Читать книгу Zwei Räder, ein Land - Martin C Roos - Страница 6
ОглавлениеGartenschläger, Ossibäcker, Elbfischer
In Radschuhen und greller Plastikkluft pirsche ich durch den matschigen Wald westlich von Leisterförde. Bis 1989 war Pirsch hier Alltag für die Soldaten an der DDR-Grenze. Im April 1976 war jedoch ein Sonderkommando bei Leisterförde unterwegs: Stasi-Scharfschützen, die außer ihren Gewehren den Schlüssel für eine Tür im Grenzzaun dabeihatten. Sie legten sich auf ›BRD‹-Seite tagelang auf die Lauer. Am letzten Apriltag erfüllten sie ihre Mission. Die Scharfschützen erschossen Michael Gartenschläger, einen Mann, der die DDR mehr hasste als er sein eigenes Leben liebte. Wo und wie er sich an der Grenze zwischen Holstein und Mecklenburg zu schaffen machte, soll mir das Gartenschläger-Eck verraten. Deswegen bin ich am Ende des ersten Fahrtags noch einmal in den Wald gestapft.
Vor dem Wald steht der Pilz. Er besteht aus zwei Metern Eisenstiel plus rostigem Blechhut und ist einziges Relikt der Grenzkompanie bei Leisterförde. Pilz nannten ihn die Wachsoldaten, die unter seinem Hut Schutz fanden vor Regen und Schnee. Pilz heißt er noch heute, sagen meine Gastleute, die mir einen Besuch empfehlen. Am Stiel gebe es eine Infotafel zur Grenze. Auch wenn es einige Kilometer entfernt ist: Auf dem Rad abends die Beine auslockern, ohne Gepäck, kommt mir zupass.
Die Kaserne, erfahre ich am Pilz, steht seit 2007 nicht mehr. Der Grenzalltag war stressig, behauptet die Infotafel. »Über Michael Gartenschläger haben sie kein Wort geschrieben« spricht mich von hinten ein Mann an, Spaziergänger anscheinend. Ich frage nach diesem Gartenschläger. Der Mann sagt nur »ein Opfer des Regimes« und dass ich doch den alten Kolonnenweg bis zum Gartenschläger-Eck gehen möge, um mehr zu erfahren. Er geht weiter und lässt mich ratlos zurück.
Was fange ich an mit diesem halbgaren Hinweis? Wo verlief denn genau die Grenze? Wie weit ist wohl dieses Eck? Warum soll ich dieser Geschichte nachgehen, wo ich doch nach dem Fahrtag müde und erschöpft bin. War nicht mein Plan, mit meinen Kräften hauszuhalten, um sie nicht frühzeitig zu verschleißen?
Ein toller Reporter bist du, sehr solide. Hast dir da ein schönes Korsett von Terminen verpasst für deine Länderfahrt. Wie ein Briefmarkensammler hast du dich monatelang gefreut, wenn du Lücken in deinem Rechercheplan mit hübschen Marken füllen durftest: ein Örtchen hier, ein Menschlein dort. Wie kleingeistig ist das denn? Jetzt stehst du hier wie ein Tourist, der sich bloß nicht überanstrengen will. Wenn es dich schon am ersten Tag überfordert, einer Spur nachzugehen ohne sicher zu sein, ob das in dein Markenalbum passt, dann lass die Reise lieber bleiben.
Eine Weile stehe ich noch unschlüssig am Pilz, stiere auf die Fichten des alten Kasernenareals und finde es in Ordnung, mal eben online zu schauen: Grenzverlauf Mecklenburg-Holstein, ja, es gibt einen deutlichen Grenzknick. Ich kalkuliere eine halbe Fußstunde und fahre zum alten Wald westlich hinter Leisterförde. ›Wölfe suchen auch in diesem Gebiet nach Beute‹ sagt das Schild am Baum, wo ich mein Rad parke. Der Pfad, dem ich danach folge, gehört keinen Zweibeinern: Ein Trupp Wildschweine rast auf mich zu. Die Bache erschrickt offenbar ebenso wie ich, lenkt ihr Gefolge drei Meter vor mir abrupt ins Dickicht. Mein Herz klopft stärker als am Holsteinhügel nach Schramms Hof, wo das Schwein in Grün posiert.
