Читать книгу Halterberg - Mart Schreiber - Страница 7
ОглавлениеKapitel 1
Er hatte seiner Mutter auf seinem Handy den Klingelton Homecoming zugeordnet. Die, nach einem Glockenspiel klingende, Melodie erinnerte ihn an ein Kinderlied. Den Ton wählte er vor einigen Jahren intuitiv, also ohne sich über seine Auswahl Gedanken zu machen. Erst viel später meinte er, die Melodie als Reminiszenz an seine Kindheit gewählt zu haben. Seine Mutter war die Einzige, für die er einen persönlichen Klingelton eingerichtet hatte. Seit einigen Jahren war sie im Pflegeheim und rief ihn mehrmals am Tage an, auch zu ungewöhnlichen Zeiten wie am frühen Morgen. Aber sie rief auch an, wenn er gerade aß oder am WC saß und das nervte ihn. Sie rief an, wenn er Sex hatte oder wenn er seine Morgenrunde lief. So auch dieses Mal. Wenn er trainierte, hielt er beim Joggen immer das Handy in seiner linken Hand. Das hatte er sich so angewöhnt, nicht um immer erreichbar zu sein, sondern eher für den Fall, dass er im Gelände stürzte. Das war ihm schon einmal passiert und wegen der Schwere der Verletzung konnte er nur mehr humpeln. Damals hatte er kein Handy mit und musste sich auf einen nahen Weg schleppen, der frequentierter war als der vom Wild ausgetretene Pfad, auf dem er sich befand.
Seine Mutter rief also an. Am Klingelton erkannte er sie und musste nicht aufs Display blicken, so konnte er konzentriert weiterlaufen. Nach dem Duschen würde er sie zurückrufen. Als sie wegen ihrer Stürze zu Hause im Pflegeheim aufgenommen wurde, hatte sie noch kein Handy. Für einen Anruf musste sie das Festnetztelefon, das in ihrem Zimmer stand, benutzen. Dazu musste sie natürlich aufstehen, was ihr oft viel zu beschwerlich war. Später hatte Gustav ihr ein Handy mit großen Tasten für Senioren geschenkt und es gleich wieder bereut. Nun konnte sie ihn auch vom Bett aus im Liegen anrufen. Der häufigste Grund für ihre Anrufe war die Frage, wann er sie wieder besuchen käme. Auch wenn er ihr sagte, dass es erst in zwei Wochen möglich sein werde, rief sie ihn trotzdem spätestens am nächsten Tag wieder an und stellte die gleiche Frage. Oder sie beschwerte sich am Telefon über die slowakische Pflegerin oder erzählte ihm, das Mittagessen schmeckte so schlecht, dass sie es stehen lassen musste. Fast immer klagte sie zusätzlich über ihre Schmerzen und erkundigte sich zu guter Letzt nach seinem Befinden. Sie mache sich Sorgen, sagte sie dann. Sie habe geträumt, dass er in einen Unfall verwickelt war und verletzt in einem Spital lag.
An ihrer Telefonrechnung, die Gustav regelmäßig beglich, konnte er sehen, dass sie mehrmals die Woche mit seiner Schwester in Teneriffa telefonierte. Diese war mit ihrem neuen Mann nach Teneriffa gezogen, zwei Jahre, nachdem die Mutter ins Pflegeheim musste. Nicht zum ersten Mal war sie zu Hause gestürzt und konnte nicht mehr alleine aufstehen. Dann musste sie viele Stunden am Boden verbringen und auf Hilfe warten. Er hatte seine Mutter gebeten, nur einmal in der Woche ihre Tochter in Teneriffa anzurufen, weil diese Gespräche recht teuer waren. Im Laufe der Zeit ließ er sie aber gewähren. Am Geld sollte das Glück seiner Mutter nicht scheitern. Er verdiente genug und hatte es zu einem ansehnlichen Wohlstand gebracht.
Am Joggen konnte er sich nicht mehr erfreuen. Gewissensbisse befielen ihn, er fürchtete, seine Mutter würde enttäuscht sein. Was war schon dabei, wenn er ein paar Worte mit ihr wechselte und ihr damit einen Gefallen tat. Allerdings war es nicht leicht, ein Gespräch mit ihr wieder zu beenden. Ständig fiel ihr etwas Neues ein oder sie wiederholte bereits Gesagtes, um ihn länger am Telefon zu beschäftigen. So manches Gespräch musste Gustav abrupt beenden, da sie einfach ignorierte, dass er das Telefonat wegen eines Termins nicht fortsetzen konnte. Wenn er sie auf seinen Job hinwies, in dem er auch viel telefonieren musste, redete sie einfach ohne Unterbrechung weiter. Er wollte sie doch nicht kränken, aber es blieb ihm nichts anderes übrig als »Mach’s gut. Auf bald.« zu sagen und auf das rote Telefonsymbol zu klicken.
Er rief sie vor dem Duschen zurück.
»Du musst mich sofort hier herausholen«, sagte sie in großer Aufregung.
»Warum denn? Was ist passiert?«
»Sie ist da!« sagte die Mutter aufgeregt.
