Читать книгу ... und am Ende wird alles gut - Martin Dolfen Thomas Strehl - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеIch trat kräftig in die Pedale, um möglichst viel Raum zwischen mich und die Waldhausens zu bringen. Ich floh förmlich aus ihrer heilen Welt, die mir all das gezeigt hatte, was ich nicht hatte und nie haben würde.
Meter um Meter brachten mich weg von Dingen, die sich mir nie erschlossen hatten.
War es doch Neid? Warum hatten manche Menschen einfach nur Glück und anderen schien das Pech für immer an den Schuhen zu kleben?
Mir fiel dieses blödsinnige Märchen ein, indem Goldmarie und Pechmarie ihr Unwesen trieben. War es Frau Holle gewesen? Ich konnte es nicht mehr genau sagen. Ich wusste nur noch, dass die Moral der Geschichte war, dass man sich Glück erarbeiten musste.
Aber war das wirklich so? Hatte ich nicht alles versucht, um ein brauchbares Mitglied dieser Gesellschaft zu werden?
Oder war uns alles vorbestimmt? War unser Weg von unserer Geburt an festgelegt? Ein schöner und einfacher Gedanke. Denn wenn es so wäre, dann könnte man die Hände in den Schoß legen und sagen: Ich kann überhaupt nichts für meine Misere. Dieses miese Schicksal ist schuld.
Doch so war ich nicht. Im Gegenteil. Jede meiner Handlungen, die zu meinem traurigen Dasein geführt hatten, hatte ich tausendfach hinterfragt. Und mir immer wieder eingestehen müssen, dass ich an Weggabelungen oft die falsche Abzweigung genommen hatte.
Der Gedanke erinnerte mich an mein aktuelles Problem. Ich hatte meine Flucht vor der heilen Welt recht kopflos angetreten und als ich jetzt etwas langsamer fuhr, bemerkte ich, dass ich nicht den kleinsten Schimmer hatte, wo ich mich befand.
Ich hielt an und blickte mich um.
Aber auch das brachte mich nicht weiter. Keine Schilder in Sicht, nur ein asphaltierter Feldweg, Felder, Wiesen und ein kleines Wäldchen.
Ich stieg vom Rad und bemerkte erstaunt, dass mir jetzt schon mein verlängertes Rückgrat wehtat. Dabei war ich, summa summarum, noch keine zwei Stunden im Sattel. Wie hielten das diese Irren bei der Tour de France eigentlich aus? Klar, Doping. Eine Sache, die mir, trotz aller Medikamente, die ich mit mir führte, nicht zur Verfügung stand.
Ich angelte meine Tasche aus dem Fahrradanhänger, nahm eine Flasche Wasser heraus und tat einen kräftigen Schluck. Dann blickte ich mich noch einmal um.
Was, zum Henker, tat ich hier eigentlich? Welcher Wahnsinn hatte von mir Besitz ergriffen? Wollte ich tatsächlich 600 Kilometer bis zur Ostsee radeln?
Es dauerte einen Moment, bis ich mich wieder im Griff hatte.
Nein, diese Distanz wollte ich nicht auf diesem unbequemen Sattel zurücklegen. Ich hatte nur einfach losgewollt und mich unüberlegt auf den Weg gemacht.
In zwei oder drei Tagen würde neues Geld auf meinem Konto sein und dann würde ich die restliche Strecke mit der Bahn zurücklegen.
Was in meiner jetzigen Situation aber bedeutete, dass ich noch mindestens zwei Tage und, was noch viel schlimmer war, zwei Nächte unterwegs sein würde.
Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Um bei der Wahrheit zu bleiben: Nichts!
Trotzdem wollte ich erfahren, wo ich mich eigentlich befand und angelte mein Handy aus der Tasche.
Es war ein relativ neues Modell, erst drei Monate alt und die Akkulaufzeit war zum Glück noch in Ordnung. Stand jetzt 94%. Aber ich hatte auch noch eine Powerbank bei mir, die mir noch drei oder viermaliges Aufladen gestattete. Des Handys natürlich, für das E-Bike würde es nicht reichen.