Mitten im vermoosten Wald stoße ich auf Mauerreste, überwuchert von Gebüsch und jungen Bäumen. Hier stand der Hof Wendisch Lieps, erfahre ich am Gedenkstein. Zwei Jahre nach Mauerbau wurde der Hof ›beseitigt‹ – wie zahllose Siedlungen nahe der Grenze, deren Bewohner dem DDR-Regime als ideologisch unzuverlässiges Ungeziefer galt. ›Aktion Ungeziefer‹ war der Deckname fürs ideologische Reinemachen an der Grenze.
Ums einstige Hofareal buscht sich Unterholz auf. Während ich mich weitertappend darüber ärgere, dass mir Ranken die Radhose zerfasern, habe ich den Rand des alten Waldes erreicht. Junge Kiefern stehen vor mir, dicht gepflanzt in Reih und Glied. Hier war der Todesstreifen. Mulmigen Gefühls tappe ich im Slalom gen Westen. Mulmig ist mir, weil entlang der einstigen innerdeutschen Grenze noch zehntausende Landminen herumliegen sollen. Durch ein Kieferndickicht mit Friedhofsstimmung komme ich zum Grenz-Eck. Die Grenze knickt hier von West auf Süd, was eine Ecke in Richtung Holstein exponiert. Hier machte sich Michael Gartenschläger zweimal am Zaun zu schaffen. Beim dritten Mal wurde er erschossen. Woran der westdeutsche Bundesgrenzschutz nicht unschuldig war.
Gartenschläger stammt aus Brandenburg, war bei Protesten gegen den Mauerbau im Alter von 17 Jahren festgenommen und in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Mit 27 Jahren kaufte ihn die Bundesrepublik frei, er ließ sich in Hamburg nieder, mit dem Auto keine Stunde entfernt von dem Waldstück, in dem ich stehe. Im Jahr 1976, Gartenschläger war inzwischen 32 Jahre alt und sein Hass auf das Ostregime ungebrochen, erdachte er eine Racheaktion. Er wollte der Welt vor Augen führen, dass an der Grenze tatsächlich Selbstschussanlagen montiert waren – beständig geleugnet von der DDR. Im März demontierte er das erste Gerät und verkaufte es an den Spiegel; im April das zweite. Seine Umtriebe stießen auf Unmut beim westdeutschen Grenzschutz. Der informierte über Funk alle Bundesgrenzer der Gegend über Gartenschlägers Aktionen mit der Anweisung, ihn von der Westseite her abzupassen – zumal in Holstein ein gerichtlicher Bescheid wegen Waffenbesitzes gegen ihn vorlag. Ostdeutsche Grenzer hörten den Funk der Westdeutschen mit und alarmierten die Staatssicherheit. Die schickte ihr Spezialkommando.
Wer am 30. April 1976 zuerst schoss, konnte nie aufgeklärt werden. Fakt ist: In der Nacht zum 1. Mai starb Gartenschläger an Treffern in Herz und andere Organe. Die Stasi nahm ihn mit und ließ ihn zehn Tage später als ›unbekannte Wasserleiche‹ auf dem Schweriner Waldfriedhof einäschern. Von der Grabstelle erfuhren Familie und Freunde erst nach der Wende.