»Wer ist da?«
»Der Teufel, du weißt schon.«
Gustav war verwundert und hatte keine Ahnung, wen sie damit meinen könnte.
»Die Murer ist da. Sie muss gestern aufgenommen worden sein.«
»Ja, und wo ist dein Problem?«
»Sie wird mich umbringen. Erinnere dich doch.« Die Mutter konnte sich gar nicht beruhigen.
Die Murers waren damals aus dem Wohnhaus ausgezogen, noch bevor er die Schule in Wien begann. Niemand wusste, wo sie dann wohnten, aber das war Gustav letztlich auch egal. Wichtig war nur, den Murers nicht mehr über den Weg zu laufen und ihren Gehässigkeiten und manchmal sogar Handgreiflichkeiten ausgeliefert zu sein. Weder die Kinder noch die Eltern sah er jemals wieder.
»Das ist doch Jahrzehnte her, liebe Mutter.«
Sie mochte es nicht, wenn er Mutter zu ihr sagte. Mama wollte er sie aber nicht nennen. Das erschien ihm zu vertraut, zu intim, viel zu wenig distanziert.
»Aber jetzt ist sie da. Sie hat mich auch gesehen und nicht gegrüßt.«
»Hast du sie gegrüßt?«
»Nein, warum sollte ich. Schön dumm wäre ich, sie auf mich noch aufmerksam zu machen.«
»Hör doch auf mit den alten Geschichten, liebe Mutter«, sagte er.
»Hol mich sofort da raus!« Ihr Befehlston ärgerte Gustav.
»Wie soll das denn gehen? Du bist dort gut versorgt. Deine Tochter lebt in Teneriffa, sie kann sich nicht um dich kümmern und ich habe absolut keine Zeit für deine Pflege.«
»Dann wird sie mich zerstören und du schaust einfach zu. Dabei solltest gerade du wissen, wie gefährlich sie ist. Erinnere dich an die schwere Verletzung, die sie dir mit dem Eimer zugefügt hat.«
Gustav hielt inne. Er dachte an seinen Bruder Jakob, wie war es ihm gelungen, Distanz zu der Mutter zu wahren und sich rauszuhalten? Warum rief sie ihn nur selten an? Aus Angst, von ihm grob abgewiesen zu werden? Warum besuchte er sie bloß zweimal im Jahr, einmal um ihren Geburtstag herum und dann noch vor oder nach Weihnachten? Warum redete seine Mutter trotzdem nur nett über ihn? Es lag wohl daran, dass er seiner Mutter gegenüber konsequent geblieben war. Mehr als einige Anrufe im Jahr und die beiden Besuche konnte seine Mutter nicht von Jakob erwarten. Irgendwann hatte sie es akzeptiert.
»Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte er unvermittelt und legte schnell auf. Er nahm sich vor, sie am frühen Abend nochmals anzurufen. Hoffentlich hatte sie sich bis dahin wieder beruhigt. Welche konkrete Gefahr sollte von Frau Murer ausgehen? Sie war eine alte Frau geworden und sicher nicht mehr in einem guten Gesundheitszustand. Andernfalls wäre sie nicht im Pflegeheim gelandet. Seine Mutter hatte schon immer zur Hysterie geneigt. Sie konnte – wie man so sagt – aus einer Mücke einen Elefanten machen, eine Nebensächlichkeit zur Bedrohung anwachsen lassen. Wenn jemand sie nicht grüßte, empfand sie das als Ablehnung oder Bösartigkeit. Dass diese Person in diesem Moment vielleicht nicht aufmerksam war und an etwas anderes gedacht haben konnte, kam ihr nicht in den Sinn.
Er frühstückte alleine, seine Freundin, eine Ärztin für innere Medizin, war noch im Nachtdienst. Sie arbeitete in einem Spital, das für die Hauptstadt Österreichs doch klein war. Komisch, dass die Murer wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht war. Hatte die Familie weiterhin in der kleinen Stadt gewohnt und war sie nur ans andere Ende gezogen? Im Bezirk musste sie geblieben sein, sonst wäre die Murer nicht in diesem Pflegeheim gelandet. Vor dem Umzug der Murers war deren Tochter nicht mehr nach Hause gekommen und trotz intensiver Suche blieb sie verschwunden. Wie hieß sie gleich? Gustav wunderte sich, dass ihm der Name nicht sofort einfiel. Vera. Wollte ihm sein Gehirn helfen, nicht mehr an sie erinnert zu werden? Nur er wusste den Grund um Veras Verschwinden. Er hatte sie umgebracht. So war das, er hatte sie getötet und dann so getan, als wüsste er von nichts. Wie konnte er das nur vergessen oder verdrängen? Vielleicht einen Monat danach wurde sein Vater auf dem Weg zur Arbeit von einem Auto angefahren und schwer verletzt. Zur gleichen Zeit wurde Herrn Murers Auto als gestohlen gemeldet.
Viele Jahre quälte ihn der Gedanke an Veras Tod. Immer wieder überlegte er, zur Polizei zu gehen und ein Geständnis abzulegen. Aus Furcht vor Strafe blieb es bei der Überlegung. Er erzählte niemandem von seiner Tat, keiner Menschenseele.
