Читать книгу SPES - Martin Creutzig - Страница 10
Brave New World
ОглавлениеEin unkonzentrierter Blick zur Seite auf die Wilhelmstraße ließen ihre Augen groß werden. Sie hatte es nur am Rande ihres Bewusstseins bemerkt: der Straßenverkehr, diese Schlangen von Autos auf der Straße waren wie immer. Stau auf der Wilhelmstraße, Auto an Auto. Beruhigend, dass manche Dinge sich nicht geändert hatten. Diese Fahrzeuge jedoch waren kaum zu hören! Deswegen sah sie sich die Autos genauer an. Sie sahen aus wie Eier. Menschen saßen in ihnen, die auf Bildschirme starrten. In einigen Autos saß niemand vorn. Sie bremsten automatisch, wenn sie anfuhren und der Abstand doch zu kurz wurde, und dann fuhren sie wieder los. Das war im Stopp-and-Go-Verkehr gut zu beobachten. Selbst die Lastwagen waren geräuschlos.
An einem Auto blieb ihr Blick noch länger haften. Es war ein SUV, wenn man ihn so nennen konnte, denn auch er war recht eierig. Das aber war nicht das wirklich Erstaunliche. Der Mensch in diesem Auto, ob es eine Frau war oder ein Mann, konnte sie nicht erkennen, schien gerade wie nach einem kurzen Schläfchen aufzustehen. Dieser Mensch war erst nicht zu sehen, vermutlich weil er gelegen hatte, und dann hatte er sich, als der Wagen vor der roten Ampel stand, im Fahrzeug aufgerichtet. Die Ampel schaltete auf Grün und plötzlich saß er deutlich sichtbar auf einem Sessel mit hoher Lehne, wo doch noch eben sich das Etwas befunden haben musste, auf dem er gelegen hatte. So ein SUV war groß. Aber so groß? Oder hatte er sich im Inneren selbst umgebaut?
Was ging hier eigentlich ab? Nicht auf den ersten Blick war alles anders. Auf den ersten Blick war hier Berlin. Aber auf den zweiten? ›Mit dem Zweiten sieht man besser‹, fiel ihr ein, und weil das die so profane Werbung des ZDF war, sah sie nach oben zum Himmel und rollte die Augen über sich selbst und entdeckte die über der Straße gespannten Leitungen und Stromleitungen, an denen sie hinunter sah. Unter der Leitung fuhr ein Lastwagen, der mit einem Stromnehmer mit der Stromleitung über der Straße verbunden war wie früher die Züge. Jenny schnüffelte in Richtung der Straße. Sie roch keinerlei Abgase. Das war es also. Elektromobilität 2.0, die mittlerweile schon wieder gegen eine Wand gefahren war. Jenny musste grinsen.
Dann kam doch noch ein Auto die Wilhelmstraße entlanggefahren, das Geräusche produzierte. Sie kannte diesen Wagentyp. Ein aktueller Porsche, der gerade herausgekommen war. Sie hatte dieses Automagazin auf dem Nachttisch ihres Vaters gesehen.
Mit einem Mal, ganz unerwartet, hatte sie den Nachttisch vor Augen. Erst diesen Nachttisch, dann das Bett und ihren Vater darin, zunächst seinen Körper, umhüllt von der Bettdecke, und dann sein Gesicht. Jenny musste stehen bleiben, sie konnte nicht weitergehen, denn ihr Blick verschwamm und eine Träne lief über ihre Wange. Eine einzelne, einsame Träne. Rocco umarmte überraschend ihre Schultern, beugte sich zu ihr hinab und seine Augen fragten, was mit ihr los war. Er schien ein untrügliches Gespür für Menschen zu haben, denen es nicht gut ging oder die in Not waren. Doch sie reagierte nicht gleich auf ihn und seine Aufmerksamkeit. Sie brauchte Zeit, Zeit das Gesicht ihres Vaters vor ihrem inneren Auge zu zeichnen, erst die Umrisse, die Augen, den Mund, so lange, bis sich das Gesicht mit Farbe füllte und ihr Vater war. Ein aufgeschwemmtes Gesicht, grau und mit blutleeren, fahlen Lippen, die sie mit freundlicher Zugewandtheit schwach anlächelten.
Sie erinnerte sich an ihn und an diesen einen Gedanken, als sie diesen Porsche damals auf dem Titelblatt gesehen hatte, und ihre Scham darüber, was sie imstande gewesen war zu denken. Ihr Vater liebte Porsche, das war sein unerfüllter Traum! ›Keine Beine, kein Porsche‹, hatte sie damals gedacht, den Titel vor Augen. Jenny hasste bisweilen ihren Vater für seine Krankheit. Aber sie erinnerte sich daran, weil sie sich danach ihres Zynismus so sehr geschämt hatte. In diesem Moment ihrer Abwehr gegen das Schicksal ihrer Familie, dessen Grund nicht nur in papiernen medizinischen Expertisen, sondern zum Anfassen körperlich vor ihr lag, hatte sie gespürt, wie sich in ihrem Inneren ihr Herz zusammenzog. Dieses ewige Mitgefühl mit ihrem Vater war Napalm auf die Dynamik ihrer Familie, ähnlich einer Verstrahlung, die jedoch abgestellt worden war, wie man damals Atomkraftwerke abstellte. Doch ihn konnten sie nicht abstellen. Ein Abstellgleis vielleicht, hatte sie damals gedacht, für eine kaputte Lokomotive. Die Krankheit war Napalm, es entlaubte sie und machte ihre Seelen nackt, schutzlos angreifbar, angreifbar für das ganz normale Leben. Doch die tragische Schuld ihres Gedankens ließ damals ihr Herz verkrampfen.
Jenny fasste sich an ihre Brust. Sie spürte den gleichen Krampf ihres Herzens, als wäre er nie vorbei gewesen. Fast alle Gedanken von damals waren wieder da. So hatte sich Jenny das Leben vorgestellt, wenn man sich trennte. Wenn sich ihre Mutter vom Alkoholnebel des Schlafzimmers trennte. Für immer. Sie ihre Töchter mitnähme in eine andere Wohnung irgendwo in Marzahn. Sie wusste schlagartig wieder, wo sie gelebt hatten, nicht gelebt – gewohnt. Marzahn. Im öden Plattenbau nicht weit entfernt vom Industriegebiet, das ›Clean Tech Business Park‹ hieß, aber eigentlich fast nur aus einer riesigen leeren Steppe bestand.