Ich schaltete Google Maps, nebst GPS ein und erfuhr schnell, dass ich mich auf dem Weg nach Krefeld befand.
Okay, dafür musste ich noch fünfzehn Kilometer hinter mich bringen, aber die grobe Richtung stimmte schon mal.
Und von Krefeld an die Ostsee war es ja quasi nur noch ein Katzensprung.
Ich durchsuchte noch einmal meine hastig gepackte Tasche. Zwei T-Shirts, eine kurze Hose, Unterwäsche, Ladegerät fürs Handy, eine Jacke, Kekse und jetzt nur noch eineinhalb Flaschen Wasser.
Ich überlegte kurz, ob ich meine lange Jeans gegen die kurze Hose tauschen sollte, entschied mich aber dagegen.
Noch ein kurzer Schluck aus der Flasche und dann wieder zurück in den Sattel.
Mein Hintern protestierte sofort, aber auf Einzelschicksale konnte ich keine Rücksicht nehmen.
Mein Handy gab die Richtung vor und ich folgte.
Ich achtete nicht darauf wie viele Kilometer ich schaffte, wollte mich nicht selbst entmutigen. Natürlich war ein E-Bike bequemer zu fahren als ein gewöhnlicher Drahtesel, aber ich musste mir selbst eingestehen, dass mich dennoch jeder Tritt anstrengte. In den letzten Jahren war die größte Entfernung, die ich zurückgelegt hatte, die Meter zwischen Couch und Kühlschrank gewesen. Kondition hatte ich dabei nicht aufgebaut.
Eine Dame mit Hund kam mir entgegen und sie musste schon von weitem mein Keuchen gehört haben. Sie hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf, sondern rief mir nur ein besorgtes: »Geht es Ihnen gut?«, zu.
Ich winkte nur, unfähig zu sprechen und quälte mich an ihr und ihrem mitleidig blickenden Hund vorbei.
Was hätte ich ihr auch sagen sollen? Bin unterwegs zur Ostsee, um mein Leben zu beenden?
Sie hätte mir nicht geglaubt. Sah ich doch eher danach aus als würde ich schon in den nächsten fünf Minuten tot vom Fahrrad fallen.
Als die Dame nicht mehr zu sehen war, ging ich noch weiter vom Gas.
Nur ganz anhalten wollte ich nicht, weil mir klar war, dass ich dann nie wieder weiterfahren würde.
Trotzdem wurde mein Gehirn wieder etwas besser mit Sauerstoff versorgt und sofort meldete es Probleme an.
Es konnte nicht ewig dauern, bis es dunkel wurde und ich musste eine billige Unterkunft finden. Mit fünfzig Euro schied eine Suite im Hilton jedenfalls aus.
Ich kam jetzt an vereinzelten Häusern vorbei, Vorboten vom wunderschönen Krefeld Forstwald.
Ich war noch niemals hier gewesen, es sah jedoch nicht so aus, als würde hier Gasthaus an Gasthaus und Hotel an Hotel stehen. Ich fürchtete es gab nicht einmal eine Jugendherberge.
Mir war allerdings auch klar, dass ich heute nicht weiterkommen würde. Meine Oberschenkel schmerzten. Meine Arme zitterten so stark, dass ich Schlangenlinien fuhr und mein Gesicht brannte von Sonne und Fahrtwind. Nur mein Hintern meldete sich seit gut einer Stunde nicht mehr. Wahrscheinlich war er abgestorben.
Sollte ich einfach anhalten, an einer Tür klingeln und nach einer Bleibe für eine Nacht fragen?
Die würde ich sicherlich bekommen. Allerdings in einer Polizeizelle.
Schon wurden die Häuser wieder spärlicher und ich durchfuhr ein kleines Waldstück. Der Schatten tat gut, ein kühles Lüftchen wehte, nur die Sicht war nicht besonders gut, weil sich helle und dunkle Flecken stetig abwechselten.
Oder mein Kreislauf versagte schon.
So genau konnte ich es nicht sagen, aber es war wenigstens eine kleine Entschuldigung dafür, dass ich beinahe einen Mann umfuhr.