Das schlechte Gewissen machte ihm sehr zu schaffen. Einige Jahre hatte er eine Therapie gemacht, um die Panikattacken und die Schlaflosigkeit in den Griff zu bekommen. Beim Therapeuten traute er sich nicht von Vera zu erzählen, nichts von seiner Tat, die er im Affekt begangen hatte. Sein eigenes Leben musste er retten, dieser Gedanke half ihm. Wenn er sich auf diesen Gedanken konzentrierte, fühlte er sich weniger schuldig. Mit seinem Therapeuten war er seine Kindheit rauf und runter durchgegangen. Es gab genügend Ereignisse, die als traumatische Erlebnisse gelten konnten. Der Therapeut arbeitete sich daran ab und glaubte, dass Gustav das Trauma seiner Kindheit überwinden konnte, wenn er es im Gespräch quasi noch einmal durchlebte. Nach zwei Jahren beendete Gustav die Therapie. Er hatte keine Panikattacken mehr und konnte mit einem schlaffördernden Antidepressivum leidlich gut durch die Nacht kommen. Vera war aus seinem Bewusstsein verschwunden. Er hatte seine Tat erfolgreich verdrängt. Zu den ersten Therapiesitzungen war er mit dem Vorsatz gekommen, ein Geständnis abzulegen und sein Gewissen zu erleichtern. Der Therapeut war gesetzlich zur Verschwiegenheit verpflichtet. Es würde keine negativen Konsequenzen haben, wenn er sein Herz bei ihm ausschüttete. Im Gegenteil, nur so konnten seine Schuldgefühle aufgearbeitet werden, nur so konnte er vom Therapeuten eine Absolution bekommen. Gustav hatte Gründe für seine Tat. Die damaligen Ereignisse waren mehr als dramatisch gewesen, er konnte nicht anders handeln. Mehr als einmal hatte er das Bedürfnis, dem Therapeuten von Vera zu erzählen, doch kein erstes Wort dazu kam über seine Lippen. Irgendetwas hielt ihn davon ab. Er war sich nicht sicher, wie der Therapeut reagieren würde. Vielleicht würde er Gustav überreden wollen, bei der Polizei ein Geständnis abzulegen. Vielleicht würde er Gustav damit drohen, die Therapie abbrechen zu müssen, wenn Gustav nicht zur Polizei ginge. Vielleicht würde er argumentieren, dass Veras Eltern ein Recht auf die Wahrheit hätten. Gustav war damals noch nicht strafmündig gewesen. Er konnte auch im Nachhinein nicht bestraft werden. Aber er konnte die Sache aufklären und so der Familie Murer helfen, mit dem Verlust ihrer Tochter und Schwester abschließen zu können. Im Laufe der Zeit traten Vera und die Tat immer mehr in den Hintergrund, wurden verdrängt. In der Therapie gab es auch vieles andere aufzuarbeiten. Beruflich war Gustav sehr erfolgreich. Das bedeutete Arbeit, viel Arbeit. So viel Arbeit, dass er sich kaum um etwas Privates, Persönliches kümmern wollte und konnte. Vielleicht hatte ihm die Arbeit mehr geholfen als die Therapie. Es könnte auch beides zusammen gewesen sein.
Am Abend rief er seine Mutter an. Sie erzählte ihm, dass Frau Murer ihren Kuchen gestohlen habe.
»Die stellen den Kaffee und den Kuchen vor meine Tür, wenn ich das Schild <Bitte nicht stören> an den Türgriff hänge. Ich habe mich hingelegt und wollte nicht aufgeweckt werden. Doch diesmal fehlte der Kuchen. Der Teller mit einigen Bröseln darauf stand noch auf dem kleinen Tablett, auch die kleine Gabel, um den Kuchen zu essen. Der Kaffee war da, aber nicht mehr der Kuchen. Noch nie ist das vorgekommen, nicht, seit ich hier bin. Stell dir vor, einfach weg.«
»Und warum soll Frau Murer den Kuchen genommen haben, Mutter?«
»Ich war vorne bei der Stationsleitung und habe nachgefragt, ob sie mir diesmal keinen Kuchen zum Kaffee gebracht haben. Aber selbstverständlich war auch der Kuchen auf dem Tablett, haben sie mir gesagt. Hundertprozentig. Und jetzt sag du mir, warum der Kuchen weg ist. Den Kaffee wollte die Murer wohl nicht, der war ja noch da. Wer weiß, ob sie überhaupt Kuchen isst, vielleicht hat sie ihn weggeworfen. Könnte doch sein, dass sie das nur aus Boshaftigkeit macht, so wie damals. Du weißt schon.« Ihre Worte klangen verschwörerisch.
»Liebe Mutter, du musst aufpassen. Sei vorsichtig mit solchen Beschuldigungen, für die es keinerlei Beweise gibt.«
»Du meinst, so wie damals, als sie das Attentat auf dich begangen hat.«
»Bitte vergiss doch, was einmal gewesen ist. Das ist alles ewig her.«
»Das Böse verschwindet nicht. Denn ein Mensch, der so böse ist wie die Murer, bleibt es das ganze Leben lang. Vielleicht kann es sich im Alter zum Besseren ändern, aber selbst die Hälfte dieser Bösartigkeit reicht noch aus, um Schlimmes anzurichten.« Die Hartnäckigkeit der Mutter war verblüffend.
