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Rhodedendron

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Der erste Tag in der Abteilung für zivile Ermittlungen verlief relativ ruhig, zumindest mein erster Tag dort verlief ruhig! Ich war also im Polizeidienst gelandet. Durch Zufall mehr oder weniger, ich... war da in so eine Sache verwickelt, als ich noch Student war, und dann hatte man mir ein Angebot gemacht... eine lange Geschichte!

Jetzt jedenfalls hing ich im Vermisstendezernat rum, wahrscheinlich, weil man annahm, dass ich dort am wenigsten Schaden anrichten konnte. Musste wohl damit zusammenhängen, dass man mich stets unterschätzte! Oder schlicht damit, dass man mir einfach nichts zutraute!

Ich erschien zum Dienst in meiner üblichen Aufmachung: unrasiert, ungekämmt, das Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln natürlich über der Hose... Niemand hätte es gewagt, mich in eine Polizeiuniform zu stecken! Schon weil ich dafür streng genommen zu klein war. Und vielleicht ein wenig zu dick. Ein blonder Mann, nur wenig größer als ich, aber freundlich wirkend, war auf mich zugekommen und hatte gefragt: „Was kann ich für Sie tun?“

„Ich suche...“, begann ich.

„Eine Person?“

„Exakt!“ Ich suchte den Abteilungsleiter.

Der Mann deutete auf einen älteren Mann an einem Schreibtisch, der damit beschäftigt zu sein schien, Kreuzworträtsel in seine Schreibmaschine einzugeben. „Der Mann dort, Herr Weiß, ist für die Annahme von vermissten Personen zuständig!“

„Werden denn manchmal welche abgegeben?“

„Bitte?“

„Ich meine, wenn er die vermissten Personen annimmt, dann müssen doch auch welche abgegeben werden... Oder ist das nur so ne ABM-Stelle und keiner hat dem armen Mann gesagt, dass nie jemand vorbeikommen wird, um eine vermisste Person abzugeben?“

„Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz...“

„Eigentlich wollte ich keine vermisste Person abgeben, sondern ich suche den Leiter dieser Abteilung!“

Ich lächelte freundlich durch meinen paar-Tage-Bart.

„Der steht vor Ihnen. Horstmann!“

„Angenehm, mein Name ist Harry Rhode, ich bin...“

Sie sind Harry Rhode?“ Sein erschrockener, entgeisterte Fassungslosigkeit ausdrückender Blick musterte mich eingehend von oben bis unten. Horstmann schluckte. „Sie sehen so...“

„Wild?“

„...aus! Ich hatte Sie mir... irgendwie anders vorgestellt!“

„Tja, den Fehler begehen viele. Aber: Kein Umtauschrecht, glaube ich!“

„Sieht wohl so aus.“ Er rümpfte die Nase. „Na, dann herzlich willkommen im Vermisstendezernat.“ Er reichte mir die Hand. „Sie haben einen guten Tag erwischt, heute ist nichts los! An manchen Tagen, Karneval zum Beispiel, kommen hier die Leute in Scharen rein und suchen ihre Frauen, Männer, Haustiere und Autos. Die meisten finden sich dann mit einem gehörigen Kater wieder ein...“

„Auch Autos?“

Er überging das.

„...einige nie! Kommen Sie, Rhode, ich führe Sie durch unsere bescheidenen Büroräume.“ Horstmann ging vor mir her, zuerst zu dem Mann, an den er mich zuvor hatte verweisen wollen. „Roland, das hier ist unser neuer Mann, Harry Rhode.“

Roland Weiß sah auf und musste grinsen.

„Angenehm Herr Rhode. Ich sehe, Sie waren schon als verdeckter Ermittler tätig!“

„Nein, ich bin nur schlampig!“

„Daran lässt sich wahrscheinlich nichts ändern, oder?“ fragte Horstmann hoffnungsvoll. Ich schüttelte den Kopf. Resignierend fuhr er fort: „Unsere Abteilung ist recht klein, trotzdem brauchen Sie sich nicht einzubilden, dass Sie ein eigenes Büro bekommen. Sie werden sich hier zusammen mit Roland und all den anderen dieses Büro hier teilen.“ Er ging durch eine Tür in der Seitenwand und wir erreichten einen Vorraum. Eine betagte Sekretärin saß hinter einem betagten Schreibtisch und schlug auf eine betagte Schreibmaschine ein. „Frau Dittmann kennen Sie sicher?“

„Wir haben telefoniert.“

Sie nickte mir zu und tippte dann weiter.

„Und hinter dieser Tür befindet sich dann mein bescheidenes Büro.“ Er hatte nicht untertrieben, bescheiden war durchaus der richtige Ausdruck. Horstmann nahm hinter seinem bescheidenen Schreibtisch Platz, der mit einer Schreibmaschine schon überfüllt gewesen wäre und deutete mir an, mich zu setzen. „Erstmal freue ich mich, Sie bei mir zu haben. Ich glaube, eigentlich sollten Sie zur Mordkommission, weil Sie da irgendwas mit Kronzucker am Laufen hatten...“

„Er war es, der mich überhaupt in den Polizeidienst gebracht hat!“

„Ja, aber... Sie werden verstehen, wir haben hier im Moment einen Mangel an Leuten im Vermisstendezernat, aber ich denke, in ein paar Wochen werden Sie schon bei der Mordkommission landen, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.

Also gut, kommen wir zu mir. Ich bin ein Mensch, der sich weniger vom ersten Anschein oder vom Äußeren beeindrucken lässt, für mich zählt der Charakter eines Menschen mit seinen Begabungen mehr. Das bedeutet, dass mir Ihr schlampiges Äußeres egal ist, wenn Sie wenigstens gut in Ihrem Job sind. Wenn nicht, bekommen wir wahrscheinlich Probleme miteinander.

Außerdem bin ich ein nervöser Typ, in diesem Büro hier ist es mir zu eng und ich kriege klaustrophobe Anfälle. Also wundern Sie sich nicht, wenn ich ab und an in Ihrem Büro auf und ab gehe, ich will Sie nicht überwachen, ich brauche nur meinen Auslauf!“

Er lächelte.

„Letztendlich zu Ihrer Arbeit: Wir nehmen hier nur die Bestellungen entgegen, sehen uns in unseren Beständen um und entweder haben wir etwas oder wir haben nichts. Ein wichtiger Punkt sind kleine Kinder. Wenn Eltern ankommen und Ihnen sagen, dass eines ihrer Kinder verschwunden ist, oder seit ein paar Tagen nicht mehr nach Hause gekommen, könnte es eventuell ernst werden. Das sage ich Ihnen, aber nicht Sie den Eltern! Die nehmen sowieso schon an, dass es ernst ist, sonst kämen sie nicht zu uns. In dem Fall nehmen Sie die Personalien auf, lassen sich ein aktuelles Photo geben und kommen damit zu mir.“

Er rieb sich die Stirn.

„Glauben Sie bitte nicht, dass es mir Spaß macht, kleine Kinder zu suchen. Wenn die weg sind, brauchen wir meistens entweder das Sitten- oder das Morddezernat – oder beides! Mit etwas Glück tauchen die auch so wieder auf und alle sind heilfroh, ich eingeschlossen, das können Sie mir glauben!

Erstmal kommen Sie aber zu mir und dann leiten wir alles in die Wege, vervielfältigen das Photo, schicken ne Suchmeldung raus und so weiter. Dann heißt es warten. Sollte man das Kind dann nach n paar Tagen in irgendeinem Wäldchen tot auffinden, fahre ich zu den Eltern raus und... naja, das können Sie sich ja denken.

Und dann geht der Fall automatisch an die Mordkommission, die sich wahrscheinlich schon seit der Suchmeldung darauf eingestellt hat, in Aktion zu treten. Ich weiß, das klingt jetzt alles sehr kalt und routinemäßig, aber das ist es nicht! Es ist ein scheiß Job, sage ich Ihnen! Ich hasse es, den Eltern mitteilen zu müssen, dass ihr Kind...“

Er lächelte traurig ein so-ist-nunmal-das-Leben-Lächeln.

