Читать книгу Zwei Räder, ein Land - Martin C Roos - Страница 7
ОглавлениеApfelerbe, Knappmannsdörfer, Lagerstätten
Die teuerste Pflanze Deutschlands wächst in Hamburg und heißt Schierlings-Wasserfenchel. Einige wachsen noch an Elbufern – unverkäuflich natürlich! Die gut 50000 Euro pro Wasserfenchel errechnen sich nach Kosten zur Arterhaltung: rund zehn Millionen Euro für etwa zweihundert Exemplare. Das Geld fließt in Verbauungen und Pflanzungen, die die Stadt wegen der Elbvertiefung durchführt. Unweit des Anlegers, wo ich von der Fähre rolle, soll dieser Fenchel noch natürlich wachsen, heißt es. Nicht jedoch diese, sondern andere botanische Raritäten locken mich in den Südzipfel Hamburgs. Ich komme wegen 31 Obstbäumen, die Angelika und Walter Melau anpflanzten. Das Ehepaar vermachte der Nachwelt unter anderen ›Kaiser Wilhelm‹, ›Ruhm von Kirchwerder‹ und ›Wohlschmecker von Vierlanden‹. Die Obstsetzlinge dazu kauften die beiden nach mehrjähriger Recherche und pflanzten sie 2012 entlang eines Ackerwegs.
Der Weg ist für Unkundige schwer zu finden, kein Schild weist die Route zum Apfelvermächtnis der Melaus. Vom Anleger folge ich der Elbe, fahre durch eines von drei Dutzend Naturschutzgebieten im Stadtstaat; zehn Prozent Hamburgs stehen zumindest dem Papier nach unter Schutz. Über die Deichvogt-Peters-Straße gelange ich, weg vom großen Fluss, zur winzigen Kraueler Elbe. Hinter Hausnummer 41 trage ich kurz das Rad über eine matschige Stelle und rolle auf einen Plattenweg. Linkerhand stehen die Bäume der Melaus: ›Dithmarscher Paradies‹ lese ich am Ersten auf einem selbst gemachten Holztäfelchen. Es schließt sich der ›Schöne von Nordhausen‹ an, bald gefolgt vom ›Finkenwerder Herbstprinz‹. Auch eine Cydonia-Quitte und zwei ›Hauszwetschen‹, ohne ›g‹ geschrieben, stehen Spalier. Zuletzt in der Reihe trumpfen ›Bürgermeister‹ und ›Kochbirne‹ auf – zwei angestammte Baumriesen des Hof Eggers. Dort endet die Obstreihe und beginnt mein Treffen.
Verabredet sind wir im Hofcafé, junger Spross einer alteingesessenen Bauernfamilie. Kontakt zum Hof haben die Melaus seit einem Vierteljahrhundert. Vor rund zehn Jahren, Angelika und Walter Melau waren in Rente, kamen ihnen die Obstbäume in den Sinn. »Schockiert hat uns damals, welche Vorgaben die EU für Streuobstwiesen hatte« erinnert sich Walter Melau. »Es hieß, das muss alles abgeholzt werden – und stellen Sie sich mal vor: Wir hatten in Deutschland rund 1,6 Millionen Hektar Streuobst, jetzt haben wir, wenn’s hoch kommt, 300.000.« Über Internet und eine Baumschule bei Rendsburg informierten sie sich über alte Sorten und darüber, welche Böden die Bäume bevorzugen. Parallel eruierten sie Standorte und kamen schließlich mit Hof Eggers überein. Ein Gärtner aus dem Bekanntenkreis half einzupflanzen. Noch heute übernimmt er freiwillig den Schnitt, berichtet Angelika Melau. »Alle Bäume haben getragen bereits!« Die Ehefrau wird während des Gesprächs immer enthusiastischer. Ihr Favorit ist der ›Celler Dickstiel‹. Den ›Purpurroten Cousinot‹ mag der selbstbewusst auftretende, aber doch hanseatisch zurückhaltende Ehemann am liebsten. Seine Antwort auf meine abschließende Frage nach diese Apfelmelange? »Wir haben keine Kinder, dachten, vielleicht freut sich nach uns jemand über die Bäume. Sie sind unsere Hinterlassenschaft.«
Die Apfelretter: Angelika Melau begutachtet die Triebe am ›Juwel von Kirchwerder‹, einem der 31 Obstbäume, gepflanzt von ihr und ihrem Mann im grünen Winkel Hamburgs.