»Du könntest doch einmal mit Frau Murer reden. Macht euch bekannt, vielleicht hat sie sich verändert. Die Zeit geht an Menschen nicht spurlos vorbei. Viele werden im Alter sanft und friedlich.«
»Bist du verrückt? Wenn du mich nicht herausholst, werde ich Jakob fragen.«
Gustav lachte. »Ausgerechnet Jakob, der sich kaum um dich kümmert. Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen oder mit ihm telefoniert?«
»Das ist jetzt nicht wichtig und nicht der Punkt. Wenn ich ihn brauche, wird er da sein.«
Die Frau Murer entpuppte sich schon kurz nach dem Einzug in den Gemeindebau als Schrecken seiner Familie. Sein Bruder hatte davon wenig mitbekommen. Er war mit zehn Jahren in einem katholischen Knabenseminar aufgenommen worden und durfte in den Ferien oft bei Tante Rosi sein. Gustav war sich nicht sicher, ob er Frau Murer im Pflegeheim begegnen wollte, aber seine Neugier meldete sich. Er schwankte zwischen Neugierde und Angst hin und her. Würde er ihr in die Augen blicken können? Würde bei ihm nicht alles wieder aufbrechen? Er fürchtete es insgeheim und er spürte auch, dass der Aufbruch schon im Kopf begonnen hatte. Gustav konnte nicht verhindern, dass die Bilder von Vera dem Archiv seines Gehirns entstiegen. Sie breiteten sich förmlich vor seinen Augen aus, sie machten ihn unruhig.
Jakob meldete sich bei Gustav. Was das solle, fragte er. Warum er mit Kaffeetratsch belästigt werde. Was denn überhaupt passiert sei. Die Mutter habe wirres Zeug geredet, von einem verschwundenen Kuchen und von Frau Murer. Langsam zweifle er an ihrem Verstand. Ob Gustav nichts unternehmen könne. Mutter müsse ein Medikament gegen ihre Verwirrtheit bekommen. Er habe jedenfalls keine Zeit für solche Spompanadeln. Am Samstag spielt er ein Konzert im Musikverein. Darauf muss er sich nun konzentrieren.
Wieder der Morgenlauf. Die Mutter rief nicht an. Anstatt sich zu freuen, rätselte Gustav über den Grund. Glaubte sie, dass Jakob sie abholen würde? Da konnte sie lange warten. Vielleicht hatte sie sich einfach beruhigt. Es war nichts weiter passiert. Nichts jedenfalls, das man, selbst mit der blühenden Fantasie seiner Mutter, als eine Bösartigkeit von Frau Murer interpretieren konnte. Beim Frühstück mit seiner Freundin fragte er, ob sie ihn am Sonntag beim Besuch seiner Mutter begleiten könnte. Er hat sie doch erst vor einer Woche besucht. Ja, das stimmt. Nur jetzt ist etwas passiert, was die Mutter sehr beunruhigt. Er erzählte ihr, dass sie Frau Murer vor kurzem im Pflegeheim gesehen hatte, als neue Bewohnerin. Seine Freundin wusste, wer Frau Murer war. Er hatte ihr manchmal Bruchstücke aus seiner Kindheit erzählt, mehr um ihr Drängen, von ihm mehr aus seinem Leben zu erfahren, zu beschwichtigen als aus einem Mitteilungsbedürfnis heraus. Auch Veras Verschwinden war in seinen Erzählungen vorgekommen, nur seinen Anteil daran hatte er ausgespart. Seine Freundin musste lachen. Das sei wie im Film. Die verfeindeten Frauen begegnen einander im Pflegeheim wieder, stoßen zusammen. Das sei der Stoff für eine Komödie, meinte sie. Oder für eine Tragödie, sagte Gustav. Er möge sich nicht von seiner Mutter in den Streit hineinziehen lassen. Es sei doch nichts passiert. Ach ja. Und nein, sie könne am Sonntag nicht mitkommen, sie hätte Dienst. Leider. Eine Kollegin sei krank geworden.
Es vergingen zwei Tage, an denen sich seine Mutter nicht bei ihm meldete. Er hatte so viel um die Ohren, dass er es gar nicht bemerkte. Bis am Abend des zweiten Tages seine Freundin fragte, ob sich Gustavs Mutter wieder beruhigt habe. Er zuckte zerstreut mit den Schultern. Sie habe die letzten zwei Tage nicht angerufen, antwortete er. Ob das nicht komisch sei, da sie normalerweise täglich anruft, fragte seine Freundin. Und ob er nicht bei der Station anrufen wolle, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Gustav nahm sich vor, gleich nach dem Morgenlauf zuerst die Mutter und, wenn die sich nicht meldete, die Station anzurufen. Jetzt war es schon zu spät dafür.
Am nächsten Tag verzichtete er auf den Morgenlauf.
