ließ das Werkzeug ruhen und schaute Annette an. „So, dein Freund ist also ein schwarzer Henker? Genauso sieht er auch aus.“

Annette sprang vom Tisch auf. „Ihr seid gemein. Was hat er euch denn getan? Dir hat er in Mathe geholfen, Karsten. Ist das jetzt der Dank dafür, dass du ihm so in den Rücken fällst?“

Daran hatte Karsten nicht gedacht. Beschämt blickte er zu Boden und murmelte eine Entschuldigung. Einen kurzen Moment später sprang er auf. „Ich gehe zu Walter“, sagte er und weg war er.

Lotte hatte geschwiegen und Rainer sah es an der Zeit, das Thema zu wechseln. Er wählte ein belangloses Sachgebiet wie zum Beispiel: „Was machen wir heute Nachmittag, Liebling?“

Lotte schob ihren Teller beiseite und schaute Rainer an, antwortete aber nicht.

„Bist du muffig?“ fragte Rainer. „Ich hab doch gar nichts gesagt. Karsten hat das Thema ans Licht geholt.“

„Was dir aber offenbar ganz recht war“, sagte Annette. „Auf diese Weise konntest du wieder einmal über ihn herziehen und obendrein die Schuld jetzt an Karsten abgeben.“

Rainer schwieg eine Weile und kratzte mit der Gabel auf seinem leeren Teller herum. Irgendwann hob der den Kopf und sagte: „Sollen wir nicht mal durch die Altstadt bummeln? Samstags nachmittags ist es dort immer so gemütlich.“

Lotte nickte.

„Super“, sagte Rainer. „Dabei könnten wir vielleicht einmal - na ja - die Augen ein bisschen offenhalten. Oder?“

„Nach einem Fachwerkhaus?“

„Zum Beispiel.“

„Wenn es dir Spaß macht“, sagte Lotte.

Die Türglocken bimmelten. Lotte wollte schon aufstehen und in den Laden gehen, als die Küchentür aufging und Jockel hereinkam. „Hai“, sagte er kurz.

„Willst du etwas kaufen, oder warum kommst du durch den Laden?“ fragte Rainer lauernd.

„Hey, right, man. Das hatten wir ja ausgemacht“, sagte der junge Mann. „Na, dann spendier ich euch zum Kaffee eine Torte. Du hast doch hoffentlich noch eine übrig.“ Er griff in die Taschen seiner Lederhose und holte einen ramponierten Zwanziger heraus, den er glattstrich und auf den Tisch legte. „Enjoy it. Lasst es euch schmecken.“

„Ist ja schon gut“, sagte Rainer. „So war das nicht gemeint.“

„Ist okay, Mann. Futtert mal ‘ne gute Torte zum Kaffee. Kommst du, Annette?“

Das Mädchen erhob sich und nahm Jockel in den Arm. „Tschüss, wir gehen“, sagte sie, und dann verschwanden beide mit wehenden Haaren (durch den Laden).

Lotte betrachtete schmunzelnd ihren Mann. Er sah aus, als wolle er noch etwas sagen. Allein es blieb beim Wollen.


*


Sie stapften Arm in Arm durch die Altstadt. Die Geschäfte waren nun geschlossen (ja, so war das wirklich damals, da gab es noch so ein Ladenschlussgesetz!) und die Menschenmassen vom Vormittag hatten sich weitgehend auf die zur Verfügung stehenden Sitzgelegenheiten verteilt. Nur ein paar Touristen in knielangen Shorts, geblümten Hemden und Schirmkappen schleppten ihre Kameras durch die Altstadt.

Hier schlichen auch Lotte und Rainer ziellos umher und ließen dabei ihr Interesse ein paar Schaufenstern zukommen. Sie quälten sich den Domfelsen hinauf und kamen an einigen Gaststätten und Cafés vorbei, die mit regem Betrieb zu kämpfen hatten. Lotte sah jedes Mal ihren Mann von der Seite an. Er tat ihr leid, weil sie genau spürte, wie der Neid ihn quälte. Nicht, dass er den Besitzern das Glück nicht gönnte. Oh nein. Es war vielmehr dieses verdammte, klebrige Pech, das seine traurige Monopoly-Figur auf dem billigen Platz der Badstraße fest pappte, während alle anderen die Schlossallee besaßen. Und Lotte konnte sich genau vorstellen, was Rainer gerade dachte: Jeder hat ein Anwesen in der Altstadt, nur ich nicht.