„Das ist erstmal das wichtigste, das Sie wissen müssen. Roland wird Ihnen weiterhelfen, wenn Sie Fragen haben. Tja, dann wünsche ich Ihnen einen guten Start hier in unserer Abteilung.“

Er erhob sich und reichte mir die Hand.

In dem merkwürdigen Raum, den man keineswegs reinen Gewissens als „Büro“ bezeichnen konnte, bearbeitete Weiß noch immer seine Schreibmaschine. Ich setzte mich an einen freien Schreibtisch und wartete. Nichts passierte. Weiß hatte sein Kreuzworträtsel gelöst und zog das Blatt aus der Maschine. Er sah zu mir herüber und lächelte. Ich zuckte mit den Schultern und fragte: „Soll ich irgendwas tun?“

„Haben Sie etwas, das Sie tun können?“

„Nein!“

„Dann tun Sie das!“ Er lächelte. „Erfreuen Sie sich doch an diesem schönen ruhigen Tag. Es werden andere kommen, die weder schön noch ruhig sein werden.“

„Und was mache ich hier sonst?“

„Sie nehmen Vermisstenanzeigen entgegen. Dann legen Sie sie dem Chef vor oder geben sie gleich weiter. Taucht die vermisste Person oder das Tier oder der Gegenstand wieder auf, was nicht eben oft passiert, dann verständigenden Sie den Anzeigesteller. Taucht er oder es beim Anzeigesteller selbst auf, verständigt der Sie – hoffentlich! –, taucht er oder es nicht wieder auf, schließen wir nach einiger Zeit die Akte und die Sache vermodert.“ Weiß hob die Schultern. „Ist ‘n Schreibtischjob!“

Das klang nach langem Herumsitzen ohne größeren Arbeitsaufwand. Ich war wieder da, ich war gerade in meine Schule zurückgekehrt!

Den Rest des Vormittags sichtete ich ein paar Akten von vermissten Personen, Fahrrädern, Haustieren, Autos; den Nachmittag über legte ich meine Beine auf den Schreibtisch und döste vor mich hin. Es passierte herzlich wenig. Genauer gesagt: Nichts!

Fast die ganze Woche über passierte nichts. Ein paar Kinder vermissten ein paar Haustiere, ein paar Fahrräder und ein paar Spielzeuge; ich vermisste meine Jugend! Niemand hatte sie gesehen, niemand hatte sie abgegeben und wahrscheinlich war das eine Akte, die man bald schließen und zum Vermodern zu den anderen tun würde. Was – tat – ich – hier? Außer herumzusitzen und Bagatellfälle aufzunehmen? Weiß zog bei all diesen Meldungen die Stirn kraus und schickte die Suchmeldungen raus. Die meisten Sachen fanden sich von selbst wieder, außer natürlich meine Jugend und mein Elan, die unwiederbringlich verloren schienen.

Es war Sommer, es war warm, es wurden viele Fahrräder geklaut. Die fanden sich ohnehin in den wenigsten Fällen wieder ein, wie ich aus eigener Erfahrung wusste. Weiß erzählte von einer Bande Fahrraddiebe, die en gros vor Schwimmbädern Räder geklaut und sie dann ebenso en gros auf Flohmärkten feilgeboten hatten. Dort hatte man sie dann erwischt, waren wohl doch etwas zu kaltschnäuzig gewesen. Die Fahrraddiebstähle häuften sich. Die Suchmeldungen, die erfolglos abgeschlossen wurden, desgleichen. Es war ein sehr lehrreicher Dienst.

Dann betrat eine Frau unser wohl-kaum-als-Büro-zu-bezeichnendes-Zimmer. Weiß war gerade in eins seiner Kreuzworträtsel vertieft, also kam sie zu mir.

„Was kann ich bitte für Sie tun?“ fragte ich freundlich.

Schüchtern setzte sie sich und holte ein Photo aus ihrer Handtasche. „Ich suche meinen Mann!“ In diesem Moment bemerkte Weiß, dass wir Besuch hatten und löste einen (Bruch)Teil seiner Aufmerksamkeit von seinem Kreuzworträtsel. Sie reichte mir das Photo, auf dem sie zusammen mit ihrem Mann zu sehen war. „Das ist er, das auf dem Bild.“

Ich nickte. „Seit wann ist er verschwunden?“

„Seit zwei Tagen.“

„Ist es nicht vielleicht möglich, ich meine, dass er so etwas wie eine Sauftour macht oder so?“

„Nein, so etwas tut mein Mann nicht!“

Weiß verdrehte die Augen und machte sich an sein Kreuzworträtsel. Das hatte er schon tausendmal gehört, also nahm ich das Protokoll auf, Name, Alter, usw.

„Wo war Ihr Mann, bevor er verschwunden ist?“

„Bei einem Freund.“

„Könnten Sie mir bitte auch Name und Adresse des Freundes geben?“

Sie tat es und ging. Wir schickten eine Suchmeldung raus. Weiß schüttelte den Kopf. „Immer die alte Geschichte. In ein paar Tagen wird er wieder auftauchen.“

„Wer?“ Horstmann hatte das Büro-das-keins-war betreten; er schwitzte, wie wir alle. Ich reichte ihm die Vermisstenanzeige. Er nickte. „Nett. Wahrscheinlich Routine.“

„Tja“, ich erhob mich. „Glauben Sie, dass Sie den Ansturm von Anzeigen auch ohne mich bewältigen können?“

Horstmann sah mich fragend an. „Sie wollen doch nicht schon Feierabend machen?“

„Nein, nur eine... Routineuntersuchung!

„Oh nein, haben Sie sowas schon mal gemacht?“

„Es ist doch nur ein Routinefall, was kann ich da schon falsch machen?“

„Naja“, Horstmann lächelte. „Es könnte ja ausnahmsweise doch was ernstes sein und Sie werden erschossen oder so. Oder Sie erschießen jemanden, noch schlimmer!“

Noch schlimmer?

„Also, genauso schlimm! Aber... dann wäre die Abteilung wieder unterbesetzt!“

„Keine Sorge, ich habe meine Waffe immer da, wo ich sie brauche!“ Ich deutete auf meinen Schreibtisch. „Damit sie mir niemand stiehlt!“

Mein Chef nickte und meinte: „Okay, versuchen Sie Ihr Glück. Aber ich sage Ihnen, Sie werden nicht viel erreichen!“

Das nahm ich auch nicht an, aber ich musste einfach etwas tun, musste raus an die frische Luft, weg aus diesem stickigen Zimmer-das-irgendein-Witzbold-als-Büro-bezeichnet-hat und dorthin, wo ich das Gefühl hatte, zumindest ein bisschen zu tun. Ich hatte mir das Bild von dem Mann genau eingeprägt und machte mich auf den Weg.

Der merkwürdige Freund, bei dem sich Claude Müller, der Mann, den ich suchte, zuletzt aufgehalten hatte, öffnete erst nach dem dritten Klingeln. Er empfing mich im Unterhemd, eine halbgerauchte Zigarette hing aus seinem linken Mundwinkel. Ich lächelte freundlich und sagte: „Guten Tag, mein Name ist Rhode!“

„Ich kaufe nichts!“

„Ich auch nicht.“

Das verwirrte ihn.

„Ich suche Claude Müller.“

In seinen Augen glitzerte es für den Bruchteil einer Sekunde, vielleicht fiel aber auch nur in diesem Moment Sonnenlicht unglücklich hinein.

„Fragen Sie seine Frau.“

„Das ist eine sehr gute Idee.“ Er wollte die Tür schon schließen. „Aber die weiß es auch nicht.“

„Warum soll ich es dann wissen?“

„Hmm, glauben Sie an das schlechte im Menschen?“

„Nein.“

„Ich aber. Sehen Sie, seine Frau sagte mir, er wäre als letztes mit Ihnen zusammen gewesen. Seitdem hat er sich nicht mehr zu Hause blicken lassen.“

„Er ist ein freier Mensch.“

„Ohne Zweifel, aber seine Frau macht sich Sorgen.“

„Sind Sie Priester? Oder Bulle?“

„Nein, äh, habe ich das nicht gesagt?“

„Nein, haben Sie nicht. Warum sind Sie eigentlich hinter Claude her?“

„Verzeihung, aber ich bin nicht hinter ihm her, ich suche ihn lediglich, damit er seinen Preis...“ Ich unterbrach mich, als hätte ich schon zu viel gesagt.