Sein Magen fühlte sich flau an, im Mund schmeckte er Reste von Magensäure. Am Abend davor hatte er einige Gläser Rotwein getrunken und eine unruhige Nacht verbracht. Auch sein dumpfer Kopf war keine gute Voraussetzung für Sport. Nach dem ersten Espresso rief er seine Mutter an. Nach längerem Läuten landete er in der Mailbox. Eine leichte Beunruhigung setzte bei ihm ein. Also jetzt die Station anrufen, sagte er leise zu sich. Er musste es lange läuten lassen, bis endlich eine Pflegerin abhob. Sie war verwundert, dass er über das Missgeschick der Mutter nicht informiert war. Die Mutter wäre vorgestern gestürzt und hätte sich den rechten Oberarm gebrochen. Zum Glück ein glatter Durchbruch direkt unter der Schulter. Jetzt läge sie meistens im Bett. Ob sie einen Gips habe, fragte Gustav. Nein, das sei in diesem Fall nicht möglich. Sie müsse einen Gilchristverband tragen. Gilchristverband? Damit fixiere man die Schulter und auch den Arm am Körper. Ob sie das Telefon nicht abheben könne? Das habe man ihr abnehmen müssen, damit sie die rechte Hand und den Arm nicht unnötig belaste. Gustav sagte, man möge ihr schöne Grüße ausrichten. Am späten Nachmittag werde er sie besuchen. Die Pflegerin antwortete, dass ein Besuch gut für das Wohlbefinden seiner Mutter wäre. Sie müssten ohnehin unter vier Augen mit ihm reden. Warum denn? Gustav war verwundert. Die Pflegerin deutete an, dass seine Mutter eine andere Patientin verdächtigte, sie von hinten gestoßen und so zu Sturz gebracht zu haben.
Kurzerhand verschob er die Termine am Nachmittag und machte sich nach Mittag in die Stadt seiner Kindheit auf. Er rief aus dem Auto seine Schwester in Teneriffa an. Sie hob nicht ab. Er sprach ihr auf das Band. Er wollte mit jemandem sprechen, also dann mit Jakob, dachte er. Auch Jakob war nicht erreichbar und Gustav war sich sicher, dass er sich einfach nicht melden wollte. Irgendwann schnappte die Verbindung ab. Nicht einmal eine Nachricht auf der Mailbox konnte er hinterlassen. Seine Mutter hatte also sofort eine Schuldige gefunden, die ihren Sturz verschuldet hatte. Wenn an der Anschuldigung etwas dran wäre. Vielleicht doch?
In seiner Kindheit hatte es das Pflegeheim noch nicht gegeben. Erst vor ungefähr fünfzehn Jahren wurde das Heim auf einem Acker errichtet, zirka hundert Meter entfernt von einer Siedlung mit wenigen Einfamilienhäusern. Nun war nur mehr die Rückseite des Heims unverbaut. Es verfügte über einen großen Garten, der, natürlich durch einen Zaun getrennt, an ein Maisfeld grenzte. Gleich neben dem Heim hatte man später eine Ambulanz hingestellt. Das Pflegeheim machte einen freundlichen, gepflegten Eindruck, sowohl die ansprechende Fassade als auch die inneren Räumlichkeiten. Das Entree war großzügig über zwei Stockwerke verteilt. So konnten darin zwei riesige Palmen fast ein Gefühl eines Urlaubshotels vermitteln. Wären da nicht alte und zum Teil gebrechlichen Menschen im Rollstuhl sitzend oder einen Rollator vor sich herschiebend gewesen. Die meisten von ihnen wirkten abwesend, manche aber grüßten laut und nickten mit dem Kopf, sichtlich erfreut, einem anderen Menschen zu begegnen. Gustav schien für die Bewohner des Heimes noch im Leben zu stehen. Mit ausladenden Schritten strebte er Richtung Stiegenaufgang. Er grüßte die Leute, die ihm begegneten, kurz zurück, konnte aber doch Enttäuschung in ihren Gesichtern sehen. Sie wurden nicht von ihm besucht, er hatte auch keine Worte des Zuspruchs oder der Aufheiterung für sie parat. Ohne sich umzusehen, nahm er rasch die Stufen in den zweiten Stock und ging direkt zum Zimmer seiner Mutter. Sie lag wie erwartet im Bett. Ihr rechter Arm war oberhalb des Bauches am Körper fixiert, der Oberarm seitlich nach unten und der Unterarm angewinkelt.
»Endlich holst du mich ab«, sagte sie forsch zur Begrüßung. Als sie versuchte sich aufzurichten, gelang es ihr nicht. Durch die Anstrengung keuchte und jammerte sie.
»Bleib doch liegen«, sagte er und beugte sich für einen flüchtigen Kuss über sie. Es kostete ihn Überwindung, ihren Atem zu spüren, ihr körperlich so nahe zu sein. Diese Frau war nicht mehr seine Mutter, vielleicht schon nicht mehr, als er Vera ermordet hatte. Eher hätte er sich damals einem Fremden anvertraut als ihr. Er hatte sich mutterseelenallein und verlassen gefühlt. An dieser Einsamkeit hatte sich im Laufe der Jahre für ihn wenig geändert. Der Mutter fiel die Stimmung des Sohnes nie auf, sie beanspruchte ihn und forderte seine Zuneigung. Er konnte sich nicht einfach davonstehlen. Mitleid, das war es, er hatte Mitleid mit ihr. Er hatte mit Jakob noch nie darüber geredet, ihn gefragt, wie er zur Mutter stand. Wie sollte er auch? Seine Gespräche mit Jakob waren immer kurz und oberflächlich geblieben. Mit wem waren seine Gespräche nicht oberflächlich? Hatte er jemals einer anderen Person sein Herz ausschütten können? Nicht einmal dem Therapeuten hatte er seine Tat, Veras Ermordung erzählt. Es gab keinen Menschen, dem er sich anvertrauen hätte wollen.