Während Melaus die Heimfahrt gen Osten antreten – sie wohnen deichnah in Altengamme – radle ich westlich. Links steht die Riepenburger Mühle, Hamburgs älteste Windmühle. Kurz danach bin ich zurück am Zollenspieker. Das ist Hamburgs südlichster und ein historisch bedeutsamer Punkt. Ein ›Zollspeicher‹ ist hier bereits im 15. Jahrhundert dokumentiert. Im 17. Jahrhundert nutzte der Herzog von Braunschweig und Lüneburg eine eisharte Elbe, um mit seiner Soldateska nach Norden vorzustoßen und die Speicher zu plündern. Im 21. Jahrhundert fährt die Autofähre in Gegenrichtung alle zwanzig Minuten. Wie bereits zu Beginn des Hamburg-Intermezzos habe ich Glück, brauche nicht einmal die Schuhe aus den Pedalen zu klinken, rolle ungebremst die Stahlklappe der Fähre hinauf. Während das Rad an der Reling ruht, schaue ich auf den Kilometerzähler: Das bisherige Pensum liegt bei Sechzig, fast zwei Drittel der Etappe sind geschafft. Und schon geht es vom Schiff runter und zrock-zrock-zrock die gepflasterte Rampe hinauf, nach Achterdeich, zurück in Niedersachsen.
Bis Ramelsloh bewahrt Wald mich vor den Nachmittagsböen. Trotzdem fühlt sich dieser 31. Mai an wie der Beginn des März. Als ich frierend die Brücke über die Seeve quere, passiere ich, wie zum Hohn, einen ominös dekorierten Saunaclub namens Harmony. In Bendestorf drehe ich meinen Clip [www.tinyurl.com/HamburgSO, 2 Min.] und wärme mich im Supermarkt. Nebenbei kaufe ich ein: Es gibt eine Kochgelegenheit in meiner Unterkunft.
Bis dahin fehlen nur zwanzig Kilometer, aber ich erlebe die alte Langstreckenregel: Je intensiver man sich bereits am Ziel wähnt und unter erlösendem Duschwasser, umso unerträglicher und grässlicher erscheint oft die noch zu bewältigende Gegenwart. Ich trage mit Fassung, dass Beine und Schulter schmerzen. Unerträglich ist mir der Verkehr bis Jesteburg. Er ergießt sich aus Hamburg und zwei tangentialen Autobahnen in den Feierabend. Alle Pkw strömen am Ende Jesteburgs nach links. Ich verlasse den Strom, fahre allein und geradewegs in die Lüllauer Dorfstraße. ›Sich einlullen lassen‹ denke ich, erschöpft vom Tagwerk, die letzten Kilometer entlang der Seeve ausrollend bis zur Endstation Thelstorf.
Den nächsten Morgen erwache ich von einer im ersten Moment erschreckenden Polyphonie. Dass Vögel in freier norddeutscher Natur derart laut und artenreich tönen, ist mir neu. Bevor ich mich aus dem Bett schäle, gönne ich dem Hirn Dehnungsübungen. ›Naturverwachsen in Niedersachsen‹. Nein! Bitte keine Reime. ›Die Nordheide und ihre gefiederten Freunde‹ – schauerlich. ›Husch Husch, It’s All Busch‹.
Pack dein Hirn ein, steh auf und sieh zu, alsbald auf die Piste zu kommen. Die schlimme Dichterei zeugt von unsäglichem Übermut, der bei dir – sorry für den Kassandraruf – selten gut endet.
Nein, mein Lieber, diesen dritten Tag spüre ich als Glückstag. Und Allbusch gibt es wirklich: So heißt die Straße hinter Thelstorf – eine feine Piste fürs Rennrad übrigens.
In Handeloh liegt die vogel- und waldreiche Gegend hinter mir.f ›Niedersächsisch normal‹ würde ich sagen, fragte mich jemand, wie ich die Gegend empfinde. Eben erstreckt sich das Land, Platt steht auf einigen Schildern. Das Dorf Welle zum Beispiel heißt niederdeutsch Will.