„Preis?“ Das machte ihn neugierig. „Was für ein Preis?“

„Naja, eigentlich sollte ich Ihnen ja nichts darüber sagen, aber wenn Sie ihn doch kennen... Claude Müller hat bei der Glückslotterie 2000 den 2. Preis gewonnen.“

„Was ist das für ein Preis?“ Er tat möglichst uninteressiert.

„Oooooch, nichts besonderes“, meinte ich, als wäre es ein Klacks. „Nur ein nagelneues Sportcoupé.“ Ihm gingen fast die Augen über. „Tjaa, leider wird Herr Müller jetzt wohl nicht mehr in den Besitz dieses Preises kommen, da die Frist bald abgelaufen ist. Ähm, dürfte ich wohl bitte mal Ihre Toilette benutzen?“

Missmutig ließ er mich rein.

„Nur zum Händewaschen!“ Ich sah mich um, fand das Telefon und ehe er sichs versah hatte ich, ohne sein Wissen selbstverständlich, das Kabel herausgezogen. Da es verdeckt hing, würde er nicht sofort drauf kommen. Und immerhin würde er es eilig haben! Oh, ja, in dieser Zeit gab es noch gar keine Handys, das vergisst man so leicht. Dabei ist es nur ein paar Jahre her. Ach, wie die Zeit vergeht… „Vielen Dank“, murmelte ich. „Wie gesagt, das mit Herrn Müller ist wirklich ausgesprochen schade. Haben Sie die genaue Zeit?“

Er hatte sie, oder zumindest etwas Annäherndes.

„Tja, dann hat Herr Müller noch ziemlich genau 1 Stunde und 18 Minuten, um sich zu melden, sonst wird der Preis an jemand anderen gehen. Wir ziehen nämlich immer auch Reservepreisträger, müssen Sie wissen, nur für den Fall, dass... Aber wenn er nicht aufzufinden ist, naja, kann man nichts machen! Vielen Dank!“ Ich nickte ihm zu und ging.

Keine drei Minuten später, nahm ich an, ich hatte ja keine Uhr, kam er dann schweißüberströmt, rotgesichtig, rauchend und immer noch im Unterhemd aus dem Haus gerannt, sprang in einen Wagen und fuhr los. Und ich hinterher. Es war keine lange Fahrt, deshalb verlor ich ihn auch nicht. Genauer gesagt fuhr er nur etwa drei Kilometer, bog dann nach links ab und hielt vor einem kleinen Haus. Nur durch Zufall sah ich seinen Wagen dort stehen, denn natürlich hatte ich ihn schon gleich nach der Abfahrt aus den Augen verloren. Glücklicherweise hatte ich mir die Nummer gemerkt...

Ich ging zum Haus und schellte. Inzwischen musste man herausgefunden haben, dass meine Geschichte ein Schwindel war, dass Claude Müller nie bei einer Glückslotterie 2000 mitgemacht hatte und dass es eine solche Lotterie überhaupt nicht gab... würde man wohl nicht feststellen, da es inzwischen so viele Lotterien gab, dass da eigentlich niemand mehr so richtig durchstieg. Und im Internet konnte man auch nicht nachsehen, denn auch das gab es noch nicht so richtig. Eine Frau öffnete und sah mich fragend an. „Ja, was wollen Sie?“

„Ist Claude Müller da?“ fragte ich.

„Wer sind Sie?“ fragte sie.

Improvisieren!

„Ich bin von der Polizei, mein Name ist Harry Rhode!“

Toll improvisiert!

Sie wurde bleich.

„Sollte sich Claude Müller in Ihrem Haus befinden und Sie decken ihn, machen Sie sich mitschuldig.“ Mitschuldig woran?

Sie drehte sich um. „Claude!“ Der Mann vom Photo erschien. „Die Polizei ist hier!“

„Ich habe nichts getan.“

„Herr Müller, Ihre Frau macht sich Sorgen. Sie hat Sie als vermisst gemeldet.“

„Und das gibt Ihnen einfach das Recht, sich in meine Privatangelegenheiten...“

Ihre Frau hat Sie als vermisst gemeldet! Wir müssen so etwas nachgehen! Sie hätten sich rechtzeitig melden und all dies verhindern können!“ Ich schien wirklich grimmig zu wirken, denn er wurde plötzlich viel kleiner.

„Naja“, murmelte er, „jedenfalls bekomme ich nen neuen Wagen!“

Ich seufzte.

„Na, Herr Rhode, was macht denn der Fall Müller?“ fragte mich am kommenden Morgen mein Abteilungsleiter.

„Oh, das dürfte wohl einer von diesen Scheidungsfällen werden, es sei denn, Frau Müller liebt ihren Mann über alles.“

„Sie scheinen nicht an die Liebe zu glauben.“

„Naja... ich habe meine Zweifel.“

Horstmann rieb sich den Hals. „Wo wir gerade bei Zweifeln sind, woher wissen Sie das alles?“

„Naja...“ Ich riss die Geschichte kurz ab, allerdings ohne wesentliche Details, die darauf hinwiesen, dass ich diverse Regeln überschritten, umgangen, missachtet oder schlicht ignoriert hatte, von Lügen und höchst zweifelhaften Methoden gar nicht erst zu reden. „Ich nehme an, dass Müller mit dieser Frau ein Verhältnis hat“, schloss ich. „Aber für Moral sind wir ja nicht zuständig!“

„Wie... wie haben Sie das nur gemacht?“

„Ich würde sagen mit… Rhodedendron?!“

Horstmann sah mich verstört an.

„Nun, das ist eine Mischung aus 10% Beweisen, 10% Kalkulation und 90% Improvisation!“

„Damit kommen Sie auf 110%!“

„Was meinen Sie, warum es funktioniert hat?“

Horstmann grinste. „Wenn wir mehr von Ihrer Sorte hätten, könnten wir die ganze Arbeit viel schneller erledigen. Aber, eins ist mir noch nicht so ganz klar. Wie haben Sie diesen Freund von diesem Müller eigentlich dazu gebracht, zu dieser Geliebten von diesem Müller zu fahren?“

Ich druckste herum, murmelte vor mich hin... und da ich die unangenehme Angewohnheit habe, meist die Wahrheit zu sagen, begann ich mit einem langen „Najaaaaaaaaaa...“ ihm die Wahrheit zu sagen.

Horstmanns Grinsen verflog. „Wenn wir mehr von Ihrer Sorte hätten, könnten wir den Laden bald dicht machen!“

Fahrradentführungen, entlaufene Wellensittiche und entflogene Katzen waren der Renner in diesem Sommer. Die Vögel sah man nie wieder, die Katzen kratzte man von Autoreifen. Eine deprimierende Zeit für Haustierhalter, eine wundervolle Zeit für Fahrraddiebe. Als wieder eine Frau Müller nach einem Herrn Müller suchen lassen wollte, erschien Horstmann in unserem als-Büro-bezeichneten-Kabuff und meinte, das wäre ja äußert interessant, aber wir sollten doch wohl lieber Herrn Müller überlassen, zu seiner Frau zurückzukehren. Und tatsächlich zog Frau Müller oder wie immer sie geheißen haben mag ihre Anzeige wenige Tage später wieder zurück.

„Harry, es ist ja nicht so, dass ich Ihre Arbeit nicht zu schätzen wüsste“, sagte Horstmann, der sich auf meinem Schreibtisch niedergelassen hatte, dort, wo eigentlich meine Füße hingehörten, „aber Ihre Methoden sind an der Grenze zum Kriminellen. Verstehen Sie: Wir sind die Polizei! Wir gehen streng nach Vorschrift vor, ob uns das passt oder nicht! Ihre Methode mag ja schneller sein, und wirkungsvoller, aber es ist uns leider untersagt, so vorzugehen. Tut mir leid.“

„Naja, ist ja nicht Ihre Schuld. Also... streng nach Vorschrift?“ Horstmann nickte. „Wie langweilig!“

„Das mag sein, aber das ist nun mal das Leben! Und da ist noch etwas: Sie arbeiten für mich! Also bin ich der Boss, oder?“

Ich stimmte ihm zögerlich zu.