„Alles gerammelt voll“, sagte Rainer knapp. „Was hier im Sommer verdient wird, ist der helle Wahnsinn.“

Lotte antwortete nicht. Sie strich ihrem Mann nur zärtlich über den Handrücken. Schweigsam setzten sie ihren Aufstieg zum Dom fort. Von hier oben hatten sie einen wunderbaren Blick über das Lahntal. Sie gingen in den Dom hinein, wie sie es schon hundertmal getan hatten und bewunderten die Architektur des 1000 Jahre alten Limburger Wahrzeichens. Im angrenzenden Schlosshof knickten sie die Köpfe nach hinten, um an dem alten Bruchstein-Fachwerk-Gebilde nach oben zu schauen (wo es absolut nichts zu sehen gab), dann ließen sie sich über breite Stiegen und durch schmale Gassen wieder ins Stadtleben zurückfallen.

Als sie durch die Barfüßerstraße gingen und zur Stadtkirche kamen, sahen sie in Richtung Rossmarkt einen VW-Bus des Fernmeldedienstes der Post stehen.

„Sieh mal einer an“, sagte Rainer, „Die Post arbeitet sogar samstags. Ist das nicht nett? Würde mich nicht wundern, wenn da Eberhards verpennter Schwiegersohn Willi an den Kabeln herum friemeln würde. Der meldet sich doch für jede Überstunde freiwillig, weil er scharf aufs Geld ist wie ein Geier aufs Aas. Sollen wir einmal nachsehen?“ Rainer wartete Lottes Antwort erst gar nicht ab. Seine breiten Teigkneter packten sie an der Hand und zogen sie hinter sich her zu einem Aushub inmitten einer mit Kopfstein gepflasterten Straße.

„Ja, wen sieht man denn da?“ witzelte Rainer. „Der Willi arbeitet auch samstags?“

Willi schob sich seine blaue Postmütze aus dem Gesicht und schaute aus dem Loch heraus wie ein Meerschweinchen aus einem Schuhkarton. Als er Rainer und Lotte erkannte, antwortete er: „Ei joo, muss halt auch sein, gell?“

„Aber samstags?“

Willi winkte ab. „Kabelfehler. Hat so’n Depp von der Baufirma ‘n Eisestang’ rein gekloppt. Jetzt klabbe’ wie viel Anschlüss’ nett.“ Aus einem Besen von Adern suchte er sich zwei heraus, drehte sie ein Stück zusammen, entfernte gekonnt die Isolierung, verzwirbelte sie und schob eine Isolierhülse darüber.

„Das hast du aber gut drauf“, lobte Rainer, und Lotte nickte dazu.

Willi hob die Schultern. „Och joo, alles Übung.“

Rainer wollte diese Bescheidenheit nicht gelten lassen. „Du bist wohl so ein richtiges As in deinem Beruf.“

Willi verdünnte bescheiden das Lob. „Irgendwo iss jeder eins, meinste nett?“

Rainer war froh, einen dieser Telefon-Spezialisten vor sich zu haben. Irgendein wohlwollender Gott hatte ihn im richtigen Moment zu diesem Loch geführt, zu einer Kapazität in Sachen Telefon, dem er nun sein Leid klagen konnte. Und er tastete sich vorsichtig an das Thema heran. „Pass auf, Willi. Ich hab’ da ein Problem. Vielleicht kannst du mir helfen.“

„Ein Problem?“

Rainer zog die Augenbrauen hoch und legte seinen Zeigefinger an die Nase. „ Nun ja. Also, es ist so: Mein Bruder Eberhard nervt mich mit nächtlichen Anrufen. Letzte Nacht hat er mich wieder um ein Uhr aus dem Bett geklingelt. Danach kann ich jedes Mal nicht einschlafen, weil ich darüber nachdenken muss, wie ich es ihm heimzahle.“

„Das ist gar nicht nett vom Hardy“, antwortete Willi trocken.