Platt bin ich einige Kilometer weiter angesichts eines Straßenschilds. Es gehört zum Landkreis Rotenburg und benennt die Patenschaften, hübsch mit Wappen: ›Angerburg, Ostpreußen‹ und ›Stuhm, Westpreußen‹. Im ersten Rotenburger Dorf, Tiste, frage ich an seinem alten Fachwerkgehöft den Bauer, wie die revanchistischen Namen zu verstehen seien. Hartmut Löhmann misst den preußischen Bezeichnungen keine Bedeutung zu, schiebt alle Schilderschuld auf die Kreisverwaltung. Nein, meint er auf meine Nachfrage, Parteien am rechten Rand seien in der Gegend unbedeutend, allen Trends im Osten zum Trotz. Was politisch in den Neuen Ländern passiert, interessiere hier kaum. »Die Leute sind fixiert auf ihre Arbeit und die Verkehrsanbindung« sagt Löhmann. »Viele pendeln nach Bremen oder Hamburg und brauchen manchmal zwei Stunden, einfache Strecke.« A1 statt AfD. Das lokale Staubarometer ist in Tiste wichtiger als die politische Großwetterlage.
Nach dem Gesprächsmitschnitt will ich das Smartphone neu laden. Dem geht im Strudel von Navigation, Nachschlagen und Notizen meist schon nach zwei Stunden der Saft aus. Doch hier, in Tiste, endet jäh das Gemächliche dieses glücklichen Morgens. Der Schreck fährt mir doppelt in die Glieder. Ladestecker und -kabel fehlen, sind wohl in Thelstorf geblieben. Und beim Gepäck-Check werde ich gewahr: Das Radhemd, das ich in Welle zum Trocknen auf die Packtasche schnallte, ist weg. Anruf in Thelstorf. Die Wirtin würde mir die Gerätschaft hinterherfahren. Wir verabreden uns in Welle. Zwanzig Kilometer meiner Morgenstrecke muss ich bis dahin erneut abstrampeln (und später wieder bis Tiste). Das Gute daran: Mitten auf der Strecke finde ich am Straßenrand mein Unterhemd, schmutzig zwar, aber trocken.
Tiste-Welle-Tiste: Diese Extratour zählt zwar nicht zur offiziellen Strecken-, aber sehr wohl zur privaten Leistungsbilanz. Deswegen gelange ich erschöpfter als geplant nach Ehestorf, wo sich die Gesamtstrecke der Deutschlandroute zu 250 Kilometern summiert. Mir ist feierlich zumute und ich stoppe am ›Melkhus‹, bestelle eine Pina Kuhlada. Der ohne ñ geschriebene, aber die Eiweißquelle korrekt angebende Mix besteht aus Buttermilch, Rhabarber, Bananen, Kokossirup. Zusammen mit zwei Stücken Erdbeerkuchen ergibt das ein treffliches Mittagessen. Nebenbei erfahre ich von der Bäuerin, in ihrem Landkreis gebe es mit rund 70000 Kühen mehr Milchvieh als in den meisten Kreisen Südbayerns.
Des süßen Krams und der Wärme wegen sind meine Wasservorräte im Nu aufgebraucht. Halten will ich erst in Nartum, fahre am frühen Nachmittag gegen den Uhrzeigersinn um Rotenburg. Wenn Tiste als kleiner Zeiger auf 14 Uhr zeigt, liegt Nartum dort, wo der Minutenzeiger auf ›zehn vor‹ steht. An einem Imbissstand decke ich mich mit Wasser ein. Das Rad lehnt derweil unter der Anschlagtafel des Dorfs. ›Wir suchen Dich‹ heißt es auf dem Plakat des FSV. Der Fußballsportverein braucht Nachwuchs – Jungs als ›die Herren von Morgen‹, heißt es auf dem Papier.
In Nartum, etwa in der Mitte zwischen Lüneburger Heide und Bremen, lebte bis 2007 ein ganz großer Sucher. Biografische Dokumente aller Art waren seine Objekte, an die er sogar über Aufrufe in Funk, Fernsehen und Presse gelangte. Die Menschen schickten sie ihm massenhaft, in seine Villa am Dorfrand: Über 10000 Schriftdokumente, etwa 300.000 Einzelfotos – ›unheimlich der Umfang‹ urteilte Walter Kempowski über sein ›Archiv für unpublizierte Autobiographien‹. Schnipsel daraus, in akribischer Einzelarbeit aus unzähligen Einzelschicksalen herausgeschnitten, verklebte er im Spätwerk zur detailreichen Schau auf deutsche Geschichte.
