Читать книгу Halterberg - Mart Schreiber - Страница 6

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Prolog

Gustav erblickte in einer Kellerwohnung das Licht der Welt. Es geschah an einem späten Nachmittag im April, der nicht launisch und ausgesprochen trocken war. Die Verhältnisse waren düster, es drang wenig Licht durch die beiden Oberlichten in den Raum. Von den am Gehsteig Vorbeigehenden sah man kaum mehr als die Schuhe, die sich mit einem mehr oder weniger lauten Klacken und Klappern ankündigten. Während Gustavs Mutter in den Wehen lag und stöhnte, sah die Hebamme ab und an zu den Schuhen hinauf. Sie versuchte zu erraten, zu wem die Schuhe gehörten. Dann wandte sie sich wieder der Gebärenden zu und zeigte ihr, wie sie zu atmen habe, damit die Wehen leichter zu ertragen waren.

Der Vater war mit den beiden älteren Kindern in die Konditorei gegangen, die sich im selben Haus befand. Er arbeitete dort als Bäcker, die Kellerwohnung war ein Teil seines kärglichen Salärs. Die Geburt verlief unspektakulär, Gustav kam zwei Wochen später als errechnet zur Welt und wog fast viereinhalb Kilo. Er schrie erst, als er einen kleinen Klapps auf den Po bekam, dann aber umso kräftiger. Der erste Sohn war nach dem Vater benannt worden. Dessen strenger Stiefvater trug den Namen Gustav, da der Überlieferung nach dessen Mutter die Musik des Komponisten Gustav Mahler über alles geliebt hatte.

Nur ein Jahr später bemerkte Gustavs Vater rötlichen Pusteln an seinen Händen. Zunächst versuchte er es selbst mit einer Fettcreme, aber der unangenehme Ausschlag breitete sich immer mehr aus. Das Jucken wurde immer unerträglicher, er konnte nicht aufhören, sich blutig zu kratzen. Aus Angst den Arbeitsplatz zu verlieren, gelang es ihm fast einen Monat lang, den immer schlimmer werdenden Zustand seiner Hände vor dem Bäckermeister zu verbergen. Schließlich konnte er es nicht mehr verheimlichen, er wurde zum Arzt geschickt, der eine Mehlallergie diagnostizierte. Für Gustavs Vater hatte diese Diagnose schlimme Folgen, er wurde gekündigt. Mit seiner Familie durfte er aber in der Kellerwohnung bleiben. Um Frau und Kinder zu versorgen, nahm er eine Stelle als Tankwart an und hatte fortan durch diese Arbeit meist schmutzige Hände. Gegen Öl und Schmierfett war er zum Glück nicht allergisch.

Als Gustav in sein fünftes Lebensjahr eingetreten war, bekamen die Eltern eine Gemeindewohnung am Rande der kleinen Stadt zugesprochen. Bevor sie in die neue Wohnung zogen, verbrachte sein Vater dort eine Nacht, mit einer Axt bewaffnet. Gustav fand das seltsam, stellte aber keine Fragen, als er davon hörte. Er war auch nicht beunruhigt. Es erschien ihm nicht ungewöhnlich, dass man vor dem Einziehen in eine neue Wohnung dort mit einer Axt schlief. Noch spielten die Geschwister, Gustav hatte eine Schwester und einen Bruder, im Hinterhof der Kellerwohnung. Es war ein verwildertes Rechteck, in dem allerhand Gerümpel herumstand.

Als es dann so weit war, dass er mit seiner Mutter und den Geschwistern zum neuen Gemeindebau ging, während der Vater im VW-Bus seines Chefs mitfuhr, in dem der Hausrat der Kellerwohnung eingeladen worden war, ergriff ihn eine drückende Angst. Er erinnerte sich daran, dass sein Vater eine Nacht mit einer Axt bewaffnet in der neuen Wohnung verbracht hatte. War es dort so gefährlich? Musste man damit rechnen, überfallen und ausgeraubt zu werden? Ohne ein Wort zu sagen, begann er zu weinen. Seine Schwester, die drei Jahre älter als er war, versuchte ihn zu trösten. Sein Bruder ignorierte das Weinen und kaute stoisch an einer Semmel. Er solle nicht heulen, schimpfte seine Mutter. In der neuen Wohnung würden alle mehr Platz haben und sogar eine Badewanne gäbe es da. Sie müssten nicht mehr über einen kalten dunklen Gang zu einem Waschbecken oder Plumpsklo gehen, wo man manchmal Ratten begegnen konnte.