„So sehe ich das auch“, sagte Rainer. „Hast du eine Idee, was man da machen könnte?“

„Fangschaltung“, riet Willi und spleißte eifrig weiter seine Adern zusammen.

„Red kein Blech“, sagte Rainer. „Eine Fangschaltung ist nur interessant, wenn man nicht weiß, wer der Anrufer ist. Aber ich weiß es ja.“

Lotte tänzelte auf der Stelle. „Komm doch“, sagte sie und zupfte an Rainers Ärmel.

Rainer machte sich mit einem Ruck frei.

„Soll ich dir das Telefon wegmachen?“ fragte Willi.

„Nein, nein.“ Rainer winkte ab. „Das Telefon soll schon da bleiben, wo es ist. Es könnte ja mal was mit Oma sein. Also, ohne Telefon im Schlafzimmer fühle ich mich nicht wohl.“

Plötzlich hatte Willi eine Idee. Er hörte zu spleißen auf und schaute Rainer an. Dann sagte er: „Mach’s doch einfach so: Immer, wenn Eberhard dich nachts anruft, dann rufst du ihn zurück, wenn du morgens aufstehst. Na?“

„Gute Idee“, pflichtete Rainer bei. „Der Haken ist nur, dass Eberhard kein Telefon in seinem Schlafzimmer hat.“

„Hmmm.“ Willi dachte nach. Plötzlich schnippte er mit den Fingern. „Zusatzklingel“, sagte er.

„Zusatzklingel?“

„Nun komm doch endlich“, drängte Lotte. „Wir müssen noch baden.“

Rainer reagierte nicht. „Und was willst du damit machen?“ fragte er.

„Ich kann dem Eberhard so’n Zusatzwecker ans Telefon anschließe’ unn in der Schlafstubb’ installiern.“

Plötzlich hatte Rainer Spaß wie ein kleines Kind beim Anblick einer elektrischen Eisenbahn. „Und der Wecker klingelt mit, wenn ich anrufe?“ fragte er lachend.

Willi nahm die Mütze ab und wedelte sich Luft zu. „Klar, der klingelt mit.“

„Und wie laut ist so ein - Wecker?“

„En klaane iss net lauder als’e Telefon. Gibt aber auch größere - große Wecker halt.“

„Und die sind lauter?“

Willi nickte. „Oh ja. Die scheppern richtisch!“

Rainer konnte nicht mehr ruhig stehen bleiben. „Und du würdest das Ding - ich meine...“

„Moment“, sagte Willi und stieg aus dem Loch. „Ich weiß nett, ob ich so einen noch auf’m Bus hab’.“ Er klopfte sich den Sand von den Füßen und zog die seitliche Schiebetür auf. Dann kroch er ins Chaos hinein, in dem keine Intelligenz noch etwas hätte aufstöbern können. Außer Willi. Er beherrschte das Durcheinander wie ein Dompteur eine Bestie. Ein einziger Griff genügte, um den Bestand zu erkennen. „Nee“, sagte er bedauernd.

„Mist“, zischte Rainer.

Lotte zupfte wieder an Rainers Ärmel. „Ich spüre gerade im Magen und in den Knien, dass dunkles Unheil aufzieht.“ Es konnte nichts Gutes bedeuten, wenn Rainer sich mit gleichen Mitteln bei Hardy bedanken wollte. Gott sei Dank, es war kein Wecker da. Zeit genug, den Gott des Unheils einzuschläfern, bevor er Lust bekam, seinen Charakter rauszulassen. „Willst du nicht endlich mitkommen?“ fragte sie.

Aber Rainer, der sich noch nicht befriedigt hatte, bat um ein wenig Geduld. „Noch zwei Minuten.“

„Lass doch endlich diesen Blödsinn“, warnte Lotte. „Das gibt nur Ärger.“

Und dann, noch bevor Rainer sagen konnte, sie solle endlich ruhig sein, kam Willi mit einem monströsen Teil in der Hand wieder aus dem Bus herausgekrochen. „Ich hab’ da noch’n alt’ Industriehup’ gefunde’“, sagte er. „Hab’ ich irgendwann ma‘ in ‘ner Fabrik ausgebaut.“

„Eine Industriehupe?“ Rainers Augen leuchteten. „Ist das Ding laut?“

Auf diese blöde Frage reagierte Willi fast beleidigt. „Machst du Witze?“ Hat man je eine leise Hupe gehört? Hupen sind eben dazu da, dass sie laut sind, und Willi erklärte es dem Bäcker. „So’n Teil wird überall da eingesetzt, wo man’s weeeeiiiit hör’n muss, oder wo viel Krach iss. Zum Beispiel in ‘nem Flaschenabfüllbetrieb. Weiste, wie laut’s da iss?“

„Da versteht man sein eigenes Wort nicht“, sagte Rainer.