›Kommen Sie vorbei und klingeln einfach, es sollte jemand da sein‹ hatte mir die Kempowski Stiftung vorab geschrieben. Das berühmte Archiv lagert zwar nicht mehr in ›Haus Kreienhoop‹ – zwei Jahre vor Kempowskis Tod zog es nach Berlin. Aber ich selbst suche in der Arbeitsumgebung des Autors von ›Tadellöser & Wolff‹ und ›Echolot‹ auch etwas: Inspiration.
Niemand öffnet, Knappmannsdörfer! So schimpfen Charaktere im ›Tadellöser‹. Aber ein lauter Fluch, bloß weil ich keinen Einlass bekomme, beschämte mich. Es ist so wunderbar ruhig hier nach meinem halbtägigen Straßenritt. Die Villa liegt am Dorfrand, umfangen nur von Vogelstimmen. Vielleicht kommt noch jemand von der Stiftung? Ich drehe eine Kreienhoop-Warteschleife im Internet, scanne Informationen zu Kempowski. ›Rostock… Dorfschullehrer… Zeitgemälde collagierte.‹ Hey, das ist ein herrliches Stichwort für meinen Deutschlandreport, Collage! Ursprünglich schwebte mir ein Mosaik vor, dessen Steine ich in den Ländern sammle. Aber am Mosaik missfällt mir, dass die Steine in den Hintergrund treten für Betrachterinnen und Betrachter. Beim Mosaik zählt das Gesamtbild; die Steine sind nur funktionell. Was ich im Kleinen aufklaube in Deutschland, soll aber sichtbar und für sich bedeutsam bleiben. Lieber bastle ich eine Collage, wo die Deutschland-Schnipsel ihre Eigenständigkeit behalten.
Wetten, du schwadronierst nun schnulzenhaft über den Wink des Schicksals und über Kausalverkettung, die dich in Nartum in die Warteschleife führten? Hüte dich mal vor Überinterpretation.
Ich verzichte. Zumindest auf das Navi, weil ich denke: In die Dorfmitte, wo ich mich aus der Radroute ausklinkte, finde ich spielend ohne GPS zurück. Aber Fehlanzeige, ich bin nach Steinfeld abgebogen.
Zurück nach Nartum? Ich frage einen Förster, der feldseitig in seinem Wagen wurschtelt. Auf dem Rücksitz erspähe ich Exemplare der Broschüre ›Willkommen Wolf‹. Wie akzeptiert hier die Bevölkerung den neuen Mitbewohner, der sich vornehmlich entlang der Achse Sachsen-Niedersachsen ausbreitet? Schlecht, meint der Förster, in Steinfeld soll ein Mann bei Arbeiten am Friedhofszaun gebissen worden sein. Das wäre Deutschlandpremiere für eine Attacke auf einen Menschen, aber bewiesen sei noch nichts.
15.30 Uhr, zurück auf der Route. Bis zum Ziel im nördlichen Bremen fehlen noch vierzig Kilometer. Hinter Nartum ödet mich die Gegend an, viele Großfelder, immergleiche Gehöfte. Vielleicht wären Wolfsafaris ein belebender Wirtschaftszweig? Obwohl die Gegend so arm nicht sein kann: Großkonzerne zahlen hier Tribut, um in den Eingeweiden der Erdkruste zu bohren. Nach Erdgas. Gefördert wird es seit Jahrzehnten in Deutschland: zu 97 Prozent in Niedersachsen, dabei größtenteils in Kempowski-Land. Auch wenn die gesamte deutsche Erdgasförderung nur 7 Prozent des Deutschlandbedarfs deckt, sind hier die ganz Großen vertreten, wie Exxon-Mobil und RWE Dea. Rund elf Milliarden Kubikmeter Erdgas fördern sie jährlich. Es ist genug, um umgerechnet 55000 Einfamilienhäuser ein Jahr lang zu beheizen. Das reichte fürs komplette Rotenburg. Die Stadt an der Wümme ist ungekrönte Hauptstadt des größten Erdgas-Fördergebiets, um die ich mit dem Rad radial meinen Bogen ziehe. Aber von Industrieanlagen oder Fördertürmen keine Spur.