Wenn sie ihn verstießen, irgendwo hinsteckten, ihn sich selbst überließen wie das Gnu, das dem Biss des Löwen entronnen war, aber am Blutverlust der Wunden stürbe, weil es nicht mehr auf die Beine käme. Wenn sie ihn ausstießen, stürben sie selbst einen emotionalen Tod, weil der Verrat an ihm ihr Inneres ausbrennen würde. Das war für Jenny der wahre Inhalt des Begriffs ›Tragik‹. War sie deshalb wieder hier, war sie genau genommen aus diesem Grund gestorben?
Jenny konnte sich nicht mehr auf ihren Beinen halten und war zugleich irritiert. Das konnte gar nicht sein: sie hatte sich immer unter Kontrolle! Ihr Wille ließ ihre Lippen schmal werden und trotzig steckte sie eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. Doch der Krampf ihres Herzens wollte und wollte nicht aufhören. Sie gab nach und setzte sich auf den Asphalt. Rocco beugte sich zu ihr hinunter, fühlte ihren Puls, ihre Stirn, sah sie an, als würde er sie untersuchen. Er legte seinen Arm um sie, streichelte über ihr glänzendes Haar. Er sprach ganz automatisch davon, sie ins Krankenhaus zu bringen, was doch aber Unsinn war für Engel, und Jenny schüttelte heftig ihren Kopf. Rocco setzte sich neben sie. Er nahm ihren Arm, kontrollierte noch einmal ihren Puls, schüttelte den Kopf. Ihr Puls raste. »Kein Krankenhaus!«, sagte sie. Es war eine mechanisch geäußerte Bitte. »Versuch, meine Gedanken zu lesen, das würde mir helfen, wenn du mich verstehst, vielleicht kannst du das!«
Rocco ließ ihr Handgelenk nicht los, das er sanft umfasst hielt, und versuchte tatsächlich, sich zu konzentrieren. Las er ihre Gedanken? Ging das? Doch er las nichts, keine Worte. Stattdessen sah er Bilder. Bilder, die sie in ihrem Kopf hatte.
Er richtete seinen Blick leer auf die Straße. Die Menschen gingen achtlos an ihnen vorbei. Afrika war anders, dachte er. Diese Achtlosigkeit gab es dort auch. Es war die Achtlosigkeit der Mächtigen gegenüber den Machtlosen. Aber auf der Straße zwischen gewöhnlichen Bürgern, war sich Rocco sicher, wäre er öfter gefragt worden: »Ey, was ist los, Mann? Was ist los mit der Kleinen da? Kann ich helfen?« Oder so etwas eben. Hier fragte keiner, was vermutlich daran lag, dass keiner sie sehen konnte, aber spürten sie denn das Leid nicht, das Jenny ausstrahlte? Er konnte ihre Verzweiflung und Trauer ganz deutlich wahrnehmen.
Jenny war nicht mehr im Hier und Jetzt. Ihr Puls hatte sich beruhigt und Rocco ließ ihr Handgelenk los. Sie saß zusammengekauert auf dem Boden, ihren Kopf auf ihren verschränkten Armen. Rocco blickte nach oben. Die Markise eines Shops spendete ein wenig Schatten. Aber sie würden etwas zu trinken brauchen.
Sie hatte hier gelebt, in dieser Stadt, in Berlin, da war sie sich sicher, Marzahn … es war in ihrem Kopf wie eine Erinnerung, das war deutlich. Denn oft war sie an diesem Gebäude vorbeigekommen, meist in einem Bus. Sie hatte Bilder vor Augen, wenn sie aus dem Bus auf den Reichstag sah. Aber es gab noch mehr Bilder, die mit diesem Gebäude zusammenhingen. Da gab es die Bilder von Partys, die vor diesem Gebäude stattgefunden hatten, und andere Partys, das Brandenburger Tor zu Silvester, als sie eine glückliche Familie waren, und dort standen sie mit tausenden von Leuten und ihre Eltern, die glücklich beschwipst von Bier und Sekt nach Hause stapften, ihre Kinder nie aus den Augen lassend.
Als ob das Brandenburger Tor eine Einfallsschleuse in ihre Erinnerung wäre, war plötzlich alles wieder da – ihre Geschichte, die ihre Vergangenheit war.
Rocco, der nicht wieder aufgestanden war, konnte ihre Gedanken nicht lesen wie ein Buch, so sehr er sich auch bemühte. Aber Rocco verfolgte ihre Gefühle in Bildern vor seinem geistigen Auge, Bilder ihrer Gedanken.
Er blieb stumm neben ihr auf dem Asphalt sitzen und ›sah‹ dieser Bilderflut zu, die er von ihr empfing. Wie durch eine unerwartete Eingabe wurde ihm angesichts dessen klar, was er für Jenny sein würde: der Fels in der Brandung und ihr Beschützer. Bei den Demonstrationen in Karthoum war er nur ungern in den Vordergrund getreten; er hielt sich gern in der zweiten Reihe auf. Er war der stille Beobachter, ein Mediator, der einschritt, um zu vermitteln oder auch zu motivieren. Er würde hinter ihr stehen, um sie zu unterstützen, anzuschieben, nach vorn zu bringen, und er würde vor ihr stehen, würde sie mit Dreck beworfen oder bedroht werden. Nicht nur deswegen, aber auch aus diesem Grund hatte ihn Gianna geliebt und Se ihn respektiert. Seine tiefe, bestätigende Stimme als Bestätigung und Schutz und sein Körper als stählerner Schild, das waren seine Stärken – die er auch als Engel einsetzen konnte.
Er folgte Jenny in ihre Erinnerungen und Gefühle: Sie hatten Silvester am Brandenburger Tor gefeiert, ihr Paps war erst dagegen gewesen und ihre Mutter war sofort begeistert dafür. Sie hatte ihn nie gefragt, warum er dagegen zu sein schien. Sie war Feuer und Flamme und er bemühte sich, kein Spielverderber zu sein – Jenny bemerkte es –, ein Umstand, der sich in letzter Zeit immer häufiger andeutete. Das ging so, bis er seiner Frau endlich seine Schmerzen in den Beinen offenbarte, die ihn schon nach wenigen Jahren an den Rollstuhl fesselten. Die Nervenkrankheit schlich von unten nach oben, bahnte sich immer mehr ihren Weg durch seinen Körper.
Paps’ Krankheit kostete viel Geld, die Krankenversicherung sträubte sich, wo sie nur ein Schlupfloch sah, weshalb die Familie in Marzahn blieb. Das war nicht der Plan ihrer Mutter gewesen. Sie wollte eigentlich nichts wie weg, raus aus Marzahn! Jenny verstand sie, ihr war wie ihrer Mutter nichts lieber, als Marzahn den Rücken zu kehren. Aber sie verstand, dass es nicht ging.