»Du machst ja Sachen.« Er zog einen Stuhl zum Bett der Mutter und setzte sich zu ihr.
»Die Murer war’s«, sagte sie trotzig. »Sie hat mich von hinten gestoßen. Ich habe sie nicht gleich bemerkt, aber als ich schon am Boden lag, war sie ganz knapp hinter mir und hat Hoppala gesagt.«
»Aha. Du hast also nicht gespürt, dass sie dich gestoßen hat.«
»Doch. Aber realisiert habe ich es erst, als ich schon gestürzt war. Du kennst sie ja von früher. Wenigstens du musst mir glauben.«
»Hat es jemand gesehen?«
»Nein. Natürlich nicht. Die Frau ist raffiniert. Das weißt du doch noch.«
»Hm. Also, du hast keinen Stoß gespürt, oder?« »Nicht direkt einen Stoß. Ich glaube, sie hat mich mit ihrem Stock zum Fallen gebracht. Den hat sie zwischen meine Füße geschoben und ich bin darüber gestolpert.«
»Wozu hat sie einen Stock dabei, wenn sie im Rollstuhl sitzt?«, fragte Gustav verwundert.
»Als Hilfe, wenn sie aufstehen muss.«
»Und führt sie den Stock am Schoß mit?«
»Nein, der steckt in einer Halterung des Rollstuhls, rechts hinten.«
»Das würde bedeuten, dass sie, während sie hinter dir hergefahren ist, den Stock aus der Halterung gelöst haben muss. Hör doch auf, liebe Mutter. Damit sie das bewerkstelligen kann, müsste sie stehenbleiben, um dich dann mit dem Stock in der Hand einzuholen.«
»Ich erfinde das nicht. Sie war so knapp hinter mir.« Offensichtlich empört über seine Zweifel zeigte sie mit Daumen und Zeigefinder der linken Hand einen Abstand von vielleicht fünf Zentimetern. Gustav wollte nicht weiter über ihre Anschuldigungen diskutieren. Mit logischen Argumenten war seine Mutter kaum zu überzeugen.
»Du hast Glück gehabt, dass es ein glatter Bruch ist. Mit deiner Osteoporose hätte es viel schlimmer ausgehen können.«
»Glück? Was wird mir die Murer als nächstes antun? Wenn du mich nicht bald mitnimmst, kannst du nur mehr meine Leiche abholen.« Die Stimme seiner Mutter bebte.
»Du hattest schon immer eine blühende Fantasie. Du bist dir doch gar nicht sicher, wie es wirklich passiert ist. Nur, weil die Murer knapp hinter dir war und Hoppala gesagt hat, glaubst du, dass sie dich zu Fall gebracht hat.«
»Leider kann ich den lieben Jakob nicht anrufen. Er würde mich verstehen. Stell dir vor, sie haben mir das Handy weggenommen.«
Ein Klopfen an der Tür, die Pflegerin trat gleich darauf ein. Sie bat Gustav, mit ihr zu kommen, die Stationsleiterin hätte jetzt Zeit für ein Gespräch. Er versicherte der Mutter, dass er gleich wieder bei ihr sein werde und ging hinter der Pflegerin her, die eine pummelige Figur hatte. Gemeinsam kamen sie am Aufenthaltsraum der Station vorbei. Der Fernseher war eingeschaltet und ein alter Film wurde gezeigt. Gustav glaubte, die Stimme von Hans Moser zu erkennen. Wie lange der wohl schon tot war? Gustav ließ seinen Blick über die Gesichter der Anwesenden schweifen. Eine Frau im Rollstuhl, es gab deren drei im Raum, fiel ihm sofort auf. Sie schaute mit offenem Mund gebannt auf den großen Bildschirm. Das Gesicht sah kindlich, rund, etwas blass aus und erinnerte ihn an eine Kinderpuppe aus Plastik, trotz ihres fortgeschrittenen Alters. Das war also Frau Murer. Er erkannte sie, war sich sicher, so sah sie also jetzt aus. Sie hatte schon damals ihre Haare dunkelrot gefärbt, eigentlich nicht immer. Manchmal färbte sie diese auch strohblond. Jedenfalls hatte sie damals Unmengen an Haarspray verwendet, denn kein Windstoß konnte ihrer Frisur etwas anhaben. Die Schwester hatte bemerkt, dass er stehengeblieben war und die Frau im Rollstuhl beobachtete. Das ist Frau Murer, flüsterte sie.