Nahe Taaken stoße ich auf eine umzäunte Anlage, betonierter Boden in der Größe eines Handballfelds. Drauf entspringt ein dickes Rohr dem Boden und windet sich durch eine Art Bühne mit Rohr- und Metall-stakendem Unterbau. Irgendwo rauscht hier das Gas durch und mir wird klar: Ist ja alles längst eingefasst und installiert; Fördertürme braucht‘s nicht mehr. Die großen Firmen haben so etwas wie venöse Zugänge gelegt, über die sie die Erde kontinuierlich anzapfen. Aber das Umgekehrte passiert auch. Infusionen gelangen in die Erde. Mit dem Erdgas sprudelt sogenanntes Lagerstättenwasser nach oben, das die Konzerne gerne wieder nach unten jagen. ›Verpressen‹ heißt es im Fachjargon. Lagerstättenwasser ist in die Kritik geraten, weil es Schwermetalle und andere Giftstoffe enthalten kann. Im Raum Rotenburg gibt es erhöhte Blutkrebsraten bei Männern, sagt die Medizinstatistik. Die Landesregierung bestätigt das offiziell und will den genauen Ursachen nachgehen.
Ich ertappe mich dabei, die eigentlich harmlos wirkende Landschaft unter dem geistigen Filter der Erdgasgeschichten zu sehen, irgendwie bedrohlich. Als ob mich hinter dem nächsten Gehöft eine Explosion erwischen könnte. Sind die in Schwarz und Weiß Uniformierten, die in Horstedt an Bierbänken schmausen, Mitglieder eines Schützenvereins oder Angehörige eines Bereitschaftsdienstes?
Hinter Narthausen lasse ich den Rotenburger ›Erdgas-Felderkomplex‹ vollends hinter mir. Nicht nur deswegen fühle ich mich erleichtert. Bis zur Landesgrenze von Bremen trennen mich nur fünfzehn Kilometer. Bei Fischerhude begebe ich mich in die Niederungen der Wümme, die mich ins fünfte Bundesland geleitet.
Kilometer 277: Der Bindebaum von Krentzel
Mein Bremenplan besteht darin, in den Kern traditionellen Kommerzes einzudringen, eine alte Kaffeerösterei zu besuchen und einen Kolonialwarenladen. Doch als ich die Wümmewiesen Bremens erreiche, ist es viel zu spät dafür. Der Ladekabel halber und wegen des langen Halts in Nartum bin ich seit fast zehn Stunden unterwegs. Bis zur heutigen Unterkunft im Norden fehlen auf direkter Route nur 14 Kilometer. Ein Umweg über Stadtzentrum und Holzhafen bedeutete fast das Doppelte. Ich zögere, lehne das Rad an einen bemoosten Holzrahmen am Straßenrand. Im Rahmen hängt ein Schild, ›Binneboom-Museum‹. Das reizt meine Neugier mehr als Kaffee und Koloniales. Ich biege zum Museum ab und lerne Klaus Krentzel kennen.
Er steht vor seinem Klinkerhaus und klopft einen verstaubten Roof aus. Das ist ein ›Brotgetreide-Aufbewahrungskorb‹, erfahre ich, noch nicht vom Rad gestiegen. Ich lehne es an eine Art Galgen, auf der eine verrostete Riesenbimmel montiert ist. Sie gehörte der ›Jan Reimers‹, erklärt mir Krentzel. Das war die Eisenbahn, die bis 1956 von Bremen aus durch die Moorgebiete bis nach Niedersachsen tuckerte.