Schließlich war ihr Vater die meiste Zeit ans Bett gefesselt gewesen; er konnte sich kaum bewegen, wurde von einer Krankenschwester am Morgen notdürftig versorgt, sodass seine Frau sich nicht so sehr um ihn kümmern musste. Jenny kam nachmittags aus der Schule und Paps schlief. Er schlief, weil er mittags von den Schmerzen aufgewacht war. Dann nahm er die Schmerzmittel, die seinen Körper betäubten. Er nahm viel zu viel davon. Doch nur so wirkten sie, dass er seine Gliedmaßen nicht mehr spürte. Er hatte einen schmalen Zeitkorridor, in dem er sich ohne Pein rühren konnte, den er nutzte, um nach unten zu rollen bis ganz nach unten ins Erdgeschoss und dann fuhr er ein paar Meter bis zum Kiosk. Mit dem Fusel betäubte er nachmittags die Schmerzen in seinem Herzen und seinen Gliedmaßen. Eine große Flasche, selbst wenn der Beipackzettel der Medikamente vor Alkoholkonsum deutlich warnte. Dann rollte er wieder in die Wohnung, im Schlafzimmer ans Fenster, starrte hinaus und trank, bis er wieder ins Bett fiel und weiterschlief.
Selbst wenn der Alkohol bis zum nächsten Morgen in seinem Körper abgebaut war, würde er noch von den Schwaden, die sich im Schlafzimmer ausgebreitet hatten, betäubt bleiben. Jenny bewunderte ihre Mutter, die Nacht für Nacht das Schlafzimmer mit ihm teilte. Andererseits hatte sie jedoch kaum eine andere Wahl, war die Wohnung doch ziemlich klein und ihre beiden Kinder sollten ein eigenes Zimmer haben.
Jennys Mutter schien ihren Mann nicht zu verachten – ganz im Gegenteil. Wenn sie seine eigene Schlafmedikation missbilligte, verstand sie ihn. Denn oft bekam sie mit, wie er fühlen musste, sie spürte den Schmerz fast an ihrem eigenen Körper. Sie fühlte, welche Höllenqualen ihr Mann durchlitt, Stunde um Stunde und Tag für Tag. ›Ach, Jenny, die Schmerzen deines Vaters sind eine furchtbare Pein!‹, erinnerte Jenny sich an eine Aussage ihrer Mutter. Aber ihre Mutter blieb dennoch eine Realistin. Für die reinen Realisten jedoch war das Leben oft nur eine ›Truman-Show‹ – Jenny hatte den Film gesehen: Ihre Mutter führte dabei Regie, doch sie war eisig, es ging nur ums Überleben. Sie musste sachlich bleiben, sonst gab es kein Überleben. So einfach war das. Was die Krankenkasse nicht zahlte, finanzierte Jennys Mutter. Sie arbeitete für zwei und kam immer spät und ausgelaugt zurück, fünf Putzstellen waren schlicht zu viele.
Jenny tat ihre kleine Schwester leid, die erst zehn Jahre alt war. Sie hatte kaum etwas von ihrem Papa gehabt in ihrem Leben. Die beiden Schwestern lagen zwölf Jahre auseinander und Jenny wunderte sich gelegentlich, dass ihr Vater der Erzeuger ihrer kleineren Schwester sein sollte. Denn schon zur Zeit ihrer Zeugung hatte er im Rollstuhl gesessen und ab mittags geschlafen. Ihre Schwester war auch irgendwie ganz anders als sie. Sie hatte blonde Haare und blaue Augen und sie war schon jetzt fast so groß wie sie. Doch letztlich war das gleichgültig, solange die Liebe blieb. Denn er hatte die Kleine immer geliebt, auch wenn er dabei immer ausdrucksloser zu werden schien. Die Liebe musste angeschlagen worden sein, denn die Krankheit war wie ein Boxer, der unaufhörlich auf ihre Familie eindrosch. Dennoch blieb ihr Vater das Zentrum der Familie. Und war sein Lächeln auch noch so farblos geworden, es blieb sein Lächeln, das die Familie zusammenhielt, auch wenn er nicht mehr tun konnte, als den Versuch zu unternehmen, sie anzulächeln.
Noch tragischer wurde die Situation, als die Ärzte ihren Irrtum bemerkten. Sehr wohl litt ihr Vater an dieser Nervenkrankheit, die ihn zur Bewegungslosigkeit verdammte. Und sie hatten sich gewundert, warum die Medikation so schlecht anschlug, doch bei dieser Feststellung hatten sie es belassen. Bis ein junger Assistenzarzt, neu in der Klinik, weitere Tests veranlasste. Er war dem eigentlichen Grund der Krankheit auf der Spur und fand ihn schließlich auch. Ein Tumor im Gehirn war der Auslöser für die Fehlsteuerung der Nerven. Nur dass die Zeit inzwischen abgelaufen war, um ihn zu entfernen. Der junge Arzt war so freudestrahlend, als er das CT-Bild ansah, weil er den eigentlichen Bösewicht entlarvt hatte. Jenny, die wie der Rest der Familie hinter dem Arzt stand und auf den Bildschirm starrte, verstand ihn. Vom Hausarzt bis zu den spezialisierten Klinikärzten war niemand auf die eigentliche Ursache gekommen. Für ihn war das ein voller Erfolg. Aber für seinen Patienten nicht.
Und kurz nach dem überbordenden Gefühl seines Erfolgs merkte auch der junge Arzt, dass er der vollständig anwesenden Familie erklären musste, dass der Tumor nicht operabel sein würde. Er druckste ziemlich herum, als es um diesen Punkt ging, die Augen ihrer Mutter waren starr auf den jungen Arzt gerichtet, während ihr Vater auf den Boden sah und Jenny seinem Blick folgte und ihre kleine Schwester Playmobil spielte. Der Arzt war sichtlich überfordert mit der Situation und stammelte, er war rot im Gesicht und dennoch war seine Haut im Grundton merkwürdig grau, als er dann ergänzend die Tatsache formulierte, dass Tumore dieser Art erblich sein konnten.
Ihre Mutter hakte ein: »Wie viel Prozent, wie wahrscheinlich ist das?« Sie blickte ihre Töchter an.
Der junge Arzt begriff sofort. »Fünfzig, vielleicht dreißig, die Forschung ist noch nicht so weit bei dieser Art von Tumoren …« Jennys Hand suchte die ihrer Mutter, um ihr das Gefühl zu geben, bei ihr zu sein.