Gustav kannte die Stationsleiterin, die ausgesprochen groß gewachsen war und den Körper einer Amazone hatte. Ihre langen Haare fielen gerade nach unten, sie waren schlohweiß. Kaum hatte sie sich in ihrem Zimmer Gustav gegenübergesetzt, legte sie schon los. Für eine Frau hatte sie eine dunkle Stimme. Das gehe so nicht, sagte sie mit Nachdruck. Wenn seine Mutter ihre Beschuldigung nicht zurückzöge, müssten sie den Verdacht auf Fremdverschulden in den Bericht schreiben. Es gebe aber weder Zeugen noch irgendeinen Hinweis, dass Frau Murer seine Mutter gestoßen habe. Eigentlich sei das denkunmöglich. Frau Murer sitzt im Rollstuhl und könne sich gar nicht so weit nach vorne beugen, um jemanden, der vor ihr steht, mit den Händen zu erreichen. Das müsse ihr erst jemand zeigen. Frau Murer sei mit aller gebotenen Vorsicht befragt worden, ob sie jemanden versehentlich von hinten berührt habe oder ob sie mit ihrem Stock auf etwas gezeigt habe und es dabei passiert sei. Er müsse wissen, dass Frau Murer an Alzheimer leide, und zwar in einem fortgeschrittenen Stadium. Sie habe nur gelächelt und gefragt, wann sie wieder nach Hause dürfe. Diese Frau sei gar nicht fähig, jemandem etwas anzutun und wenn eine Berührung stattfand, dann nur unabsichtlich. Seine Mutter habe schon vor einigen Tagen behauptet, dass Frau Murer ihren Kuchen gestohlen habe. Das sei ein Blödsinn, Frau Murer habe ihren eigenen Kuchen gar nicht angerührt, da sie nie Kuchen esse. Lieber esse sie Schokolade. Warum, um Gottes Willen, solle sie dann einen Kuchen stehlen, den sie gar nicht mag. Was hat ihre Mutter gegen Frau Murer, kennen die Frauen einander? Gustav erzählte, dass seine Familie und die Familie Murer während seiner Kindheit in einem Haus wohnten und verfeindet waren. Frau Murer und auch ihre Kinder seien damals sehr gemein zu ihm gewesen. Aber das sei doch kein Grund, sagte die Stationsleiterin. Das müsse doch Jahrzehnte her sein. Sie habe von Frau Murer noch kein einziges böses Wort gehört. Sie spreche kaum, schaue meistens fern oder schlafe. Nur manchmal versuche sie, das Haus zu verlassen. Aber da sie ein Armband trüge, das sofort Alarm schlägt, wenn sie sich dem Eingang nähert, sei das auch kein Problem. Was er dazu sage? Ob er nicht auf seine Mutter einwirken könne, dass sie mit diesen Beschuldigungen aufhört. Wenn das so weiterginge, müsse man sie in den ersten Stock verlegen. Dort seien aber viele Männer, was – da kenne sie seine Mutter schon gut genug – zu den nächsten Problemen führen könnte. Gustav schlug vor, ob man nicht die beiden Damen miteinander ins Gespräch bringen sollte. Vielleicht würde das die Situation entkrampfen. Das habe sie schon angeregt, sagte die Stationsleiterin resignierend. Seine Mutter habe sich buchstäblich mit Händen und Füßen gewehrt.
Am Rückweg zum Zimmer seiner Mutter blieb Gustav wieder beim Aufenthaltsraum stehen. Frau Murer hatte den Mund immer noch offen und starrte gebannt auf den Fernseher. Gustav glaubte zu sehen, dass Speichel aus ihrem Mund lief, da ihre Bluse beim Hals fleckig war. Er überlegte, ob er zu ihr hingehen und sich vorstellen sollte. Hallo, Frau Murer, könnte er sagen. Erinnern Sie sich noch an mich? Gustav Mösa. Da fiel ihm ein, dass sein Nachname, besonders von den Murer Kindern, verspottet worden war.
Das Wort hatte er noch nie gehört, daher fragte er seine Mutter, was eine Möse sei. Das sagten die Kinder zu ihm, oder sie sangen, Gustav hat eine Möse, Gustav ist eine Möse. Als er erfuhr, was das Wort Möse bedeutete, schämte er sich sehr und kränkte sich. Wir heißen nicht Möse, sagte seine Mutter zu ihm. Die könnten nur den Namen nicht richtig aussprechen, geschweige denn schreiben, mit dieser Begründung wollte sie ihn beruhigen.
Frau Murer drehte den Kopf zu ihm, als er am Aufenthaltsraum vorbeiging. Gustav war kurz davor, ihr zu winken. Er unterließ es, blieb jedoch wie gelähmt stehen und spürte eine tiefe Abneigung in sich aufsteigen. Der Hass, den diese Frau gegen ihn und seine Familie versprüht hatte, war für ihn wieder zu spüren. Damals hatte er Angst vor ihr gehabt. Nun schien sie harmlos zu sein, unfähig, sich ohne Rollstuhl zu bewegen, unfähig, ihre wirren Gedanken zu einer Hasstirade zu bündeln oder Pläne gegen seine Mutter zu schmieden. Nach einigen Sekunden sah sie wieder auf das Fernsehbild. Sie hatte keinerlei Regung gezeigt, als sie ihn sah.