Während mich Krentzel ins Haus führt, redet er sich in Rage, unentwegt Erklärstücke liefernd zu seinen Lieblingsexponaten. Tausende haus- und landwirtschaftliche Utensilien lagert er hier und in den ehemaligen Ställen des Gehöfts. Binnen eines halben Jahrhunderts hat der 80-jährige Krentzel ein – bei allem Respekt – messieartiges Museum zusammengestückelt. Da lehnt das Lebkuchen-Model an der Getreidemühle, ein Büschel altes Bentgras thront auf dem letzten Torftransporter des Teufelsmoors. »Die Achsen sind umgeschmiedete Kanonenlafetten aus dem Napoleonischen Krieg« kommentiert Krentzel, zeigt mir ergänzend das Glied aus der Kette eines englischen Panzers, Datumsvermerk 1945. Dahinter erspähe ich Butterfässer, Bahnlampen, Briefbeschwerer. Am meisten fasziniert mich die Holzpantoffelschälmaschine – es ist meine eigene Wortkreation. Die Maschine fräst nach Vorgabe eines beweglichen Metallfühlers, der einen Pantoffel als Vorlage innen und außen abtastet, aus einem groben Klotz das fertige Schuhwerk heraus.
Bevor ich weiterfahre, möchte ich von Klaus Krentzel wissen, woher der Museumsname Binneboom kommt: »Das ist der Bindebaum oben auf dem Heuwagen, der verhindert, dass die Fracht verloren geht.« Und wie kann die Adresse seines Museums ›Am Hexenberg‹ lauten, wo es doch hier bretteleben ist? Krentzel, der, bevor er Finanzbeamter wurde, hauptberuflich Deiche gebaut hat und davor noch selbst Torf gestochen, holt dazu ein letztes Mal weit aus. Die Kurzversion lautet: Es gab einen Steinwurf von hier einen Buckel, an einem Kanal zum Torftransport gelegen. Der Kanal verlandete dort regelmäßig, was die Bauern zu Flüchen und Verwünschungen reizte, weil ihre Kähne am ›Hexenberg‹ auf Grund liefen. Schließlich legten die Torfbauern Hand an und beseitigten den Buckel.
Wie in der Elbmarsch hinter Hoopte hat der Mensch auch in diesen Niederungen Bremens die Landschaft völlig umgekrempelt. Die unendlichen Kanäle der Borgfelder Wümmewiesen bezeugen das ebenso wie das Blockland hinter Borgfeld. Hat Blockland etwas mit Felsen zu tun? Nein, das den Sümpfen abgerungene Lehmland blieb im Mittelalter zwischen all den Kanälen sozusagen nur blockweise übrig.
Für mich gerät das Blockland auf den letzten Tageskilometern zu inselgleicher Idylle. Ein mildes Lüftchen weht, abendroter Dunst zieht auf wie ein sonnenwarmes Sommerkleid. Auf der sich zwischen Schilf und Baumgruppen schlängelnden Straße kommen mir Scharen palavernder Radfahrer entgegen, unterwegs ins Zentrum Bremens. Nachtigallen schlagen, vereinzelt stehen Häuser. Selten kurvt ein Auto heran, immer wieder blinkt Wasser links und rechts der Route.
Das Blockland leert sich, aber die mir in Aussicht gestellte Ferienwohnung ist belegt. Gern willige ich ein, das Praktikantenzimmer zu nutzen. Ich nächtige auf einem Biobauernhof und darf im Haupthaus selbst kochen – was es am Ende gar nicht braucht: Ich dürfe mich einfach aus den vollen Töpfen bedienen. Beim Essen mit der Familie erfahre ich vom Boom, Land ökologisch zu bewirtschaften: Bremen hält im Ländervergleich Deutschlands den Zuwachs-Rekord in Sachen Bioanteil der Landfläche. Ein anderer Rekord wurde eine Woche vor meiner Ankunft gebrochen: Die SPD lag in Bremen stets vor der CDU, was sich bei den Landtagswahlen erstmals änderte und gut zwei Monate später zur ersten rot-grün-roten Koalition im Westen Deutschlands führen wird. Einen anderen Länderrekord hält Bremen ungebrochen: Das Land hat mit knapp zehn Prozent, vor Berlin (acht Prozent), die höchste bundesweite Arbeitslosenquote.
Gesättigt von Gesprächen und Information ziehe ich mich früh zurück aufs Zimmer. Morgen, freue ich mich, fresse ich Kilometer. Und es geht gen Süden, endlich.
Der Sammler: Hütet tausendundein Utensil der traditionellen Land- und Hauswirtschaft: Klaus Krentzel ist Kreator und Kurator des Binneboom-Museums am Rande Bremens.