Doch da war ihre Mutter schon aufgestanden, griff nach dem Rollstuhl ihres Mannes, hatte Tränen in den Augen. Jenny folgte ihr nach draußen. Jennys Hand lag sanft auf seiner Schulter. Nur ihre kleine Schwester hing an den Playmobil-Figuren. Sie blieb sitzen, um weiterzuspielen.
»Nur mit dem Alkohol …, das sollte er …«, der junge Arzt sprach nun wieder sicherer weiter, »… lassen.«
Sie waren fast aus der Tür, hörten noch diesen letzten Satz und standen schließlich hilflos auf dem kalten Klinikflur. Sie warteten auf ihre kleine Schwester. Der junge Arzt hatte sich zu ihr gehockt, saß nun vor dem kleinen Mädchen, das gedankenverloren spielte, und wusste offenbar nicht so recht, was er tun sollte. Bis Jenny sie aus dem Behandlungszimmer holte, ihr über den Kopf streichend die kleinere Kinderhand in ihre nahm, sie anlächelte.
Auch wenn in der Familie Liebe und Rücksicht herrschten, war die Liebe dabei eine Regentschaft, die das Elend kaschierte wie das Präsentpapier das darin liegende unerwünschte Geschenk. Jenny wollte heraus aus diesem jahrelang anhaltenden Schlamassel, in dem sie aufwuchs. Sie strengte sich daher in der Uni an. Das war für sie der ›Stairway to Heaven‹. In den letzten beiden Jahren musste sie oft weinen, wenn sie sich zu sehr anstrengte. Die Tränen versiegten bald wieder und ihr Erfolg gab ihr Recht und war die Rechtfertigung dafür, die Tränen nicht zu ernst zu nehmen, obwohl die Tränen von einem stechenden Schmerz in ihrem Kopf rührten. Aber ihre Schmerzen verschwanden stets schnell wieder. Es war sogar recht hübsch anzusehen, wenn die glasklaren gläsernen Perlen sich mit dem rötlichen Lidschatten am unteren Wimpernkranz vermischten. Seit einiger Zeit verschönerte sie sich mit dem rötlichen Lidschatten. Sie sah darin vor dem Spiegel einen wunderbaren Kontrast zu ihrem dunkelbraunen Haar und einen noch schöneren Kontrast zu ihren graugrünen Augen.
Die Jungen mochten sie so. Jenny aber mochte die Jungen nicht. Jungen würden ihr bei keinem ihrer Probleme helfen können, ganz im Gegenteil. Sie würden ihr nur weitere Scherereien bringen, Liebesprobleme. Ihr Leben war an sich schon kompliziert genug. Ein ganzer Sack voller Schwierigkeiten bis zum Abwinken. Sie ahnte den Spaß und die Lust, die sie mit einem Jungen erleben könnte, sah das bei den anderen Mädchen ihres Alters. Aber es würde nicht funktionieren bei ihr, da war sie sich sicher. Niemals. Jedenfalls nicht, bis sie heraus war aus dem Ganzen und ihr eigenes Leben hatte. Das Harte ihres bisherigen Lebens hatte sie zu einer Realistin werden lassen. Die Realität erkennen, um zu überleben. Romantik war Quatsch aus dem Kino: Schön anzusehen, wenn sie mal Zeit hatte. Aber, wenn sie die Tür des Kinos nach draußen aufstieß, spürte sie den kalten Windzug ihrer Realität im Gesicht.
Und dann war da dieser Morgen, an dem Jenny verschlafen hatte. Sie hatte zu lange bis in die Nacht für die Matheklausur an der Uni gelernt. Sie wachte auf und wunderte sich nicht darüber, fast eine Stunde zu spät zu sein. Kopfschüttelnd und schlapp und verschlafen zum Bad schlurfend, missbilligte sie ihre Disziplinlosigkeit und zunächst den Spiegel vor ihr an der Wand. Sie hustete. Instinktiv schnellte ihre Hand zu ihrem Mund, doch sie bemerkte ihren Husten nicht einmal. Sie fühlte, dass ihre Stirn warm war, als ihre Hand darüber fuhr, während sie mit der anderen ihre Zähne putzte. Für einen gesunden Menschen war ihre Stirn befremdlich warm, aber eigentlich auch nicht wärmer als am Vortag. Sie wischte sich eine Strähne aus ihrem Gesicht. Sie hatte gestern bis in die Nacht gelernt. Sie zuckte die Schulter und spuckte aus. Erst jetzt spürte sie einen Druck auf ihrer Brust, keinen stechenden Schmerz beim Atmen. Nein, aber irgendjemand hatte ihr einen schweren Hammer auf die Brust gelegt. Das musste der Stress sein. Sie grinste sich verlegen im Spiegel an, sah eigentlich nur ihre Verlegenheit: das war die anstehende Matheklausur. Sie musste aufpassen. Bislang hielt sie sich eigentlich für resistent gegenüber irgendwelchen Psychomacken.
Sie hatte sich im Spiegel ansehend nur überflogen. Sie hatte ja keine Zeit für eingehende Betrachtungen ihrer selbst. Es kam darauf an, den Bus nicht zu verpassen, die Klausur nicht zu verpassen, das alles nicht zu verpassen, um Marzahn zu verlassen. Es stand für sie immer alles auf dem Spiel. Denn ihre Grundlage war ein schmaler Grat und kein breites Fundament. Das Fundament waren ihr geliebter kranker Vater und ihre Mutter – auch wenn es manches Mal schwer mit ihr war. Es war ihr Vater, den sie hinabgebeugt zu seinem Rollstuhl umarmte, wenn sie früh nach Hause kam, und der mit leerem Blick durch das Fenster auf die Straße sah. Das war sein Leben. Und die Gleichförmigkeit der Zehnliter-Putzeimer symbolisierten das Dasein ihrer Mutter. Jenny nahm auch sie in ihre Arme – aber seltener. Denn jedes Mal fühlte sie, wie der Körper ihrer Mutter stocksteif wurde. Trotz dieser Distanz zu ihrer Mutter gab es eine Liebe zu ihr, die tiefer unter ihrem Respekt für sie verborgen lag. Sie wusste, dass ihre Mutter all ihre Hoffnung in sie legte, dass Jenny für sie der Weg aus Marzahn heraus war, und das war okay für sie.