„Gut, dass Sie wenigstens das einsehen. Weiß und ich machen jetzt Mittag und Sie werden hier auf das Büro“-das-keins-war-und-auch-bei-besten-Willen-nie-eins-sein-würde „aufpassen. Also, bis dann!“

Er lächelte und die beiden gingen und ließen mich allein zurück. Ich legte meine Beine auf den Schreibtisch und döste vor mich hin, die Tür zum Gang weit offen, um etwas Frischluft hereinzulassen. Es war ein ruhiger Tag, kein Lüftchen regte sich, alles war still. So still, dass man auf dem Gang die Stimme eines Kollegen hören konnte, die sagte: „Das Vermisstendezernat ist die letzte Tür auf diesem Gang.“

Ich öffnete langsam ein Auge und sah den Gang hinunter. Dort stand neben dem Polizisten ein junges Ehepaar, das nun seinerseits meine wenig Aktivität ausstrahlende Gestalt ausmachte.

„Der junge Mann ist zuständig?“ fragte die Frau, die kaum älter war als ich, vielleicht aber doch. Absolutes Missvertrauen lag in ihrer Stimme.

„Lassen Sie sich nicht von seinem Aussehen täuschen“, meinte der Kollege, der damals mit dabei gewesen war, als ich... dabei war, in die Mühlen der Justiz zu rutschen und als Polizist zu enden, da, wo ich jetzt war, verschwitzt und kein Vertrauen ausstrahlend, „das ist einer der fähigsten Männer auf seinem Gebiet!“

Damit hatte er Recht; gut war nur, dass er sich nicht auf irgendein Gebiet hatte festnageln lassen. Aber das Ehepaar war damit zufrieden und kam nun neuen Mutes auf mich zu. Was mochten sie wohl zu suchen haben? Einen Hamster? Einen elektrischen Fisch? Ein aufblasbares Cabriolet?

Ich richtete mich auf, nahm meine Füße vom Schreibtisch, bzw. umgekehrt, weil ich in dieser Reihenfolge wahrscheinlich derbe auf die Fresse geknallt wäre, und sah den beiden entgegen. „Guten Tag.“

„Guten Tag, Herr...“

„Rhode!“

„Guten Tag, Herr Rhode. Ich bin Johannes Ueter und das ist meine Frau Katja.“

„Freut mich. Was kann ich für Sie tun?“

Beide wirkten unruhig.

„Es geht um unseren Sohn“, platzte Frau Ueter heraus. „Er ist verschwunden!“

Ich setzte mein mitfühlendes Gesicht auf, während sich in meinem Magen etwas zusammenballte. „Wie alt ist Ihr Sohn?“

„Anderthalb Jahre.“

Mist! Überall begannen die Alarmglocken zu schlagen, Rotlicht flammte auf und in meinen Ohren begann es zu dröhnen. Das war eine ganz beschissene Ausgangssituation.

„Ähm, seit wann ist Ihr Sohn denn verschwunden?“

„Seit gestern Abend. Wir sind ausgegangen und als wir wieder nach Hause kamen, war Albert nicht...“ Sie schluchzte und kämpfte mit einem Taschentuch gegen die aufsteigenden Tränen an.

„Sie haben ihn alleingelassen?“

„Als wir gingen, spielte er im Garten. Wir hatten es eilig, aber weil doch in ein paar Minuten unser Babysitter kommen sollte, dachten wir...“

Da hatten sie sich wohl geirrt. Aber ein anderthalbjähriges Kind geht nicht einfach abends aus und kommt erst spät am nächsten Tag wieder. Das tun anderthalbjährige Kinder nicht. Jedenfalls meines Wissens nicht!

„Wir haben alle unsere Bekannten und Nachbarn angerufen, aber er ist nirgendwo. Und... er ist doch Bluter!“

„Haben Sie die Umgebung abgesucht? Den Keller? Vielleicht versteckt er sich irgendwo, oder... hat versucht auf einen Baum zu klettern oder sowas?“

„Wir haben überall nachgesehen. Albert ist verschwunden!“

„Okay...“ Ich veranlasste alles nötige, um schnell eine Suchmeldung rausgeben zu können. Wann würde nur endlich mein Chef wiederkommen? „Haben Sie ein Photo Ihres Sohnes bei sich?“

Frau Ueter förderte eines aus ihrer Handtasche zu Tage.

„Vielen Dank. Und dann brauche ich noch Namen und Anschrift Ihres Babysitters.“

Ich bekam die gewünschten Informationen.

„Ähm, Ihr Kind... hat das nicht schon öfter gemacht, oder? Ich meine, dass es einfach durch die Umgebung streift...“

Anderthalbjährige Kinder streifen nicht einfach so durch die Umgebung!

„Haben Sie noch andere Kinder?“

So jung wie sie waren konnten sie höchstens welche adoptiert haben – und die wären dann älter gewesen als sie selbst!

„Gut, ich... ich werde mich darum kümmern.“

„Herr Rhode“, sagte Frau Ueter eindringlich, „ich möchte Sie bitten, nach meinem Kind zu suchen! Bitte, bitte finden Sie unseren Kleinen!“

Ich nickte. Sie warfen mir noch einen flehentlichen Blick zu, dann verließen sie mein das-ist-weder-mein-noch-überhaupt-ein-Büro. Da saß ich nun, auf meinem Schreibtisch lag eine Suchmeldung, vor der sich jeder im Vermisstendezernat mit Grauen abwenden würde, wusste nicht genau was ich tun sollte und wartete auf meinen Chef. Ich hielt es ganze 20 Sekunden ruhig aus, dann ließ ich das Photo vervielfältigen, schickte eine Suchmeldung mit dem Vermerk DRINGEND raus, sah mich noch einmal um, ob mein Chef wieder zurück war und machte mich auf den Weg.

Zuerst fuhr ich zu den Ueters. Die schienen überrascht zu sein, mich schon so bald wieder zu sehen, aber ich wollte mir mal den „Tatort“ anschauen. Wie ich erwartet hatte, hatte sich ihr kleiner Albert inzwischen nicht wieder von selbst eingefunden. Ich sah mich ein bisschen um. Einer der Sträucher im Garten war etwas lädiert, so, als wäre jemand darüber gestiegen. Der gesamte Garten wurde von einer hüfthohen Hecke umgeben, ein Teil dieser Hecke machte den Eindruck, als wäre jemand beim Drüberspringen drübergestreift. Das konnte jeder gewesen sein – abgesehen vom kleinen Albert selbst. Der konnte genau so gut in den Händen von Kindesentführern sein, wie in denen von Lustmördern. Tolle Ausgangssituation, wirklich! Ich hatte das Gefühl, dass ich solche Fälle hasste! Im Garten fanden sich keine weiteren Spuren, jedenfalls soweit ich das beurteilen konnte. Ich rief im Präsidium an und ließ die Spurensicherung kommen.

„Glauben Sie...“ Ich wusste ziemlich genau, was Frau Ueter mich fragen wollte. Ich hob die Schultern.

„Wir müssen alles in Betracht ziehen.“ Eine Politikerantwort! Auch das hasste ich!

Mit der Spurensicherung tauchte auch mein Chef auf, in dessen Begleitung sich der Mann befand, dem ich überhaupt „verdankte“, dass ich jetzt bei der Polizei war.

„Hauptkommissar Kronzucker kennen Sie ja sicher noch?“ meinte Horstmann. Kronzucker war Chef der Mordkommission.

„Herr Kronzucker!“ Ich nickte ihm zu. „Nett, dass Sie vorbeischauen konnten. Was interessiert denn die Zivilfahndung an diesem Fall?“ Ich deutete mit meinem Kopf in Richtung des Ehepaars.

„Och, wir dachten, wir könnten Ihnen ein bisschen zur Hand gehen.“

Zu dritt gingen wir in den Garten.

„Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?“ wollte mein Chef wissen.