Wo das Grenz-Eck westlich in den Wald zeigt, treffe ich auf die Gedenkstätte: Original-Grenzpfosten, ein Stück Grenzzaun, ein mannshohes massives Holzkreuz, in hellem Blech ummantelt. Auf einem Felsbrocken ist zu lesen, das Sonderkommando bedachte Gartenschläger mit einhundertzwanzig Schüssen. Am Zaunstück hat die Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. eine Selbstschussanlage montiert. Angesichts ihrer Primitivität wirkt sie besonders perfide: In einen zigarrengroßen Zündzylinder münden Spanndrähte, die entlang des Zauns laufen. Auf dem anderen Zylinderende steckt ein Metalltrichter – man könnte es für eine Kinder-Flüstertüte halten. Werden die 120 Gramm TNT im Zylinder elektromechanisch gezündet, zerfetzen hundert scharfkantig gezackte Metallsplitter Tiere, Menschen, einfach alles in einer Reichweite von 25 Metern. Die Splittermine SM-70, so der offizielle Name, wurde von der DDR seit 1969 zu Zehntausenden montiert. Das Regime behauptete, es handelte sich um Attrappen, bloß zur Abschreckung, und unterzeichnete 1975 die Menschenrechtserklärung von Helsinki. Demontiert wurden die Splitterminen erst 1984, weil der Westen Druck ausübte. Ohne SM-Rückbau hätte die DDR einen Milliardenkredit nicht bekommen und wäre womöglich zahlungsunfähig geworden.
Als ich von der Gedenkstätte zurück auf den lichten Grenzstreifen gelange, ist die Abendsonne hinter schwarzen Schleiern versackt. Im Süden und Osten schimmern noch blaue Flecken zwischen Gewölk. Instinktiv hoffe ich, Blau möge sich durchsetzen. Oder lieber doch nicht? Mit himmlischem Blau wirbt ja ausgerechnet die AfD. Und später im Jahr werden sich die Blauen bei drei von vier Länderwahlen Ostdeutschlands zu Spitzenparteien in den Parlamenten mausern.
Grass pinselte einst ein Aquarell, das mir in den Sinn kommt: Deutschland in Braunrotgrün-Tönen. Darüber ist in breiter Kurvatur – die Assoziation Kothaufen liegt nicht fern – handschriftlich schwarz geschrieben: ›Seit Jahren liegt eine Last auf meinem Land. Versteinerter Brei, klebfest, nicht abzuwählen.‹
Zweiter Fahrtag: ›Heimat bewahren‹ begrüßt mich ein AfD-Plakat am Rande Boizenburgs. DDR-Heimat wird von der AfD wohl nicht gemeint sein. Dabei bietet Boizenburg den sogenannten Ostalgikern zwei anschauliche Objekte. Das eine ist essbar und schmeckt lecker. Im anderen Objekt kann man essen, aber es wirkt völlig geschmacklos. Aber der Reihe nach.
Von Leisterförde nach Boizenburg sind es zwanzig flache Kilometer, gesäumt von Wald und bespielt vom Bach namens Boize. Im Gegensatz zu Berlin bietet das Städtchen Frühstücksgarantie: ›Handwerksbäckerei‹ weist im Zentrum ein Schild in die Königstraße. Fünf Minuten später stehe ich, noch ohne Frühstück, bei Thomas Stenschke in der Backstube.
Kilometer 126: Ostalgie in Brötchenform
Stenschke holt aus einem großen Plastikeimer sein liebstes Kind: den Teig aus dem er ›Ossis‹ macht. »Drinnen steckt eine ganz besondere Zutat« schmunzelt der 53-Jährige »und das ist Zeit«. Stenschke setzt abends einen Vorteig an, den er frühmorgens ein zweites Mal durchknetet. Täglich bäckt er an die hundert jener Doppelbrötchen, die er an der Straße als ›DDR-Brötchen‹ bewirbt, die im Laden aber einfach ›Ossis‹ heißen und deren Korb auch so beschriftet ist. Wie reagieren die Menschen in Boizenburg auf Stenschkes ›Ossis‹? »Beschwert oder gemeckert hat niemand« sagt der Bäcker. »Das hat sicher auch damit zu tun, dass ich von hier stamme. Meine Oma übernahm den Laden vor dem Krieg.« Zu DDR-Zeiten übernahm Stenschkes Vater. Der buk nach der Wende weiter DDR-Brötchen, aber jedes Jahr nur einmal: zum einstigen ›Tag der Republik‹. Politischen Hintergrund dafür gab es keinen, sagt Stenschke. »Das war ein reiner Werbegag.« Seit Oktober 2015 bietet der Bäcker seine ›Ossis‹ nun täglich in der Königstraße feil.
Als ich mich nach ›Ossi‹-Lehrgang und -Frühstück verabschiede, lasse ich mir für 60 Cent eines der aromatisch duftenden Doppelbrötchen einpacken.