„Ja“, antwortete Willi. „Aber dat Ding hier, dat hörste da selbst noch mit Kopfhörern.“

Rainer schlug Lotte vor Spaß aufs Kreuz und lachte laut. „Mensch Willi, und diese – Hupe…?“ Rainer bekam Schnappatmung, aber Willi wusste, was er sagen wollte.

„Klar. Ich muss nur gugge, wo ich se hin mach, damit der Hardy se net findet. Vielleicht unners Bett? Ja, das wär’s! Unn wenn ich die Hup’ an seinem Bett festschraub’, dann wackelt der Kaste’ sogar mit, wenn de anrufst. Da is‘ Schmackes dahinter, sag ich dir.“

Rainer hing an Lottes Schulter. Seine Knie waren weich geworden vor Lachen, so dass er Halt suchte. Tränen schossen aus seinen Augen. „Das gibt’n Spaß“, keuchte er. „Stell dir das vor, Lotte. Ich kann mit meinem Telefon Eberhards Bett schütteln. Und das -“ Er holte Luft zu neuem Lachen. „Und das morgens um vier, wenn er angesäuselt dem Frühstück entgegenschlummert.“ Rainer kriegte sich nicht mehr ein. Er wankte zu Willis Bus, lehnte sich dagegen und schlug mit der flachen Hand gegen das Blech. „Wie laut…“ – er prustete – „wie laut ist die denn so ungefähr?“

Willi hob die Hupe in die Höhe und betrachtete sie von allen Seiten wie einen seltenen Smaragd. „Also do degege…“, er hielt sie Rainer vor die Nase, „do degege is ä LKW-Horn en Blockflöt‘. Die schafft mit Pressluft. Damit übertönste jedes Rockkonzert.“

Jetzt konnte Rainer sich nicht mehr halten. Er ging in die Hocke und stützte sich auf dem Pflaster ab. Mit der anderen Hand wischte er sich die tränennassen Wangen trocken. „Wann machst du’s fest?“ presste er mühsam hervor.

„Wird ä bissje schwierisch“, sagte Willi. „Ich muss Löcher bohr’n, Kabel lege’, und ich muss in sei’ Schlafstubb neikomme’. Ich mach’s, sobald die Luft rein iss. Ich sag’ dir abber Bescheid, sobald ich’s drin hab.“

Rainer packte Willis Hände und schüttelte sie heftig. „Ich danke dir“, schniefte er. „Das werd’ ich dir nie vergessen. Mach’s gut, und arbeite nicht so viel, ja?“

Jetzt schaltete sich Lottes Logik zu Wort. „Willi macht also die Hupe fest und sagt dir Bescheid, wenn sie sitzt. Und irgendwann rufst du den Hardy an, damit es ihn aus dem Bett schleudert. Hab ich das so richtig verstanden?“

Nun war es um Rainer geschehen. Er konnte kein Wort mehr reden. Ein paar Mal deutete er mit dem Finger auf Lotte, wollte etwas sagen und musste wieder abwinken, weil er kein Wort raus brachte. Ab und zu sog er röchelnd Luft ein, und dann platzte der nächste Lacher aus ihm heraus.

Lotte war von diesen Ausfällen wenig beeindruckt und sagte: „Tolle Idee. Und wenn jemand vor dir anruft? Dann tutet die Hupe nicht, was? Nur bei dir?“

Das Lachen erstarb, der Witz war verpulvert. „Äh…“

„Ja, äh, du Vollpfosten.“

„Kaa Problem“, sagte nun Willi. Die schafft jo mit Pressluft unn braucht Strom. Ohne Strom klappt die nett. Do mach ich einfach en Zeitschaltuhr rein unn dann iss die nur zwische Zwo unn Sechs aktiv. Do kann nix passiern. Do ruft eh kaner oh – außer Rainer.“

Jetzt zwang es ihn wieder in die Knie, und der nächste Brüller verließ seine Lungen.