„Was hätten Sie an meiner Stelle gemacht? Also, es sieht so aus, als wäre jemand über die Hecke gesprungen, hätte sich den Kleinen geschnappt und hätte den Garten dann auf die gleiche Weise wieder verlassen.“

„Und was schließen Sie daraus?“

„Dass alle Sportler potentiell verdächtig sind! Finden Sie es vernünftig, gleich die Mordkommission mit hierher zu bringen? Bisschen taktlos, wenn Sie mich fragen!“

„Ich frage Sie aber nicht! Haben Sie sonst nichts herausgefunden?“

„Nur Name und Adresse des Babysitters.“

„Gut.“

Kronzucker hob die Schultern und sah sich um. „Vielleicht ist das Kind nur mit Freunden unterwegs?“

„Ja, wahrscheinlich ziehen gerade die Anderthalbjährigen um die Häuser, saufen sich einen und belästigen ein paar Rentnerinnen aus der Nachbarschaft!“

„Entschuldigung!“ Kronzucker wurde still. „Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten!“

„Ganz meinerseits. Was machen Sie eigentlich hier?“

„Ich tue meine Arbeit, wie Sie!“

„Hmm, nur, dass wir noch keine Leiche haben. Zum Glück!“

„Da kann ich Ihnen nur zustimmen.“

„Okay, Rhode“, meinte Horstmann, nachdem er sich umgesehen hatte. „Machen Sie hier weiter, vielleicht lernen Sie ja was dabei! Kommen Sie, Kronzucker, gehen wir.“

„Bis dann, Harry!“ meinte Kronzucker und die beiden düsten ab.

„Adios!“ Ich tippte mir an die Hutschnur, die ich nicht hatte und wandte mich an die Leute von der Spurensicherung. Sie hatten auch nicht mehr gefunden als ich, wenn man von einer kleinen Stoff-Faser (nach Rechtschreibreform endlich sinnigerweise auch als „Stofffaser“ statt „Stoffaser“ möglich!) absah, die an einem der Büsche hängen geblieben war, als irgendjemand hinüber gesprungen war. Ich fuhr zum Babysitter.

Der Babysitter musste ungefähr drei Jahrhunderte älter sein als ich. Freundlich sah mich die alte Frau an, als ich vor ihrer Tür stand. Ich lächelte und vergewisserte mich, dass sie sie war; sie schien sich auch vergewissern zu müssen, dann bat sie mich herein.

„Gnädige Frau, sind Sie... Babysitter bei den Ueters?“

„Das stimmt.“

„Und... waren Sie gestern bei ihnen und haben auf den kleinen Albert aufgepasst?“

„Gestern Abend? Nein, junger Mann, gestern Abend habe ich mit einem Freund Schach gespielt.“

„Schach?“

Sie nickte. Ich fragte nach diesem Freund und sie schrieb mir Name und Adresse von ihm auf. Das brachte mich keinen Schritt weiter. Ich meine, diese nette ältere Dame würde doch wohl keine kleinen Kinder entführen? Vielleicht auf dem Feuer braten und essen, aber entführen? Nein! Ich untersuchte Alibi, Familienverhältnisse und alles Mögliche dieses Babysitters. Ich fand nichts.

Das einzige was ich hatte war ein kleiner Stoff-Fetzen (Stofffetzen!), Baumwolle, wie die Untersuchung ergeben hatte. Damit stand ich vor der Schlucht, sah hinab und sah nur die beiden Möglichkeiten, umzukehren und damit den Fall aufzugeben oder zu springen und damit mich aufzugeben! Übertragen bedeutete das, dass ich... nicht weiter wusste!

Ich fuhr in die Wohngegend der Ueters, eine hübsche ruhige Gegend. Langsam schlenderte ich herum. Von irgendwelchen Entführern war bislang keine Aufforderung eingetroffen. Wie ich es sah, hingen wir in der Luft – ich zumindest! Und wenn sich kein Entführer meldete, dann wurde es immer wahrscheinlicher, dass es sich um einen Sexualtäter handelte und das machte es wahrscheinlich, dass man bald die Leiche des Kindes finden würde.

Über die Hecke konnte ich in den Garten schauen. Ich sah mich um. Es gab kaum Platz zum Anlaufnehmen. Der Betreffende musste also in der Lage gewesen sein, aus dem Stand über diese Hecke zu springen. Nur ein enger Fußweg trennte sie von der nächsten, nach kurzem Suchen fand ich fand ich auch in der anderen Hecke abgebrochene Zweige. Dort musste er auf seinem Rückweg gelandet sein. Der Weg war gepflastert, es gab keine Fußabdrücke.

Wo sollte man hinlaufen, wenn man ein anderthalbjähriges Kind auf dem Arm hatte, das einem nicht gehörte? Ich ging den Weg weiter und stieß dort auf ein kleines Bächlein, dessen Ränder schlammig waren. Keine frischen Fußspuren. Hier war er also nicht hingelaufen und hier war er auch nicht hergekommen. Wie ich musste er also von der Straße gekommen sein. Dorthin ging ich zurück.

Man konnte dort sicher einen Wagen parken, zwischen den Hecken herlaufen, einen Jungen kidnappen und wieder verschwinden, mit etwas Glück sogar, ohne dabei gesehen zu werden. Man musste aber auch wissen, dass da ein Junge war, den man mitnehmen konnte, denn wenn er nicht im Garten herumgeflogen war, konnte man ihn wohl kaum gesehen haben. Es sei denn natürlich, man strich auf der Suche nach einem Opfer durch die Vorgärten, wobei man sich aber wieder der Gefahr aussetzte, sich verdächtig zu machen. So gesehen, rein rational, sachlich... passte nichts zusammen! Der Babysitter kam nicht, aber die Eltern ließen ihr Kind unbeaufsichtigt im Garten. Warum? Wollten sie, dass ihr Kind entführt wurde? Ich sprach mit Horstmann darüber.

„Sie sollten Geschichten schreiben, Harry.“

„Das tue ich!“

„Oh. Aber sehen wir den Tatsachen ins Auge: In ein paar Tagen wird die Leiche des Kindes gefunden und dann geht der Fall an die Mordkommission. Ich begrüße Ihren Einsatz, aber... ich fürchte, es gibt nicht mehr, was Sie tun können!“

„Wo würden Sie nach einem Kind suchen, das von so einem Menschen entführt worden ist?“

„Bei ihm zu Hause!“

„Ja, denke ich auch. Aber... ich meine, würden wir ein entführtes Kind mit nach Hause nehmen? Ich meine, man kann es ja wohl schlecht mit in eine Wohnung im Hochhaus nehmen, oder? Oder ins Hotel?“

„Solche Leute leben immer abgelegen.“

„Nnnnnein“, musste ich ihm widersprechen. „Die Nachbarn sagen doch immer, dass er ein ganz normaler Mann war, unauffällig, dem man nie so etwas zugetraut hätte...“

„Also wollen Sie jetzt alle normalen unauffälligen Männer verdächtigen?“

„Hmmm!“ Die Angelegenheit begann, mir über den Kopf zu wachsen und drohte mich von dieser strategisch günstigen Position zu erschlagen. Horstmann konnte auch nicht mehr machen als ich. Er kannte sich in diesem Job aus. Es war verdammt deprimierend! Aussichtslos!

„Guten Tag!“ Ich sah auf. In der Tür meines da-braucht-man-schon-eine-Menge-Humor-um-das-als-Büro-zu-bezeichnen stand ein Paar. Mir schwante etwas.