Die neue Wohnung bestand aus zwei Zimmern, einer Küche, einem kleinen Badezimmer und einem separaten WC. Das Fenster, eine Oberlichte, zeigte im WC, genauso auch im Badezimmer, in Richtung Küche. Deshalb roch es in der Küche nicht immer nach gekochtem Essen, sondern nach der Toilette und im Badezimmer wiederum nach gekochtem Essen. Im ersten Raum befand sich das Wohnzimmer. Hier stand ein Bett, das am Tag senkrecht an der Wand hochgeklappt war, bis auf den Kopfteil, der diente als Sofa. Im zweiten Raum waren ein großer Kasten und drei Betten für die Kinder untergebracht. Etwas eng war es hier, so blieb nicht viel Platz zum Spielen übrig. Da aber der Vater schon früh am Morgen mit dem Rad zur Tankstelle fuhr und erst zehn, manchmal sogar zwölf Stunden später wieder nach Hause kam, durften die Kinder im Wohnzimmer spielen. Vom französischen Balkon aus, im Kinderzimmer, konnte man eine Böschung sehen, die sich nach rechts zu einem, für diese flache Gegend beträchtlichen Hügel, hinaufzog. Zwei schmale Pfade führten gleich hinter dem Gemeindebau auf den Hügel und ein grasbewachsenes Plateau, von dem man weit in die ebene Umgebung blicken konnte. Viel interessanter als der Rundblick waren für die Kinder jedoch Lehmhöhlen, die am Rande des Plateaus oder etwas unterhalb auf ihre Entdeckung warteten. Zum größten Teil waren diese Höhlen nicht auf den ersten Blick zu sehen. Man musste schon durch dichtes Gestrüpp hindurch, um die Höhleneingänge zu finden. Gustavs älterer Bruder Jakob hatte schon bald das Interesse an den Höhlen und dem Gestrüpp verloren, an dem er sich mitunter durch dornige Zweige die Hände und Arme aufkratzte. Die Schwester wollte sich von Anfang an nicht schmutzig machen. Gustav jedoch brannte darauf, Höhle für Höhle zu erkunden. Er versuchte, sie mit einer kleinen Spielzeugschaufel zu erweitern, was ihm nicht gelang. Manchmal verbrachte er mehr als eine Stunde in einer Höhle. Die Rufe seiner Mutter, sofort nach Hause zu kommen, drangen nicht bis zu ihm. Wenn er schließlich die Wohnung betrat, waren Hände, Schuhe und die Hose voller Lehmspuren, besonders dann, wenn es kurz davor geregnet hatte. Seine Mutter war wenig begeistert, stellte ihn mitsamt der Kleidung in die Badewanne und duschte ihn mit kaltem Wasser ab. Gustav mochte das kalte Nass nicht, aber sein anfängliches Gezeter und Schreien verstummte schnell. Er ließ es einfach über sich ergehen. Schlimmer als das kalte Wasser war der Hausarrest, den die Mutter gegen ihn verhängte, denn er konnte nicht zu seinen Höhlen gehen. Zu seinem Glück vergaß sie oft schon am nächsten Tag darauf.

Der Halterberg zog auch einige andere Kinder in seinen Bann, aber nicht viele. Möglicherweise hatten die Eltern den Kindern verboten, in diese unberührte Wildnis hinaufzugehen. Die Kinder, denen es nicht verboten wurde oder die sich einfach über den Willen der Eltern hinwegsetzten, spielten Cowboy und Indianer, begaben sich in den Höhlen auf Schatzsuche oder bauten Lehmburgen. Gustav erzählte seiner Mutter nichts von den Höhlen am Halterberg, er befürchtete, sie würde auch ein Verbot aussprechen. Beim Spielen freundete sich Gustav mit einem gleichaltrigen Buben namens Toni an. Toni wohnte nicht in den drei neuen Gemeindebauten. Er lebte mit seinen Eltern in einem schmucken Einfamilienhaus mit Garten, unweit vom Halterberg. Zum ersten Mal schmerzte es Gustav, dass seine Familie, also auch er, viel weniger Geld zur Verfügung hatte als andere. Er war noch nie in Tonis Elternhaus gewesen, aber das Auto davor reichte schon aus, damit sich Gustav arm, klein und unwichtig vorkam. Tonis Vater arbeitete in der Erdölförderung, die es damals noch in dieser Gegend gab. Gustav sah ihn ein einziges Mal. Bei der Gelegenheit erkundigte sich Tonis Vater nach Gustavs Familie und erwähnte dann, dass er seinen Vater gut kenne. Er sei ein sehr freundlicher Tankwart, sagte er. Gustav schämte sich und lief rot an. Sein Vater musste Tonis Vater bedienen, ihm die Scheiben putzen und für einen Schilling Trinkgeld einen Buckel machen. Gustav konnte nicht verstehen, warum sein Vater viel weniger Geld verdiente als andere Väter, die sich ein Auto leisten konnten und vielleicht sogar in einem Einfamilienhaus lebten. Beim Spielen mit Toni vergaß er aber schnell wieder seinen Kummer, auch dass seine Eltern kein Auto hatten. Seine Mutter erwähnte immer wieder, dass sie sparen müssten. Nie kaufte sie den Kindern beim Fleischhauer eine Wurstsemmel. Manchmal gab die nette Verkäuferin den Kindern ein dünnes Blatt der Extrawurst, die himmlisch schmeckte. Zu Hause wurden die Brote für die Kinder mit Margarine, manchmal auch mit Schmalz bestrichen, für den Vater wurde ein Achtel Butter im Kühlschrank bereitgehalten.

Über ihnen im ersten Stock wohnte eine Familie mit Namen Murer, die ebenfalls zwei Söhne und eine Tochter hatte. Das Auto von Herrn Murer parkte unter dem Klopfbalkon des Kinderzimmers. Es war ein großer Ford, Gustav kam er jedenfalls wie ein riesiger Straßenkreuzer vor und wesentlich eindrucksvoller als das Auto von Tonis Vater. Oft wurde Gustav vom Zuschlagen der Autotür und dem Starten des Motors am frühen Morgen aus dem Schlaf gerissen. So wurde ihm jeden Tag bewusst gemacht, dass seine Familie kein eigenes Auto hatte. Herrn Murers dunkelblaue Limousine war für Gustav etwas Unerreichbares, Überirdisches, aber Wünschenswertes. Der Straßenkreuzer war immer sauber und glänzte blank poliert. Der Wagen strahlte wie ein Schmuckstück. Wenn Gustav vom Balkon, der nur dreißig Zentimeter nach außen ragte, auf das Autodach schaute, spiegelte sich bei entsprechendem Sonnenstand sein Gesicht darin.

Halterberg

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