Von links nach rechts wischte ihr Blick über den Spiegel. Aber ungefähr in der Mitte des Spiegels sah sie sich für einen Moment ganz genau wie ein Standbild auf dem Bildschirm des Spiegels. Rote Ränder entdeckte sie um die Iris ihrer Augen. Rote Ränder, wie sie die von den Augen ihres Vaters am Vormittag kannte, sie kamen von der täglichen Alkoholmedikation gegen die unerträglichen Schmerzen am Vorabend. Sie betrachtete ihre Augen genauer und schließlich dieser prüfende Blick in den Spiegel ließ sie zusammenfahren. Sie erschrak so sehr, dass sie die Zahnbürste gedankenlos zu dem Gedanken an ihren Vater und an die Wischeimer zum Rand des Waschbeckens schob.
Während der letzten Tage hatten alle Sender nur noch und andauernd von einer beginnenden Epidemie berichtet, ausgelöst von irgendeinem neuen Virus – sie hatte nicht so genau hingehört, hatte aber eine Sprecherin im Kopf, die sagte, dass sich das Ganze zu einer Pandemie ausweiten könne. Jenny schüttelte verständnislos ihren Kopf und drückte ihr Kreuz vor dem Spiegel durch, eine Bewegung, die sie zufrieden im Spiegel betrachtete. ›Na also, geht doch! Ich lasse mich doch nicht von Fake News, Social Bots und Filterblasen in den Medien verrückt machen!‹, dachte sie. Sie hatte sich eine Grippe eingefangen, höchstens, eher eine Erkältung. Sie stand da, stramm wie ein Soldat. Ihr eigener Befehl sich selbst gegenüber war klar: antreten zur Klausur! Sie stand in der Dusche, das warme Wasser prasselte auf sie nieder, und sie fühlte sich auch gleich viel besser. Sie rekapitulierte die Formeln, die sie in der Nacht immer und immer wieder gelernt hatte.
Ihre kleine Schwester schlief noch, als sie das Bad verließ, und ihr Vater sowieso. Jeden Tag machte sie das Frühstück für ihre kleine Schwester, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, sie damit liebevoll weckend. Auch an diesem Morgen küsste sie ihre Stirn, das Frühstück für ihre Schwester fiel jedoch aus. Jenny selbst hatte kaum Zeit dafür, denn ihr Frühstück bestand aus kaltem Toastbrot vom Vortag mit darauf geklatschter Marmelade und einem Rest an kaltem Kaffee. Es war ihr nicht wichtig, wann dieser Kaffee durch einen Filter getröpfelt war, er sollte, musste nur wach machen. Sie schmeckte weder den Toast noch den Kaffee.
Wenig später eilte sie durch das schmutzige und an den Wänden bekritzelte Treppenhaus des Plattenbaus nach unten, immer wieder auf die Uhr sehend: würde sie den Bus noch kriegen? Die Türen des Busses schlossen gerade, als Jenny außer Atem wenige Meter von ihm entfernt war. Der mächtige Dieselmotor brummte tief und das Fahrzeug fuhr an. Jenny lief neben dem Bus her, ihre Fäuste trommelten gegen die vordere Tür. Sie sah die Busfahrerin, die grinste und den schwerfälligen Bus anhielt. Mit einem Zischen der Hydraulik öffnete sich die Tür.
»Grad noch so, wat?«, sagte sie freundlich. Jenny hatte es geschafft. Sie hustete und merkte es gar nicht, als sie ihren Mund in die Armbeuge schmiegte. Sie hatte es gepackt und würde gerade noch rechtzeitig in der Uni ankommen! Sie dachte an ihre Mutter. Sie war schon lange unterwegs zu ihrer ersten Putzstelle. Sie verbrachte wahrscheinlich mehr Zeit mit S- und U-Bahn als mit ihrer eigentlichen Tätigkeit. Berlin war zweifelsohne eine schöne Stadt. Aber Berlin war auch ein Verkehrschaos und machte es seinen Arbeitnehmern schwer.
Die Matheklausur war anspruchsvoll und das war Jenny und ihren Kommilitonen anzusehen. Ihr Gesicht war verspannt und blass. Sie kämpfte gegen die Anstrengung an und hustete immer wieder, weshalb ihre Kommilitonen sie strafend ansahen; die akustische Unterbrechung störte sie. Jennys Hand stützte ihren Kopf an der Stirn. Sie löste die leichteren Aufgaben. Dann wagte sie sich an die schwierigeren. Die Formeln fielen ihr nicht ein. Es konnte doch nicht sein, dass sie die Formeln vergessen hatte! Das konnte einfach gar nicht sein, nicht jetzt! Sie hatte sie doch alle in ihrem Kopf! Jenny fasste sich an ihre Stirn. Sie schien ihr kochend heiß. Erschrocken nahm sie die Hand herunter und legte sie ganz gerade neben ihr Aufgabenblatt.
Immer wieder sah sie auf ihre Uhr. Die Zeit schien langsam zu vergehen. Warum verging Zeit mal schneller und mal langsamer? Und würde sie nicht jetzt, zu diesem Zeitpunkt, zu dem sie hoffte, alles rechtzeitig zu schaffen, umso schneller vergehen? Jenny blinzelte ein paar Mal und legte den Gedanken zu dem anderen an den Rand des Waschbeckens.
Sie hatte schließlich drei Viertel der Aufgaben geschafft, doch gegen Ende der Klausur während der letzten Minuten verließ sie die Konzentration vollends. Sie wischte sich immer wieder Haarsträhnen aus ihrem Gesicht, die nicht da waren, weil sie sie bereits hinter ihre Ohren geklemmt hatte. Sie riss sich zusammen, drückte ihren Rücken durch, so wie sie es immer machte, spannte sich an wie ein Pferd vor der Kutsche. Ihr gefiel das Bild. Die Kutsche waren die Aufgaben und das Pferd würde die Kutsche aus dem Dreck ziehen. Doch das Pferd knickte erst vorn ein und dann hinten, denn der Sumpf, in dem die Kutsche steckte, war einfach zu tief. Jenny spürte, wie ihr Rücken zusammensackte, sie anfing zu zittern und ein Weinkrampf sie überkam. Hellrote Tränen fielen auf das weiß karierte Papier. Sie wischte die Tränen mit einem Taschentuch aus Papier weg. Nichts sollte ihre Leistung verunstalten. Doch ein roter Streifen blieb. Fast erleichtert blickte Jenny auf die roten Spuren. Sie freute sich, doch nicht ungeschminkt zur Uni gefahren zu sein, auch wenn sie sich nicht daran erinnerte, dafür Zeit gehabt zu haben. Sie war heute Morgen doch ziemlich verpeilt gewesen. Doch sie irrte, denn sie hatte sich nicht geschminkt. Und auch das Weinen, das sonst immer ihre Schmerzen linderte oder ganz verschwinden ließen, sorgte heute nicht für eine Besserung.