„Treten Sie bitte ein.“ Ich nahm meine Brille ab und rieb sie an meinem Hemd. „Setzen Sie sich doch. Was kann ich für Sie tun?“

„Es geht um...“ Bingo! Man hatte ihr Kind entführt. Und wie sich herausstellte, wohnten sie ganz in der Nähe der Ueters. Ich füllte das Protokoll aus, versicherte sie meiner tiefsten Bemühungen und stürmte in das bescheidene Büro meines Chefs: „Was halten Sie davon?“

Horstmann wurde nachdenklich. „In der gleichen Gegend... Wiederholungstäter?!“

„Hm, eigentlich schon. Aber...“

„Aber was, Harry? Woran denken Sie?“

„Ich meine, wir haben, Gott sei Dank, noch keine Leiche des ersten Kindes gefunden. Also entweder hat er sie gut versteckt, oder... was macht er mit den Kindern? Und: Warum in der gleichen Gegend? Warum Kinder von Eltern, die sich kennen? Da besteht doch die Gefahr, von irgendjemandem wieder erkannt zu werden!“

„Das sind mehr Fragen, als ein Normalsterblicher wie ich beantworten kann! Vielleicht... ist diese Gegend sowas wie sein Revier oder so? Er kennt sich dort ganz gut aus und denkt, deswegen kann er nicht erwischt werden. Vielleicht deswegen der Zufall, dass die Eltern der Kinder sich kannten?“

„Und dann... naja, er verwendet auch nicht das gleiche Schema!“

„Ja, gut, Harry, aber wie oft finden Sie schon spielende Kinder in Gärten?“

„Mag sein, aber... dieses Kind war auch viel älter! Und ist da nicht ein ungeheures Risiko, ein Kind auf dem Schulweg mitzunehmen?“

„Worauf wollen Sie hinaus? Dass der Entführer das Kind kannte und umgekehrt?“

Ich hob die Schultern. „Möglich!“

„Harry, sogar Sie könnten ein Schulkind mitnehmen, wenn Sie es geschickt anstellen. Und Sie können das sogar, ohne dass Sie jemand dabei bemerkt und auf Sie aufmerksam wird. Wir sind keinen Schritt weiter! Lassen Sie die Suchmeldung rausgehen! Ich hab das Gefühl, das wird ein trauriger Monat!“

Er sollte Recht behalten. Schon am nächsten Tag erschien eine Frau in diesem-nicht-einmal-büroähnlichen-Büro. Sie vermisste ihre Tochter, acht Jahre alt, die nicht vom Spielen nach Hause gekommen war. Sie wohnte in der Nähe der Ueters, kannte sie sogar. Das dritte Kind. Langsam mussten wir etwas unternehmen!

Welchen Zusammenhang gab es zwischen den Kindern? Außer dem, dass sie in derselben Gegend wohnten? Oder... war das der Zusammenhang? Aber man entführte nicht einfach ein paar Kinder, nur weil die Eltern einander kennen! Gut, manche taten sowas vielleicht, aber es blieb die Frage: Warum? Oder entführte der große Unbekannte sie nur, weil er sich an ihnen vergehen wollte? An Jungen und Mädchen? Zwischen anderthalb und acht Jahren? Wir hatten noch keine Leiche gefunden. Keines der entführten Kinder war wieder aufgetaucht. Ich kam mir fast vor wie zu Zeiten Herodes, aber die Wahrscheinlichkeit, dass jemand die Kinder für den Heiland hielt... war wohl doch selbst in unserer sektenüberfluteten Zeit ein wenig an den Haaren herbeigezogen. Dennoch, es gab viele Verrückte!

Es wurden Zivilfahnder eingeteilt, die sich Tag und Nacht in der betreffenden Gegend aufhielten. Ich sah mich dort um, befragte Leute, aber es kam nichts dabei heraus. Niemand hatte jemanden gesehen, der sich verdächtig benommen hatte, außer mir, aber als ich mich dann auswies klärte sich das Bild. Ganze drei Mal wurde ich verhaftet! Aber außer mir und den Zivilfahndern gab es keine Fremde.

Ein großes V für: Vielleicht war der Täter nicht aus dieser Gegend? Vielleicht aber doch! Sackgasse! Ich kam nicht weiter! Und: Trotz der Zivilfahnder verschwand ein weiteres Kind! Ein fünfjähriger Junge! Ein Fallbeil schwebte über mir. Und ich fand einfach keine Spur! Jedes Verbrechen, jede Entführung war anders! Es gab keine Zusammenhänge in der Ausführung, vielleicht... waren sie alle unabhängig voneinander begangen worden? Aber vielleicht spielte Gott auch im Radio Mundharmonika!

Wenn zwei ähnliche Vorfälle auftreten, kann das Zufall sein; wenn es drei sind, ist es möglicherweise schlechtes Timing; bei vieren kann es blankes pures Pech sein; aber wenn es fünf sind, dann hat es System! So merkwürdige Zufälle gab es normalerweise nicht! Wie... wie lange würde das so weitergehen?

Es ging nicht weiter! Am nächsten Tag erschien niemand, der sein Kind als vermisst melden wollte. Ein paar gestohlene Fahrräder, aber in einem anderen Teil der Stadt. Wirklich ohne Zusammenhang! Dennoch, die vermissten Kinder waren noch nicht wieder aufgetaucht. Nervös rauschte Horstmann in unser möglicherweise-ein-Bausatz-für-eine-Legebatterie-aber-mit-Sicherheit-kein-Büro, ging auf und ab, soweit der Platz dafür reichte und rieb sich unentschlossen das Kinn. Dann blieb er stehen, sah mich und Weiß an und sagte: „Der Polizeipräsident sitzt mir im Nacken!“ Dann setzte er seinen Weg fort.

Weiß löste heute keine Kreuzworträtsel. Dazu war die Lage zu ernst. Er hatte angefangen zu stricken. „Ich will ja weißgottnichts vom Zaun brechen, aber wir brauchen Resultate“, erklärte Horstmann bei einem neuerlichen Stopp. „Der Alte sitzt uns ganz schön im Nacken.“ Auf und ab. Auf und ab. Auf und. „Rhode, Sie sind doch immer so scharf drauf gewesen, Extratouren zu reiten und den Fall zu lösen. Rhodedendron, häh? Also gut, ich gebe Ihnen die Möglichkeit! Ziehen Sie los und untersuchen Sie den Fall... wie Sie es für richtig halten! Das bleibt unter uns, dass ich das gesagt habe! Und: Ich will keinen Sündenbock! Entweder Ergebnisse oder keine Ergebnisse, aber nicht eine Verhaftung um der Verhaftung willen!“ Ich nickte. Das war genau die Arbeitsweise, die ich angestrebt hatte. „Weiß bleibt hier und macht Telefondienst. Ich gehe und rede mit dem Alten.“ Horstmann sah mich an. „Reichen Ihnen 24 Stunden?“

„Woher soll ich das wissen, ich hab noch nicht mal ne Idee, wo ich anfangen soll!“

„Dann müssen sie wohl reichen! Gehen Sie los, versuchen Sie Ihr Bestes, lügen und betrügen Sie, wenn es sein muss, das können Sie doch ganz gut!“ Er seufzte. „Die Mordkommission wird schon ganz kribbelig, weil sie Leichen wittern.“

„Werd mir Mühe geben!“ Ich erhob mich, nahm meine Jacke und war schon fast zur Tür raus, als Horstmanns Stimme mich bremste.

„Sie haben Ihre Kanone vergessen!“

„Nein, habe ich nicht!“ Ich hatte sie nicht vergessen, ich hatte sie genau da, wo ich sie brauchte – in meinem Schreibtisch!

Ich nahm einen Dienstwagen und fuhr in die kleine Ansiedlung hinaus, in der sich die Entführungen ereignet hatten. An sich eine hübsche Gegend, nur die Nachbarn schienen keine Ehrfurcht vor den Kindern der anderen zu haben. Ich parkte den Wagen da, wo der Entführer wahrscheinlich beim ersten Mal geparkt hatte, neben dem kleinen Weg zwischen den Hecken. Von hier aus konnte man nicht in den Garten der Ueters sehen.

Ich ging langsam in den Weg hinein und es dauerte eine ganze Reihe von Schritten, bis ich endlich Einblick hatte. Und es gab keine Möglichkeit, dabei nicht gesehen zu werden. Warum also sollte ich dieses Risiko eingehen? Vielleicht... jemand, der nur seine Blase erleichtern wollte und dann sieht er den Kleinen auf dem Präsentierteller? Aber warum dann auch die anderen Entführungen? Zeugen vielleicht, die ihn dabei beobachtet hatten?

Ich ging zurück zur Straße und fuhr zum Haus des nächsten Opfers. Zwei Querstraßen entfernt. Und warum dieser enorme Altersunterschied? Nach und nach fuhr ich alle Häuser der entführten Kinder ab, sah mir den Schulweg an; nichts! Ich sprach mit den Eltern. Auch nichts, kein Anhaltspunkt! Es war aussichtslos. Ich wollte mich gerade auf den Weg nach Hause machen, als mein Autotelefon zu piepen begann.