Willi sprang in das Loch hinein und machte sich wieder an die Arbeit.

„Warum tust du das?“ fragte Lotte den Willi.

„Was, die Hup‘ ins Schlafzimmer mache‘?“ antwortete er, ohne den Blick von seiner Arbeit zu nehmen.

„Ja“, antwortete Lotte. Sie hoffte insgeheim, Willi zur Raison bringen zu können, indem sie ihm vor Augen führte, dass er gar kein Motiv dafür hatte, seinen Schwiegervater mit einer höllisch-lauten Puste zu knechten. Aber auch das ging leider in die Hose.

„Weil ich für Hardy immer nur der Depp bin“, sagte er nun fast in Hochdeutsch. „Er traut mir nix zu und betituliert mich wie jemanden, der nett alle Tassen im Schrank hat. Jetzt soll er ruisch mal merken, dass ich auch was drauf hab, und sei’s nur wenn es darum geht, ‚ne Hupe in seiner Schlafstubb zu installiern.“

„Meinst du nicht, dass Eberhard sich denken kann, wer das getan hat? Der dreht dich durch’n Wolf, Willi.“

„Wurscht! Des isses mir wert.“

„Macht, was ihr wollt!“ Lotte legte Rainer einen Arm um die Schultern. „Los jetzt, du Narr. Wir gehen heim.“ Damit zog sie ihn von diesem unheilvollen Loch weg.

Rainer eierte mit butterweichen Knien neben Lotte her und war eifrig damit beschäftigt, seine Augen von Lachtränen zu befreien und die Nase zu putzen.


*


Das Schicksal geht manchmal seltsame Wege, denn Rainers Wunsch sollte sich relativ schnell manifestieren. Und das alles nur, weil Helga an diesem Nachmittag eine Zeitungsannonce... Aber lies doch selbst.

Um vier Uhr an diesem Samstagnachmittag öffnete Eberhard die Kneipentür und einige Fenster, um vor dem ersten Ansturm noch einmal kräftig zu lüften. Der Mief vom Vorabend hing noch in den Balken. Er richtete die Zapfhähne, ließ ein paar Liter Bier ablaufen und überprüfte die Kühlung. Dann setzte er sich an den Stammtisch und blätterte die Tageszeitung durch.

Helga kam aus einem kleinen Nebenraum, wo Krimskrams wie Bierdeckel, Minisalami und Käse am Stiel aufbewahrt wurde. Sie setzte sich neben Eberhard und sagte: „Der Käse geht bald zur Neige.“

„Bestell neuen“, antwortete Eberhard knapp. Er blätterte weiter in seiner Zeitung und Helga kiebitzte. Die nächste Seite war gespickt mit großflächigen Anzeigen. ‘HERBST IN DEN DOLOMITEN’, las Helga. Als Eberhard weiterblättern wollte, hielt sie seine Hand fest. „Warte“, sagte sie. „Ist das nicht ein Superangebot? Zehn Tage Dolomiten für nur 439 Mark. Hardy, sollten wir nicht...“

„Nein.“

„Aber warum denn nicht?“

„Kein Geld.“

Helga bohrte weiter. „Das ist doch ein Top Angebot, da muss man schnell zugreifen. Hör mal Schatz, wenn...“

Eberhard neigte den Kopf, so dass zwischen Kinn und Hals eine Speckfalte entstand, die er genüsslich kratzte, so wie er es immer tat, wenn er eine Meinung zu verteidigen hatte, von der er selbst nicht so recht überzeugt war. „Trotzdem. Wir müssten die Kneipe zumachen. Damit wäre das Angebot nicht mehr so top. Oder?“

Helga gab nicht auf. „Aber es könnte doch jemand die Kneipe übernehmen. Es sind nur zehn Tage. Hardy-Bärchen, hm?“

Eberhard ließ die Zeitung sinken. „Wer um alles in der Welt sollte das wohl sein, der unsere Kneipe übernimmt? Etwa Rainer? Der muss morgens um drei aufstehen.“

„Vielleicht Willi?“ fragte Helga vorsichtig.