Wenn es nicht bis zur Nordsee dümpelte, wurde das Brötchen vielleicht von einem Schwan oder einem Fisch gefuttert, und das kam so: Ich fuhr raus aus Mecklenburg – Brücke über die Elbe – holprige Holzbohlen am Geländer – Brötchentüte nicht sicher verzurrt auf dem Packsack – ›Ossi‹ hopst in die Elbe.
Noch ist es nicht so weit mit mir, noch habe ich mein Brötchen und bin in Boizenburg. Am Ortsausgang gab es zu DDR-Zeiten eine Kontrollstelle, sieben Kilometer vor dem finalen Grenzzaun. Heute heißt sie ›Checkpoint Harry‹. Ein Harry S. kaufte den Flachbau nach der Wende und baute ihn als Imbiss, Gaststätte, Partyservice aus. Neben dem Eingang prangt mannshoch ein Fliesenmosaik an der Wand. Es zeigt einen lächelnden DDR-Grenzer, winkend, mit glänzenden Schaftstiefeln, in der Rechten hält er ein halbvolles Gläschen mit rotem Sekt. Gerne hätte ich Harry S. befragt, ob er mit dem Grenzer einen derben Spaß macht oder aber alte Zeiten zurücksehnt. Aber aus Holstein weiß ich schon: Wer zu früh kommt, den bestrafen verschlossene Türen. ›Checkpoint Harry‹ öffnet wie der Imbiss gestern in Berlin erst spät vormittags. So mache ich mich rasch daran, das geschmacklose Fliesenbild und den Osten hinter mir zu lassen. ›Einreisen‹ werde ich erst wieder in 1472 Kilometern.
Das Strafwort für Radfahrer, die nach Westen rübermachen, heißt Westwind. Mit jeder Stunde bläst er heftiger; auf den exponierten Elbhängen hinter Boizenburg geradezu ekelhaft. Ich muss mich geradewegs hindurcharbeiten und ein Stückchen Holstein queren. Dann quere ich die Elbe und bin in Niedersachsen.
Hohnstorf heißt der erste Ort. Ohne zehrenden Wind könnte er nett sein. Doch die Häuser am Elbdeich sind verteilt, als repräsentieren sie die Großzügigkeit des gesamten Flächenlandes: Es findet sich kein Windschatten, überall wirbelnde Brisen. Der Tag wird noch lang, denke ich, du hast keinen ›Ossi‹ mehr und kaum anderen Proviant. Ob sich in Hohnstorf etwas kaufen lässt? Google spuckt Edeka aus, aber das ist abseits, jenseits der Bundesstraße, das widerstrebt mir. Ich bleibe auf der Route, probiere mein Glück am letzten Haus, Pension und Ferienwohnung in einer Sackgasse namens Fischerzug. Vielleicht räumen die dort eben erst das Frühstück weg und…
»Ich hab momentan nur auf Vorbestellung« unterbricht meine Spekulationen der Mann, der gerade aus der Pension tritt. Glaubt er, ich suche eine Bleibe? Nein, stellt sich heraus, er glaubt, ich will Fisch.
Eckhard Panz ist Fischer in vierzehnter Generation, einer der letzten seiner Zunft an der Elbe. Panz nimmt mich mit in den Anbau des Haupthauses, wo es in einem mächtigen Bassin brodelt und spritzt. »Meerforellen« erklärt er und lupft eine heraus, »so an die sieben Kilogramm «. Panz fährt zweigleisig, er vermietet und handelt mit Fischen. Aber eigentlich hat er Maurer gelernt.
Mehr als tausend Fischer hatten vor gut hundert Jahren ihr Auskommen entlang jenes Elbabschnitts, den südlich das Land Niedersachsen begrenzt. Allein zwanzig Fischer lebten in Hohnstorf. Heute gibt es noch fünf in ganz Niedersachsen, also auf knapp 250 Elb-Kilometern.