Er trat wieder ins Zimmer seiner Mutter, sie schlief jetzt. Ihre Gesichtszüge wirkten entspannt. Sie sah so friedlich aus. Gustav betrachtete lange ihr Gesicht. Er wollte ein wenig warten, ob sie aufwachte und er mit ihr über die Alternative eines Wechsels in die Fast-nur-Männerabteilung sprechen konnte. Wenn sie röchelte, erwartete er, dass sie gleich die Augen öffnen würde. Doch sie schlief weiter und atmete wieder ruhig. Warum konnte er seine Mutter nicht lieben? Er fühlte sich bloß für sie verantwortlich, im Grund war sie aber ein Überbleibsel aus seiner Kindheit, das ihm oft lästig war. Er konnte sich nicht erinnern, war sie jemals herzlich und fürsorglich zu ihm gewesen, als er ein Kind war? Er konnte sich an keine Situation erinnern, in der sie ihm Mutterliebe zeigte. Überhaupt erschienen ihm seine Kindheit und frühe Jugend eine Abfolge trauriger Ereignisse gewesen zu sein.
Seine Familie hatte bereits im Gemeindebau gewohnt, als die Mutter mit seiner Schwester das Haus verließ. Er wusste nicht mehr den Grund dafür. Jakob und er blieben zu Hause und um sich die Zeit zu vertreiben, durchsuchten sie in der Küche die Schubladen und Regale. Sie gingen nicht so weit, einen Sessel heranzurücken, um die Kredenz auch oben zu inspizieren. Es gab auch im unteren Teil genug zu entdecken. Die Messer ließen sie in der Lade. Das ist gefährlich, hatte ihnen die Mutter immer wieder eingeschärft. Stattdessen spielten sie mit den Kochlöffeln. Mal dienten sie als Schwert, dann schlugen sie damit auf einen Topf, als sei er eine Trommel. So entdeckten sie, dass große Töpfe anders klangen als kleine. Sie wurden immer ausgelassener und vergaßen, dass die Mutter jeden Augenblick in der Tür stehen konnte. In einer Schublade fanden sie eine Schere. Hatte die Mutter nicht gesagt, dass sie bald zum Friseur müssten, weil die Haare schon viel zu lang waren? Beide hassten es, zum Friseur gehen zu müssen, denn ihre Haare wurden so kurz geschnitten, dass man die Kopfhaut darunter sehen konnte.
Aus Spargründen sollte es möglichst lange dauern, bis sie wieder zum Friseur mussten. Schließlich kostete der Friseurbesuch einiges. Gustav kam die Idee, sie könnten sich gegenseitig die Haare schneiden und der Mutter so das Geld für den Friseur ersparen. Jakob zögerte, Gustav musste ihn dazu überreden. Gesagt, getan. Gustavs blonde Locken fielen zu Boden und mischten sich mit den schwarzen Haaren seines Bruders. Irgendwann beschlich sie das Gefühl, dass es keine besonders gute Idee war, sich gegenseitig die Haare zu schneiden. Aber es war zu spät, die Haare lagen bereits am Boden. Sie kamen nicht mehr dazu, sie aufzukehren und Schere, Topf und Kochlöffel wieder einzuräumen. Die Mutter stand plötzlich in der Küchentür und stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Sie schimpfte und drohte den beiden. Man könne sie keine fünf Minuten allein lassen. Wer nicht hören will, muss fühlen, drohte sie. Jakob und Gustav begannen gleich zu weinen. Der Kochlöffel lag griffbereit, um die Kinder damit zu bestrafen. Sie bekamen damit so lange Schläge auf ihre nackten Hintern, bis der hölzerne Kochlöffel zerbrach. Den zweiten Kochlöffel verwendete sie nicht mehr, der wanderte zum Glück ungebraucht in die Lade zurück. Die beiden Buben rutschten mit ihrem Hinterteil heulend auf dem kühlen Linoleum des Küchenbodens herum. Das Gemisch aus schwarzen und blonden Haaren blieb an ihnen kleben. Die Mutter befahl ihnen, die Haare vom Hintern des jeweils anderen zu entfernen und auch die Hände und das Gewand zu säubern. Am Abend bekamen sie zur Strafe nichts zu essen, obwohl sie Hunger hatten. Immerhin erzählte die Mutter dem Vater nichts davon.
Gustav schlich zur Tür, hinaus aus Mutters Zimmer. Er ging noch einmal zur Stationsleitung und fragte, ob man seiner Mutter beim Telefonieren nicht behilflich sein könnte. Wenn sie einen Anruf bekäme, müsste man ihr nur das Handy in die linke Hand drücken. Die freundliche Pflegerin mit dem slowakischen Akzent stimmte zu. Es werde nicht immer möglich sein, weil sie viel zu tun hätten. Dann müsse er halt etwas später noch einmal anrufen. Die Stationsleiterin kam zur Tür heraus und fragte, ob Gustav seine Mutter von diesen unbegründeten Vorwürfen abbringen konnte. Sie habe geschlafen, sagte Gustav. Er werde aber am Sonntag wiederkommen.