„Habe ich Willi gehört?“ Eberhard erheiterte sich. „Diesen Postpenner willst du hinter die Theke stellen? Zehn Tage lang? Nein, Lotte, schlag dir das aus dem Kopf. Weißt du noch, wie er sich beim letzten Altstadtfest angestellt hat?“

„Aber Sabine ist doch bei ihm.“

„Nein, nein und nochmals nein“, wetterte Eberhard. „Willi kommt mir nicht hinter die Theke.“

„Und Jockel?“

„Na ja.“ Eberhard musste zugeben: „Immerhin weiß er mit einem Zapfhahn umzugehen.“

„Da hast du’s. Vielleicht kommt er ja heute Abend. Dann fragen wir ihn gleich, ja?“

„Helga, das geht in die Hose“, sagte Eberhard. „Ich hab’ kein gutes Gefühl dabei, wenn wir die Kneipe alleine lassen.“

Helga schaute Eberhard mit klimpernden Augen an, bis er weich wurde und nachgab. „Lass es uns versuchen, ja? Nur dieses eine Mal.“

Von der schmalen Holztreppe her, die zum ersten Stock führte, war nun ein Krückstock zu hören, mit dem Elfriede Boltersdorf sich vorsichtig nach unten bemühte. Sie stocherte mit dem Stock auf den Stufen herum, bis sie, wie sie es zu nennen pflegte, wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Und mit diesem Stock - er war zum Gehen nicht unbedingt notwendig und sollte nur Mitleid erregen - stieß sie die Tür zur Gaststätte auf. Eine Weile blieb sie im Rahmen stehen und fokussierte, so gut es eben durch die dicke Brille möglich war, ihren Sohn Eberhard. Als dieser seinen Blick nicht von der Zeitung nahm, sagte sie mit zittriger Stimme: „Willst du deiner alten Mutter nicht durch diesen Sündenpfuhl helfen?“

Eberhard seufzte. „Ja, Mama.“ Er erhob sich und ging zu seiner Mutter, um ihr seinen Arm zur Verfügung zu stellen. „Übrigens, hast du eben Sündenpfuhl gesagt? Wir sind doch keine Lustherberge.“

„Aber gesoffen wird hier. Tagtäglich.“ Betont klapprig stöckelte sie an Eberhards Arm durch die Gaststätte, bis sie sich neben Helga auf der Bank niederlassen konnte. „Weißt du, was das für deine alte Mutter für ein Kampf ist, jeden Abend im Bett diesen Lärm hören zu müssen, bis endlich alle gegangen sind?“

„Mutter, das haben wir doch schon hundertmal durchdiskutiert“, sagte Eberhard ruhig. „Wir leben halt von dieser Gaststätte. Zwar nicht gerade üppig, aber trotzdem drücken wir für dich jeden Monat ein paar schöne Mark ab.“

„Sündenlohn.“

Eberhard schlug mit der Hand auf den Tisch und wurde laut. „Den du mit beiden Händen einraffst.“

Elfriede schaute beleidigt weg. „Dein Bruder geht jedenfalls einer geregelten Arbeit nach.“

„Und ruhig ist es da auch, nicht wahr?“ patzte Eberhard.

Elfriedes Stimme klang ein wenig weinerlich, als sie sagte: „In der Tat. Aber er hat ja keinen Platz für mich. Er würde mich bestimmt gern aufnehmen.“

„Aber nicht für lange“, murmelte Eberhard.

„Was hast du gesagt?“

„Nichts.“

Die Diskussion, die sich so oder so ähnlich mindestens zweimal im Monat abspielte, wurde unterbrochen, als Jockel mit Annette zur Tür hereinstapfte. „Hey, Leute“, sagte er, und Annette hob dazu die Hand zu einem zarten Winken.