Als sie aufwachte, fand sie sich in einer Klinik wieder. Ihre Augen blickten hektisch nach links und rechts. Sie kannte den Raum nicht, in dem sie lag. Aber er sah eindeutig nach Krankenhaus aus. War ihr Vater eingeliefert worden? Aber nein, sie lag ja selbst im Bett. Doch was machte sie hier? Sie runzelte die Stirn und stützte ihre Arme ab, um aufzustehen. Da legte ihre Mutter ihre Hand auf ihren Arm und flüsterte ihr zu, dass sie liegen bleiben müsse. Jenny gehorchte und stierte an die weiße Wand gegenüber. Warum nochmal ging sie nicht nach Hause? Doch bevor sie erneut versuchen konnte aufzustehen, fielen ihr die Augen zu.
Als sie wieder erwachte, war ihre Mutter immer noch bei ihr, aber sie verließ Jenny bald, weil sie weiterarbeiten musste. Jenny schaffte es kaum, mit ihr zu sprechen, sie fühlte sich so müde und erschöpft. Sie drückte nur die Hand ihrer Mutter, als diese ging, und schlief dann wieder ein. Nur den Kuss auf ihre Stirn hatte sie noch bemerkt – eine seit Jahren völlig ungewohnte, fremde Geste.
Irgendwann später kam eine Ärztin in Schutzkleidung in Begleitung einer Psychologin zu Jenny und erläuterte ihr ihre Diagnose. Sie waren einfühlsam und erklärten es ihr so, dass sie es verstand. Jenny hatte dieses neuartige Coronavirus bekommen und es könnte sein, dass sie sterben würde. Genau könne man das nicht sagen, da man noch zu wenig über die Krankheit wisse, die das Virus auslöse, aber es gehe auf die Lunge und verursache hohes Fieber. Die Ärztin richtete ihr währenddessen den Sauerstoffschlauch, der in ihrem Gesicht hing und den sie erst jetzt bemerkte.
Jennys Hand fuhr zu ihrer Stirn und befühlte sie. Angenehm kühl fühlte sie sich an. Jenny lächelte. Ärzte logen wie gedruckt. Es ging ihr doch viel besser, als sie sagten. Wieso sollte sie ihnen glauben? Menschen ihres Alters überlebten Corona immer, das hatte sie aus den Nachrichten schon mitbekommen.
Sie schüttelte den Kopf und erklärte, dass es ihr gut ginge, sie viel zu jung sei, um daran zu sterben. Sie lachte fast, fühlte sie sich, umringt von diesen Leuten in futuristischen Katastrophenanzügen, doch wie in einem Film, in irgendeiner lächerlichen Szene gefangen. Aber ihr Lachen verwandelte sich bloß in Husten.
Die Ärztin, die Psychologin und die Krankenschwester, die nun zwischen ihnen herumwuselte und Jennys Tropf überprüfte, tippelten mit hilflosen Mienen von einem Fuß auf den anderen. Bis die Ärztin, brünett wie Jenny, an ihr Bett herantrat, um erneut mit ihr zu sprechen.
Allein liegend im Bett ein Gespräch zu führen, empfand Jenny als Niederlage. Ihr Inneres wehrte sich dagegen, im Liegen zu der Ärztin oder wem auch immer aufzusehen. Das war zu viel, eine Zumutung, wenn sie schon hier sein musste. Wegen der Augenhöhe grinste sie nicht ohne einen gewissen Sarkasmus in sich hinein, als sie sogleich ihre Position im Bett veränderte und ihren Oberkörper aufrichtete. Ihr wurde schwindelig dabei. Doch so sah sie die Ärztin ein wenig genauer. Die Frau hatte ein faltiges Gesicht. Das konnte Jenny trotz ihres Mundschutzes und des Schutzanzuges erkennen – diese Krähenfüße um die Augen. Da fühlte sie sich nicht mehr so unterlegen und Jenny lächelte zaghaft.
»Ihre Coronainfektion an sich ist tatsächlich nicht das entscheidende Problem«, erläuterte die Ärztin, als ob Jenny nicht schon wüsste, dass diese Fake-News-Krankheit aus dem Radio nicht schlimm wäre. Ihr Blick klebte in diesem Moment auf Jennys Augen wie Pattex. »Die Coronainfektion hat nur zutage gefördert, was in Kürze evident, also offensichtlich, geworden wäre. Ihre eigentliche Erkrankung.«
Sie räusperte sich, die Krankenschwester räusperte sich und die Psychologin dann auch, die verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. Das musste ansteckend sein. Ein Räusper-Virus, der sich auf Stimmbänder legte und verlegen machte. ›Ein gesellschaftlicher Virus‹, dachte Jenny ironisch. ›Corona pack ich‹, war sie sich sicher nach dem, was sie im Radio gehört hatte. Das war das nur so ein Ausrutscher wie die höchstwahrscheinlich missglückte Matheklausur. Sie straffte ihren Rücken und lächelte die Mediziner siegesgewiss an.
Die Ärztin fasste sich mit Worten kurz, die bei Jenny wie ein Stakkato der Tatsachen ankam, als es um das Wesentliche ging: die Covid-19, also die durch das Coronavirus ausgelöste Krankheit, begünstigende Vorerkrankung. Es war ein Tumor hinter ihrem Auge. Der sei genetisch bedingt, erblich. Sie habe nichts falsch gemacht, könne gar nichts dafür, erklärte die Ärztin vorsorglich.