„Ja, Rhode?“

„Wir haben die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden!“

Tatsächlich handelte es sich um eins der gesuchten Kinder. Kronzucker, der Chef der Mordkommission, befand sich am Fundort, eine abgelegene Sackgasse. Eine alte Mülldeponie lag hier. Kronzucker sagte, dass man die Leiche aus einem fahrenden Wagen geworfen hatte. Im Moment wurde die Umgebung nach weiteren Leichen abgesucht.

„Wo ist sie?“ fragte ich.

„Ich glaube nicht, dass Sie sie sehen wollen!“

„Doch, das will ich!“

„Ich hoffe, Sie können einiges vertragen!“ Er gab einem Sanitäter ein Zeichen; der schlug eine Plane zurück. Mein Herz setzte ein paar Schläge aus, ich wandte mich ab. Wer so mit einem Kind umging verdiente härtere Strafen, als sie der Gesetzgeber hierzulande dafür vorsah.

„Was hat man mit ihr gemacht?“ hauchte ich.

„Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten. Sie muss irgendwo verblutet sein. Scheint schon länger tot zu sein. Dann hat ihr Mörder sie hier rausgefahren und aus dem Auto geworfen und ist wieder abgehauen.“

„Ist sie... Hat man sie...?“

Kronzucker schüttelte den Kopf. „Er hat sie ermordet, aber er hat sich nicht an ihr vergangen!“

Irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, dass das die Sache besser machte.

Ich versuchte zu überlegen. „Wo ist der Sinn?“

„Wer sagt, dass es sinnvoll ist, ein kleines Mädchen zu ermorden?“

„Das ist wahr.“ Ich versuchte mich zu konzentrieren. „Also, er vergeht sich nicht an den Kindern, er bringt sie nur um? Und das nicht mal auf eine langwierige sadistische Art, sondern relativ schnell. Das heißt, genießt er es, sie zu töten? Was... was soll das? Ich bin ja kein Psychologe, aber wenn er sich nicht an den Kindern vergeht und wenn er es nicht genießt, sie zu töten, was... was soll das ganze dann?“

„Vielleicht ist es einfach nur krank!“

„Das ist es so oder so! Gibt es irgendwelche Spuren?“

Kronzucker schüttelte den Kopf.

„Wissen Sie was?“ murmelte ich. „Ich hasse diesen Beruf!“

„Vielleicht... vielleicht hat er die anderen Kinder ja nur entführt, weil sie Zeugen der ersten Entführung waren?“

Horstmann schien nicht überzeugt und ich war es ebensowenig.

„Ich meine, wenn es wirklich so war, können wir nur hoffen, dass er bei jeder weiteren Tat vorsichtiger war, was Augenzeugen angeht, sonst potenziert sich die Zahl der Zeugen und er legt nach und nach die ganze Bevölkerung dieses Landes um!“

„Wirklich witzig, Rhode! Ihrer Meinung nach werden also noch zwei Leichen auftauchen?“

„Keine Ahnung, ich... ich versteh das einfach nicht!“

Ich ließ mich hinter meinen Schreibtisch sinken und dachte nach. Wenn die drei also nur Zeugen waren, die ausgeschaltet werden mussten, also Zeugen der ersten Entführung... Blieb die Frage: Warum wurde der Kleine entführt? Eine spontane Aktion? Verlief nicht alles nach Plan und der Kleine starb? So etwas war in ähnlicher Form schon vorgekommen. In Kalk, einem Stadtteil von Köln hatte eine Babysitterin das Baby getötet, weil es ihr auf die Nerven ging und dann versucht, die Sache mit einer vorgetäuschten Entführung zu vertuschen. Musste jemand nach seinem Fehler seine Spuren verwischen, indem er die Zeugen ausschaltete?

Aber auch das machte keinen Sinn, weil Kinder ja bekanntlich sehr mitteilsam sind. Warum also das Risiko eingehen, dass die Kinder zu Hause etwas erzählen könnten? Spätestens bei der zweiten Entführung hätte doch eins der Zeugenkinder seinen Eltern gegenüber mit einer Geschichte, was es da neulich gesehen hätte, herausrücken müssen! Ich seufzte: „Das einzige, was wir jetzt noch machen können, ist die anderen drei Leichen zu finden!“

Es fanden sich noch zwei andere Leichen. Beide Kinder waren auf die gleiche Weise ermordet und beseitigt worden wie das Mädchen. Der kleine Sohn der Ueters war nicht dabei. Einen Tag, nachdem die dritte Leiche gefunden wurde, riefen sie im Präsidium an. Was sie uns mitteilten war... bemerkenswert: ihr Sohn habe sich wieder eingefunden. Horstmann und ich fuhren sofort hin.

In seinem Bettchen lag der Kleine und schlief friedlich vor sich hin. Dass seinetwegen möglicherweise drei andere Kinder hatten sterben müssen, störte ihn nicht. Es schellte und Kronzucker erschien. Auch ihn schien die Rückkehr des verlorenen Sohnes zu interessieren.

„Wann und wie ist er zurückgekommen?“ fragte Horstmann die Eltern.

„Irgendwann am Nachmittag. Er krabbelte hinten auf dem Weg zwischen den Hecken herum – wahrscheinlich hat man ihn dort ausgesetzt.“

„Ja, wahrscheinlich!“ murmelte ich. „Können Sie sich denken warum?“

„Wahr... wahrscheinlich hat sich der Entführer doch noch ein Herz gefasst und ihn uns zurückgebracht. Es gibt schon genug schlimme Taten!“ Da hatte Frau Ueter ziemlich Recht.

„Vielleicht wollte er nicht mit den Morden an den Kindern in Verbindung gebracht werden, die hier in der Gegend begangen worden sind.“

„Was dann bedeuten würde, dass die beiden Fälle nicht zusammenhängen!“ meinte ich. „Trotzdem schon ein Zufall, ich meine, beide Entführungen in der selben Gegend zur selben Zeit. Hm!“ Ich hob die Schultern und wir verließen das Haus.

„Was halten Sie davon?“ fragte Kronzucker.

„Mist!“ sagte Horstmann. „Aber die beiden haben unglaubliches Glück gehabt.“

„Was meinen Sie, Harry?“

Ich lächelte müde. „Ich weiß einfach nicht. Zwei Fälle, zwei Zufälle, einer davon ein brutaler Mörder und der andere ein gutmütiger Kidnapper, der seine Gelegenheitsentführung wieder dessen Eltern zurückbringt... Klingt eher nach Vorabendprogramm!“

Am nächsten Tag wurde die Leiche eines Landstreichers gefunden, der auf einem Zettel ein Geständnis abgelegt hatte. Er gab zu, die drei Kinder entführt und ermordet zu haben.

„Was halten Sie davon?“ fragte ich Kronzucker.

„Die Presse freut sich.“

„Haben Sie den Wagen gefunden?“

„Welchen Wagen?“

„Na den, aus dem er die Kinder geworfen hat!“

Kronzucker sah mich verblüfft an. Langsam begann sich ein klareres Bild abzuzeichnen.

„Sie glauben also nicht, dass der Landstreicher...“

„Meine Güte, als ich in meiner Kindheit irgendwann vom Kennedymord gehört habe und davon, dass man den angeblichen Mörder kurz danach selbst umgelegt hat, da war mir eines klar: Der kann es ja wohl nicht gewesen sein! Wie lange dauert es, bis Sie einen Durchsuchungsbefehl besorgen können?“

„Das kommt darauf an! Haben Sie irgendwelche Beweise?“

„Nein, deswegen brauch ich den Durchsuchungsbefehl. Und selbst dann besteht die Möglichkeit, dass wir nichts finden!“

„Ich weiß nicht...“

Ohne werden wir nichts beweisen können!“

Kronzucker sah Horstmann an, der hob nur die Schultern. Er nickte. „In Ordnung. Wofür brauchen Sie ihn?“

„Tja, das... das weiß ich noch nicht so genau!“

Wir kehrten dahin zurück, wo die ganze Geschichte begonnen hatte – ins Haus der Ueters. Im Wohnzimmer, wo der Kleine auf dem Teppich lag und spielte nahmen wir Platz.

„Wir sind ja so froh, dass er wieder da ist“, sagte Frau Ueter und schien sehr froh zu sein, dass er wieder da war.