Helga begrüßte das Paar erfreut. „Hallo, ihr beiden. Probe beendet, Jockel?“

„Klar, eh. Haben bald unseren ersten Gig.“

„Gig?“ kauzte Elfriede. „Komm, setz dich einmal zu mir, mein Junge.“

Jockel setzte sich neben die alte Frau und schüttelte seine Mähne. „Ja, Gig, Oma. So nennt man einen Auftritt. Und Annette ist mein Groupie.“

Elfriede tätschelte Jockel lachend die Schulter. „Du mit deinen Fachausdrücken.“

„Oma ist’n Fan von euch, Jockel“, witzelte Eberhard.

„Lass den Jungen nur machen“, antwortete Elfriede. „Er wird euch alle noch in die Tasche stecken. Schließlich hat er studiert, nicht wahr, Jockel?“

„Ja, Musik und Deutsch. War echt ein fettes Kapitel, eh.“

„Und wie viele Instrumente spielst du?“ fragte Oma weiter.

„Einige. Aber in der Band nur die Schießbude, und manchmal ‘ne Klampfe.“

Helga beugte sich vor. „Und Bier zapfen kannst du auch, nicht wahr, Jockel?“

„Total, Mädchen.“

Sie schaute Eberhard an, und als er nicht reagierte, fragte sie weiter. „Könntest du auch eine Gaststätte führen?“

Jockel lachte. „Hab’ doch studiert.“

Als ob er auf ein Stichwort gewartet hätte, brachte nun Eberhard sich ein. „Pass auf, Jockel“, sagte er. „Helga und ich wollen mal ‘ne Woche lang die Gräten ausstrecken. Und da brauchen wir jemanden, der den Karren hier lenkt.“

„Klar, Ong.. – äh – Eberhard, mach ich doch, Mann.“

„Im Oktober?“ fragte Helga.

„Jederzeit, Leute. Nicht wahr, Annette?“

Das Mädchen schaute entgeistert drein.

„Fahrt ihr nur weg“, bestimmte Elfriede. „Der Jockel macht das schon. Habe ich recht?“

„Klar. Und damit ich’s lerne, ziehe ich mir jetzt gleich einmal ein Bier aus dem Hahn.“

„Aber ob das gut geht?“ fragte Annette.

Helga begriff die Frage nicht. „Warum?“

„Ihr habt ein ruhiges Publikum, das vorwiegend aus älteren Herrschaften besteht“, erklärte Annette. „Da kann man Jockel mal als Gast dazwischen setzen. Aber hinter der Theke?“

Noch nie hatte Annette etwas zu seinem Outfit gesagt, in zwei Jahren nicht. Aber jetzt schaute Jockel richtig baff drein. Sein Blick verriet seine düstere Befürchtung, dass Annette nicht hundertprozentig einverstanden sein könnte mit seinem Typ. Annette sah toll aus, bürgerlich, gepflegt. Jockel schaute an sich herab und dann Annette an. „Du schaffst es, dass ich mich unwohl fühle“, sagte er und fasste Annette am Kinn. Zärtlich justierte er ihren Kopf in seine Richtung und fragte: „He, Maus, seit wann hast du denn was gegen meine Hecke?“

Annette befreite sich fast ärgerlich aus seinem Griff. „Ich hab’ nichts gegen deine Haare, Jockel. Es war nur - nur so ein Gedanke.“

Jockel seufzte. „Ich helfe heute Abend hinter der Theke“, sagte er. „Dann werden wir sehen, was die Leute sagen. Okay?“

„Bist’n guter Junge“, sagte Elfriede, und Eberhard nickte dazu.

*


Am Abend erschien Jockel in weißem Hemd und weinroter Bundfaltenhose. Die Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Helga pfiff durch die Zähne.

Als die Gaststätte sich langsam füllte, sprang Jockel hinter die Theke, um seine geschickte Hand zu beweisen.

Die Theke war bald rundherum mit Geschäftsleuten und Rentnern aus der Altstadt belagert. Sie klebten da wie Muscheln auf einem Stein und tranken ihr Bier. Das Vorurteil, das die meisten gegen ihn hegten, weil er schon des Öfteren durch seine Aufmachung aufgefallen war, zerrieb Jockel zu Staub, sodass die Gäste es am Ende sogar interessant fanden, mit dem jungen Mann zu plaudern. Seine witzige, geistreiche Art hatte ihn im Nu zu einem wertvollen Unterhalter gemacht.



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