Seine berufliche Wende verortet Panz im Jahr 1999, da war er 33 Jahre alt. »Nachdem die ganzen Dreckschleudern im Osten dicht gemacht hatten, hatte sich die Elbe tatsächlich erholt, damit hatten selbst die Biologen nicht gerechnet.« Also übernahm er doch das Revier vom Vater, das vom ›Fischerzug‹ 18 Kilometer flussabwärts reicht und sieben aufwärts. Panz fischt Aal, Zander und etliches mehr. Meerforellen, erklärt er, sind kräftige Lachsartige, die sogar die Fischtreppe am Wehr Geesthacht meistern – anders als der verwandte Stint. »Mit dem sieht es jetzt ganz schlecht aus, sagt der Kollege in Hoopte.« Und schon sind wir bei Flussthema Nummer eins für Hamburgs Einzugsgebiet. Das Thema ist nicht Elphi sondern Elbvertiefung – dieses Jahr die insgesamt zehnte, sagt Panz. »Ganz früher war die Elbe im Hafen vier Meter tief, jetzt sind es sechzehn. Was an Fischlarven nicht allein durchs Baggern kaputt geht« schildert Panz die Konsequenzen »das reißt jetzt die immer stärkere Strömung mit.« Meine abschließende Frage, wie es in seiner Familie wohl weitergeht mit der Fischerei, beantwortet Panz ausweichend. »Der Sohn geht noch zur Schule – die Fischerei muss man in den Adern haben!« Ein Auto hält vor dem Haus, Kunden holen vorbestellten Fisch. Die Stammkundschaft kommt zu Panz nicht nur samstags auf den Markt in Uelzen, sondern täglich auch direkt in den Fischerzug an der Elbe. Wie sagt doch Panz am Schluss – und es klingt leicht verbittert: »Jahraus jahrein sechs Wochentage Arbeit, und dann am siebten Tag alles ausgeben.«
Der Fischer: Eckhart Panz, einer der letzten seiner Zunft, an der niedersächsischen Elbe vor seinem Fischerboot.
Mittag naht, ich denke an die üppigen Meerforellen. In Hoopte, weiß ich von Panz, betreibt sein Kollege ein Fischrestaurant. Doch bis dahin fehlt eine knappe Stunde Fahrt – bei normalem Gegenwind. Was sich mir auf dem Deich hinter Hohnstorf bietet, verdient eher die Bezeichnung Sturm. Ich hänge den Körper über den Lenker, schaue rechts zu Elbe: imposant, mitreißend ihre Wasser. Für mich schwimmt ein Schluck Heimat mit, H2O aus Sachsen, Stammland eines Teils meiner Familie, wohin wir jedes Jahr per Interzonenzug fuhren. Start war stets Nordbayern, dessen Flüsse in den Rhein entwässern. Ziel aber war das Einzugsgebiet der Elbe, die sich mir als braun und schlammfarben einprägte, ähnlich gefärbt wie die Ufermauer gegenüber von Hohnstorf. Dort liegt Lauenburg. Heute gehört es zu Holstein, war einst aber sächsisch. Unter August von Sachsen-Lauenburg traf 1627 Wallenstein oben auf dem Schlossberg ein, wo Tilly Quartier genommen hatte. Man beratschlagte, stellte dem dänischen König unannehmbare Bedingungen, denn wirklich verhandeln wollten die Kriegsfürsten nicht, sondern möglichst rasch die Waffen sprechen lassen. Unter dieser Hau-drauf-Mentalität leidet noch unsere Kultur, so die Meinung von Heinrich August Winkler. ›Diese Art von politischer Debatte im Geiste der Religionskriege ist ein Stück der deutschen Pathologie‹ sagte er in einem Interview mit der Welt am Sonntag.
Anders als Tilly und Wallenstein, die ohne großen Widerstand vorankamen, kämpfe ich hier und heute vergeblich gegen Böen, die mich manchmal fast zum Stillstand bringen. Ich verlasse den Elbdeich, verlege meine Route auf kleine Fahrwege – fast zu klein hinter Artlenburg, wo ich mich über einen Ackerweg quäle. Danach offeriert die Elbmarsch herrlichstes Radrevier: Baumgruppen, unzählige Kanalbrücken, die Route ist schick und kurvig.