›Vorhersehung‹, knallte es Jenny daraufhin aus dem Geschichtsunterricht in das beschädigte Hirn. Adolf in ihrer Birne, dachte sie, sich an den Geschichtsunterricht erinnernd, dass das eines seiner Lieblingswörter gewesen war, und zog ihre dünne Bettdecke schützend über ihr Gesicht. Sie lachte innerlich hässlich und ihr fiel ein Lieblingslied ihrer Mutter ein, alt, Neue Deutsche Welle, aber sie hörte es oft, weil es ihr irgendwie ihre Mutter beschrieb: ›hässlich, ich bin so hässlich, so grässlich hässlich‹. So war nun Jenny wie ihr Vater. ›Ich bin der Hass, hassen, ganz hässlich hassen‹, genau das würde ihre Mutter empfinden, denn sie, Jenny, die Hoffnung für die ganze Familie, aus Marzahn wegzukommen, war nun genauso nutzlos wie ihr Vater! ›Und ich düse, düse, düse, düse im Sauseschritt und bring’ die Liebe mit, von meinem Himmelsritt‹ würde nicht mehr gelingen, wenn sie stürbe. Sie brächte nur Elend mit. ›Denn die Liebe, Liebe, Liebe, Liebe, die macht viel Spaß, viel mehr Spaß, als irgendwas.‹ Hatte ihre Mutter den Spaß und die Liebe vermisst? Liebe war kein Spaß, sie war viel mehr, auch das fühlte Jenny, denn sie hatte ihren Vater geliebt. War sie, Jenny, deshalb hier, nicht wegen des Spaßes, aber wegen der Liebe? Ein unerwünschtes Resultat von Liebe? Ein genetischer Defekt? Sie war der Kollateralschaden ihrer Familie. Das war sie.
Jenny schloss die Augen und zog sich zurück in ihr inneres Gehäuse; an sich nützlich, aber nun war sie ansteckend krank und dem Tod geweiht und damit umso mehr unanfassbar eklig wie eine schleimige Schnecke, die sich in ihr Haus zurückzog.
»Wenn Sie Ängste empfinden, vielleicht Fragen haben, die Sie noch beantwortet wissen wollen, wenn Sie sich nach empathischer Begleitung sehnen«, hob die Psychologin nach wie vor unruhig hin und her tretend an, »können Sie mich jederzeit dienstags bis donnerstags in der Zeit zwischen fünfzehn und achtzehn Uhr hier über das Haustelefon anrufen. Ich habe die Einhundertzwölf!« Jenny wünschte sich einen der Eimer ihrer Mutter neben ihrem Bett, wünschte sich, die Psychologin zu sich hinabzuziehen, den Eimer zu nehmen und ihr das Wasser über dem Kopf auszuschütten. Jenny sagte nichts, aber sie sah die Psychologin mit einem durchdringend vernichtenden Blick an. Was für eine Farce. Die Ärztin, die Psychologin, das Sterben. Alles war nur noch lächerlich. Sie wollte nach Hause.
Die Ärztin spürte die Spannung im Krankenzimmer. Sie hielt den sachlichen Vortrag für den besten Weg, mit Jenny umzugehen. Wehtun würde der Tumor nicht, fuhr sie fort, während Jenny sich verkroch. Sie wollte hören, wie es um sie stand, gleichwohl wissend, dass ihr dieses Wissen zu viel sein würde. Denn palliativ würden sie die Schmerzen in den Griff kriegen. Keine Frage. Es war eine besonders aggressive Variante. Er würde sie nur sterben lassen. Jenny wusste nicht, was mit ›palliativ‹ gemeint war. Sie kannte das Wort nur in Zusammenhang mit alten Leuten. Und sie hörte gar nicht mehr richtig hin.
›Psycho-Kanaken‹, erfand Jenny für sich einen Begriff für die fähige Ärztin, die ihr so sachlich das Todesurteil verkündet hatte, und die Psychologin, die größtenteils geschwiegen und sich dann in Allgemeinplätzen ergangen hatte. Schwarzverfärbter Zynismus, wusste sie, war eine Leidenschaft im Verborgenen in ihr.
Die Psychologin war eine ›HP‹, wie ihr Namensschild verriet, eine Heilpraktikerin. Also nichts, was ernstzunehmen war. Sie tat ja nichts, um ihr, Jenny, wirklich zu helfen, außer ihr Ende kommunikativ vorweg zu nehmen, zu dem Jenny noch gar nicht bereit war. Die Psychologin war bezahltes Beiwerk, wie Jenny lakonisch feststellte.
Vielleicht zehn Wochen hatte sie noch, wenn sie die Covid-19-Erkrankung in den Griff bekämen, sagte die Ärztin. Sie riet zu einer Wohngruppe in einem Hospiz – noch so ein Wort, das Jenny nur von alten Menschen her kannte, die bald stürben. War sie nun wie solche Menschen?
Sie schlug die Bettdecke zurück. »Ich möchte nach Hause.«
Doch sie kam nie wieder nach Hause. Die durch das Coronavirus ausgelöste Krankheit klang binnen zwei Wochen ab. Jenny war eine starke junge Frau, zumindest stärker als das Virus. Doch der Tumor übernahm danach die Kontrolle über sie. Sie durfte nicht mehr heim, wurde gepflegt in einer Einrichtung. Sie blieb allein dort. Allein mit ihrer Angst. Denn dieser Tumor ängstigte sie, die Aussicht, die Kontrolle über sich zu verlieren. Nie verlor sie die Kontrolle – nie! Wer aus Marzahn raus wollte, konnte dies nur planvoll kontrolliert schaffen. Doch nachdem sie von Covid-19 genesen war und danach noch wegen der Quarantäne im Krankenhaus, fand sie ihr Gleichgewicht nicht mehr wieder, wenn sie aufstand, obwohl sie in diesen Momenten tief in ihrem Inneren zweifelte, je ihr Gleichgewicht gehabt zu haben. Das aber konnte gar nicht sein: die Kontrolle verloren zu haben! Früher hatte ihr Körper stets gerade Gewehr bei Fuß gestanden. Jetzt wankte Jenny, kaum dass sie aufgestanden war, und stützte sich mit der Hand an der Wand ab. Sie straffte ihr Kreuz und selbst das half nicht.
Wenn das Tablett mit dem Mittagessen im Krankenhaus gegen zwölf Uhr zu ihr kam, sah sie das Tablett doppelt und griff häufig ins Leere. Wenn sie aufstand, schlingerte sie dem Bad entgegen wie eine Betrunkene und prallte schmerzhaft auf die Wand einen halben Meter neben der Tür. Sie rieb sich die Stirn, die ihr wieder normal warm vorkam, aber was nützte ihr das gegenüber einem übermächtigen tödlichen Feind, der in ihrem wichtigsten Körperteil, ihrem Gehirn, einen Mord – ihre Ermordung vorbereitete?