„Ja, das sind wir auch“, stimmte ich zu. „Es ist wirklich ein Wunder!“

„Da haben Sie Recht, ein Wunder! Nun, was führt Sie zu uns?“

„Es ist... in gewisser Weise hat der Fall hier begonnen!“

„Bitte?“

„Der kleine Albert, Ihr Sohn...“

„Aber er ist doch von jemand anderem entführt worden als die anderen Kinder. Und Sie haben den Mörder doch gefunden!“

„Ja, das stimmt schon. Aber... ich habe die Theorie entwickelt, dass die drei anderen Kinder ermordet worden sind, weil sie vielleicht Zeuge von etwas waren?“

„Zeuge? Von was denn?“

„Sehen Sie, das ist es nämlich worauf ich mir keinen Reim machen kann! Von was sollen sie Zeuge gewesen sein? Und dann ist da noch etwas: Der Landstreicher hat sie nicht ermordet?“

„Nicht?“

„Nein, er ist selber ermordet worden. Sehen Sie, er wäre aufgefallen, wenn er hier in der Gegend herumgestrichen und Kinder mitgenommen hätte. Und dann hätte er einen Ort gebraucht, an dem er die Kinder in Ruhe hätte umbringen können, aber die Orte, die ihm zur Verfügung gestanden hätten, haben wir untersucht: nichts! Und zu guter Letzt sind die Leichen aus einem fahrenden Wagen geworfen worden – der Mann hatte aber weder ein Auto noch überhaupt einen Führerschein! Außerdem stimmte der Stofffetzen, den wir gefunden haben, nicht mit seiner Kleidung überein, kann also auch nicht von ihm gekommen sein.“

„Dann... kann er es nicht gewesen sein!“

„Exakt! Was die Zahl der Morde auf vier erhöht! Und noch etwas: Der Mörder stammt hier aus der näheren Umgebung!“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Die Kinder mussten Vertrauen zu ihm gehabt haben, sonst wären sie ihm nicht so leicht ins Netz gegangen!“

„Oh mein Gott!“

„Deswegen sind wir hier. Wenn Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches auffallen sollte, melden Sie es uns bitte! Der Mörder ist noch auf freiem Fuß und es besteht die Gefahr, dass er noch mal zuschlagen könnte!“ Wir erhoben uns. „Also, vielen Dank. Wie geht es Ihrem Sohn?“

„Sie sehen es ja, es geht ihm wieder gut!“

Sie sah mit warmem Blick auf ihr Kind.

„Wenn man bedenkt, was er durchgemacht haben muss...“ Ich lächelte und ging neben dem Kleinen in die Knie. „Na, du, alles okay?“

Er nickte und grinste mich feist an.

„Sorgen immer gut für dich, deine Eltern, was?“ Ich nickte in ihre Richtung und er nickte wieder.

„Würden dich doch nie alleine lassen, oder?“

Er schüttelte den Kopf.

„Haben sie dich schon mal alleine gelassen?“

Wieder schüttelte er den Kopf und brabbelte irgendetwas.

„Hattest einen schönen Ausflug, ja?“

Er nickte und grinste wieder. Ich sah zu den Eltern auf. Sie wirkten bleich.

„Süß, Ihr Kleiner. Wirklich süß! Der einzige Belastungszeuge den wir haben ist Ihr anderthalbjähriger Sohn. Welche Ironie.“ Ich erhob mich langsam. „Es hat mich fast um den Verstand gebracht, weil ich nicht verstanden habe, warum? Ich meine, es gibt keinen schlüssigen Zusammenhang zwischen den Ermordeten.“

„Wovon sprechen Sie?“

„Ich spreche von Mord! Von Mord an drei Kindern! Und ich will verdammtnochmal wissen, warum!“

„Aber…“ Er lächelte, wenn auch unsicher. „Sie wollen doch nicht unterstellen, dass wir...“

„Ich unterstelle gar nichts! Ich habe Beweise! Die Idee, Ihr Kind als erstes angeblich entführen zu lassen, damit Sie wie ein Opfer, nicht aber wie ein Täter wirken, ist genauso oberflächlich gut, wie sie bei näherer Betrachtung in ihrer Glaubwürdigkeit überstrapaziert wird. Oder kurz gesagt: Es hat nicht funktioniert! Im Gegenteil, es hat mich eher stutzig gemacht!“

„Sie wollen uns doch nicht vorwerfen, dass unser kleiner Junge entführt worden ist?“

„Nein, ich will Ihnen Mord vorwerfen, haben Sie das jetzt endlich kapiert?“ Ich wurde sauer. „Wissen Sie, wir haben die Waldhütte Ihres Freundes gefunden. Ist nicht nur so abgelegen, dass man darin jemanden zu Tode foltern kann, ohne dass es irgendwelche Nachbarn stört, es haben sich auch die Beweise gefunden, dass alle drei Kinder dort ermordet worden sind. Von Ihnen beiden! Und ich will wissen warum?

Statt einer Antwort begannen die beiden zu lächeln. Fast nachsichtig, aber nicht richtig. Doch sie schwiegen.

Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte eine Antwort haben.

„Wissen Sie“, begann ich, „wenn… wenn die Eltern der Kinder beispielsweise im selben Krankenhaus arbeiten würden, und dass da irgendwas geschehen wäre…“

Schweigen.

„…zum Beispiel bei der Geburt von Albert. Dass man Sie falsch behandelt hat, Ihnen die Eierstöcke herausnehmen musste, so dass Sie nie wieder Kinder bekommen können…“

Keine Reaktion.

„…und, wer weiß“, ich verzweifelte, „dass man dem kleinen Albert vielleicht eine Infusion legen musste und dabei hat er infiziertes Blut bekommen, so dass… er niemals ein richtiges Leben wird führen können und Sie können keine Kinder bekommen, dass man ihnen, selbst, wenn es nur Unfälle waren, so etwas angetan hat und sie sich dafür rächen wollen, das… das könnte ich vielleicht halbwegs verstehen.“

Schweigen, kaltes, unbarmherziges Schweigen.

Dann: „Sie werden es irgendwann verstehen, junger Mann. Irgendwann werden Sie es verstehen!“

Sagten sie.

Und sie lächelten.

Horstmann verständigte einen Streifenwagen.

Warum, verdammt?“ schrie ich.

Aber sie lächelten nur.

„Auf diese Frage werden Sie nicht immer eine befriedigende Antwort bekommen, Harry“, sagte Kronzucker.

Das Ehepaar wurde abgeführt.

„Es gibt nicht immer ein Warum, jedenfalls nicht immer eins, das für uns verständlich wäre. So ist das eben in diesem Beruf.“

Ich stand nur fassungslos da.

„Machen Sie sich nicht fertig deswegen, Rhode, es war gute Arbeit!“ Horstmann klopfte mir im Vorbeigehen auf die Schulter.

Ich wusste, er hatte Unrecht. Wäre es gute Arbeit gewesen, wären die drei Kinder jetzt noch am Leben!

„Rhode?“ Kronzucker trat neben mich. „Alles okay?“

Ich nickte müde.

„Hey, Rhode!“

Ich sah ihn fragend an.

„Die Welt ist nun mal schlecht! Daran werd ich nichts ändern und daran werden Sie nichts ändern! Aber unser Job ist es, zu verhindern, dass sie noch schlechter wird! Und, glauben Sie mir, dieses Gefühl, das Sie jetzt empfinden, dieses Gefühl vielleicht nicht schnell genug gewesen zu sein, nicht genügend getan zu haben und sich einzureden, dass man es vielleicht doch noch hätte verhindern können – das wird mit der Zeit auch nicht besser!“

Ich grunzte irgendetwas Unverständliches als Antwort und machte mich auf den Weg nach draußen.

„Ach, Harry!“

„Hmm?“ Ich drehte mich nach ihm um.

„Ich hab mit Ihrem Chef gesprochen. Sie sind ab sofort zur Mordkommission versetzt! Kommen Sie am Montag vorbei und... dann reden wir über alles!“

Ich nickte und ging nach draußen. Ich war jetzt also in der Mordkommission – und ich fand, es war ein beschissener Job!

Tod du Fröhliche

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