Kilometer 49, ich bin hungrig, erreiche die ›Milch Tankstellen‹. Es gibt eine Abfülleinrichtung sowie einen Automaten, bestückt mit Feststoffen. Aber Fehlanzeige: Es wird dringend geraten, die Rohmilch vorher abzukochen, und über ungekochte Eier oder rohes Fleisch würde ich mich, wie ich jetzt weiß, erst auf Etappe 14 meiner Deutschlandfahrt hermachen, als ich in Franken vor Hunger fast vom Rad kippe.
Hoffnung schöpfe ich einen Kilometer weiter, in Hunden, ein Hofcafé naht. Puuuhh, öffnet erst 14 Uhr, da wünschte ich mir die Berliner Stutenmilch, die mir gestern stundenweise schmelzenden Nachschub lieferte. Heute ist Tag zwei und schon muss ich an meine Notreserven, lehne das Rad ans Holzgerüst mit der Café-Werbung. Tief grabe ich die Packtasche um, auf der Suche nach den geheiligten Kohlenhydraten. Es ist zum Verzweifeln, wo sind die denn? – So, alles rausgezerrt aus der Tasche!
Du solltest mehr Sorgfalt walten lassen. Warum hast du dich denn überhaupt auf so wenig Packplatz versteift?
Ständig fehlt es dir an Proviant.
Jetzt weiß ich das auch. Konnte ich ahnen, dass es so schwierig sein würde, auf dem Land an Futter zu kommen? Langsam verlier ich die Geduld – autsch, mein Daumen! Von Blut rötet sich der Nagel. Dass der Packsack innen dieses scharfe Ende aus Plastik hat… . Aber muss mich das weiter aus der Ruhe bringen? – »Alles gut?« Eine Radfahrerin hat neben mir gehalten. Ob ich eine Panne hätte. Alles okay, sage ich, meinen Krempel wieder einpackend. Ich rede mir die Stimmung wieder schön und erzähle der Frau, wie gut mir die offene Naturlandschaft gefällt.
Von wegen Naturlandschaft, da sei ich aber auf dem Holzweg. Ich durchfahre, erklärt mir die Radfahrerin, seit Kilometern das Gebiet einer menschengemachten CO2-Katastrophe. »Das kommt daher, weil aus Natur- Kulturlandschaft wurde. Die moderne Industrie und Verbrennungsmotoren haben damit erst einmal nichts zu tun.« Vor Generationen wurden die Sümpfe der Elbmarsch trockengelegt, um Acker- und Weideland zu gewinnen. Mit dem abgeflossenen Wasser entschwand sozusagen die Schutzflüssigkeit, sagt die Frau, Geochemikerin am Helmholtz-Zentrum Geesthacht. Wasser schütze davor, dass Sauerstoff auf den Kohlenstoff der Pflanzen einwirkt. »Pflanzenreste plus Sauerstoff ergeben Kohlendioxid, lautet die Faustformel. Überall auf der Welt, wo Feuchtgebiete entwässert werden, bildet sich so aus dem Boden massenhaft Treibhausgas.« Man begreife erst jetzt das Ausmaß, mit dem das so entstandene CO2 den Klimawandel befeuert hat.
Mit dem Wind saust die Geochemikerin gen Osten, gegen den Wind kämpfe ich mich westlich durch das letzte Stück der ›Samtgemeinde Marschland‹. In Zeitlupe nur rückt der Elbdeich näher. Die Orte nebendran verhöhnen meinen Endspurt zur Fähre: Laßrönne! Haue! In Hoopte erwische ich die Fähre Sekunden, bevor sie ablegt, gelange binnen Minuten über die Elbe, ins vierte Bundesland.
Die 24 Orte markieren den Start zu den 24 Radetappen durch alle Länder. Geographische Extrempunkte auf der Gesamtdistanz von 2451 Kilometern: West – Niedergailbach (nahe 11), Süd – Beuren/Hechingen (südlich von 14), Ost – in Berlin (22), Nord – Barkau (nördlich von 1). GPS-Tracks zugänglich unter www.tinyurl.com/alle16d