Sie schob die öde dünne Bettdecke ganz langsam beiseite, sie hatte Zeit, die ganzen Tage hier in der Klinik dehnten die Stunden und Minuten, hatte sie vielleicht unendlich Zeit? Sie betrachtete ihren Körper. Ein schöner Körper, schlank, damit war alles okay – alles bestens – eigentlich. Ging es ihr zeitweise sehr viel besser, erschienen vor ihrem inneren Auge junge Männer, die sie kannte. Aber sie hatte keine Lust auf sie. Wobei, eigentlich hatte sie schon Lust auf sie, wären die Umstände ihres Lebens andere. Doch so würde sie Sex mit einem Jungen wohl nicht mehr erleben. Schmählich, so empfand sie es, würde sie als Jungfrau sterben. In Berlin gab es so eine doofe Formulierung dazu: ›ungeöffnet zurück‹. Aber so würde es kommen. Sie wusste ganz genau, dass ihre Ablehnung der Jungs nur symptomatisch dafür war, wie sehr sie ihr Leben auf ein einziges Ziel hinsteuerte. Raus aus Marzahn! Aber Marzahn war nur ein Symbol für den Dreck und das Elend. Während der Quarantäne und der Behandlung in der Klinik hatte sie die Zeit, über sich selbst nachzudenken. Ihren nahenden Tod blendete sie einfach aus, so wie sie das Elend in Marzahn zeitlebens hatte ausblenden können. Vielleicht würde sie eine Naturwissenschaftlerin werden, aber eine schöne Naturwissenschaftlerin, nicht so ein brilletragender Nerd. Charmant und doch straight. Das traute sie sich zu. Und in ihrer Vorstellung lebte sie nicht mehr dort, nein, lebte sie nicht mehr bei ihrer Familie, sondern irgendwo außerhalb von Berlin in einer hübschen Wohnung, würde zur Arbeit pendeln und Geld verdienen. Und dann brach ihre Vorstellungskraft bei den immer wiederkehrenden Gedanken zusammen. Sie konnte ihre Familie nicht verlassen – es ging einfach nicht!
Hatte sie zwei Wochen lang nach dem Abklingen des Virus über Tage nur geschwiegen, nahm Jenny das Angebot, das Hospiz zu beziehen, mit einem einzigen klar artikulierten Ja an. Eine einzige Unterschrift auf der letzten Seite des Vertrags mit dem Hospiz, so einfach war das!
Ihre Mutter hatte sie noch abgehetzt einige Zeit lang nach ihrem Einzug ins Hospiz täglich besucht. Jeweils für fast eine halbe Stunde. Sie hatte ihr über ihr Haar gestrichen. Liebe als Herrschaft. Doch sie wusste nichts zu sagen, gar nichts. Sie schwieg, sie war sprachlos und ihre Nähe brachte keinen Trost. Sie würde auch weiterhin schweigen, wenn ihr Kind tot war. Was sollte man schon mit einem Fleck anfangen, der nicht zu beseitigen war und sich ohnehin bald von selbst auslöschte? Da ahnte Jenny den Betrug ihrer Mutter an ihrem Vater und den wahren Grund, warum ihr Papa so krank war. Sie nahm die Hand ihrer Mutter und schüttelte sie, als sie ging und danach nicht mehr wiederkam – bis zum Schluss. Sie verabschiedete sich von ihr wie von einer Fremden. Ihre Mutter hatte sie angenommen als Fleck, der nun bald gereinigt sein würde. Jenny hatte die berechtigte Hoffnung, dass ihre kleine Schwester überleben würde. Da war sie sich sicher, sie würde überleben. Ihr Vater war ein Anderer, sie würde verschont bleiben von diesem unzuverlässigen Gehirn. Das beruhigte Jenny sehr.
Jenny blieb allein die letzten Tage, nur begleitet von mitfühlenden Krankenschwestern und Pflegern. Ihren Vater sah sie nicht mehr und ihre kleine Schwester auch nicht. Sie hatte sich schon lange von ihnen beiden verabschiedet.
Jenny war wie immer zuverlässig und pünktlich. Sie starb auf den Tag genau sieben Wochen nach ihrer Diagnose, war fünf Wochen im Hospiz, wie die Ärzte es ihr vorhergesagt hatten.
Das war es also gewesen. Jenny war tot und dennoch lebte sie – jetzt, wieder. Ihr Ende passte zu dieser Stadt. Immer etwas lakonisch, sogar der Dialekt war so. Die Seele etwas zu sehr versteckt.
»Allah yakun maeak«, hatte Rocco gesagt, als er aufgestanden war und sie an sich hochzog, sie auf die Wange küsste.
Jenny war erleichtert, jetzt ein Engel zu sein. Sie hatte abgeschlossen, und sie war aus Marzahn verschwunden, geflohen, aber sie war kein Flüchtling mehr zwischen Herkunft und Ziel, denn an ihre Herkunft erinnerte sie sich. Nur das Ziel ihrer Reise blieb ihr verborgen. Denn das Ziel war fast wichtiger als die Zeit, in der sie sich befand. Warum war sie hier? Warum war Rocco hier? Was sollte sie hier? Eines schien ihr ziemlich sicher: Ihr Vater würde nicht mehr leben, also sollte sie ihm nicht helfen oder so etwas. War er jetzt auch ein Engel oder einfach nur ein modernder, säkularer Toter oder hatte er vor Gott gestanden, dem einen Gott, der alles geschaffen hatte, Himmel und Erde und wohl auch eine sichtbare und eine unsichtbare Welt, ihre Welt der Engel, und war nicht zurückgeschickt worden? Und sie? Hatte sie vor ihm gestanden? Sie erinnerte sich daran nicht. Aber was war aus ihrem Vater geworden? Warum war er nicht mit ihr hier?
Diese Vorstellung eines wirklich existierenden Gottes entsprach nicht dem, was sie in ihrer Familie der unreligiösen Werktätigen gelernt hatte. Die Vorstellung war irgendwie trotzdem nicht zu verbannen.
Ihre Mutter war schon tot gewesen, als sie noch lebte, sie würde kein Engel werden. Sie würde sich vielmehr eines Tages selbst als Fleck erkennen und aufsaugen und, wenn das nicht gelang, wegwischen. ›Oops, I did it again?‹ Jenny grinste innerlich, fand sich dann aber sehr gemein ihrer Mutter gegenüber, die tatsächlich so viel ausgehalten haben musste.
Aber ihre Schwester: Ihre Schwester würde vielleicht noch leben, wenn Jenny endlich herausbekommen würde, in welchem Jahr sie sich befand. Sie würde eine wunderschöne, intelligente Frau sein. Sie war stolz auf sie, schon immer gewesen. Denn ihre Schwester liebte sie so wie ihren Vater. Ihr schlechtes Gewissen ihrer Mutter gegenüber machte sich in ihr breit. Aber schlechtes Gewissen zahlte nicht auf Liebe ein. Denn auch Liebe war offensichtlich niemals gerecht.