Ich bremste, hätte es aber nicht mehr geschafft, rechtzeitig zum Stehen zu kommen, doch der Mann hatte hervorragende Reflexe und sprang von der Straße ins Unterholz.
Als das Fahrrad endlich anhielt, sprang ich ab und wollte nach dem Rechten sehen, doch meine Beine machten nicht mehr mit.
Plötzlich hatte ich stechende Schmerzen und schien keinen Schritt mehr machen zu können.
Meine Augen flimmerten und die hellen und dunklen Flecken blieben. Schien vielleicht doch der Kreislauf zu sein.
Der Mann kam wieder auf die Straße und jetzt bemerkte ich erst, dass es zwei waren. Oder sah ich schon doppelt oder halluzinierte?
Ich richtete mich auf Ärger ein, wollte eine Entschuldigung brabbeln, aber mein Mund war plötzlich so ausgetrocknet wie die Wüste Gobi und meine Zunge schien auf die doppelte Größe angewachsen zu sein.
»Ich, also ich...«, schaffte ich doch noch irgendwie, dann versagten mir meine Beine völlig den Dienst.
Ich sah noch den staubigen Asphalt auf mich zukommen, dann wurde es dunkel.
Ich erwachte. Jedenfalls glaubte ich es. Vorsichtig öffnete ich die Augen, doch die Dunkelheit blieb.
Ich bemerkte, dass ich nicht mehr auf dem asphaltierten Feldweg lag, sondern auf weichem Waldboden. Jemand hatte mir meine Tasche als Kissen unter meinen Kopf geschoben und mich mit meiner Jacke zugedeckt.
Eigentlich ganz gemütlich, trotzdem wollte irgendetwas in mir wissen, was hier vor sich ging.
Vorsichtig richtete ich mich auf und sah nicht weit von mir zwei Gestalten sitzen. Offensichtlich hatte man nicht vor, mich zu berauben, denn auch mein Fahrrad stand in der Nähe.
Ich zog die Beine an und ging in die Hocke. Es war Nacht, aber Sterne und Mond lugten durch Baumkronen und ich konnte die Szenerie überblicken.
Mein Stöhnen blieb nicht ungehört und einer der Männer blickte zu mir herüber.
»Oh«, machte er nur und stupste seinen Kameraden an. »Unser Patient ist erwacht.« Er grinste und im Mondlicht blitzten seine strahlend weißen Zähne.
»Komm rüber, setz dich zu uns«, forderte der andere mich auf und ich kam seinem Wunsch nach.
Wieder stöhnte ich, als meine Knie knackend protestierten und meine Oberschenkelmuskulatur in Flammen aufging.
Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, schleppte mich näher an die beiden heran und ließ mich sofort wieder fallen, wie ein nasser Sack.
»Wie geht es dir?«, fragte einer der beiden und ich versuchte cool abzuwinken. »Muss«, sagte ich knapp, aber sie brauchten keine Hellseher zu sein, um meine Lüge zu durchschauen.
Ich musterte meine Retter und wunderte mich gleichzeitig über diese völlig irreale Situation. Normalerweise hätte mir die Begegnung mit Fremden Unbehagen bereiten müssen. Noch vor ein paar Stunden hätte ich vermutlich Angst gehabt. Jetzt war ich vollkommen ruhig. Was sollte mir auch schon passieren? Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen. Nichts konnte mir etwas anhaben. War das eine seltsame Art von Freiheit?
Mir fiel ein alter Song ein. Me and Bobby McGee von der genialen, viel zu früh verstorbenen Janis Joplin. Okay, eigentlich hatte Kris Kristofferson das Ding verbrochen, aber die Version von Janis war die bekanntere. Schwamm drüber!
Freedom's just another word for nothing left to lose, heißt es darin.
Hatte ich diese Freiheit erreicht, weil ich wirklich nichts mehr zu verlieren hatte? Außer dem bisschen Leben natürlich.
Meine Gedanken kreisten.
»Kannst du auch reden?«, wurde ich wieder angesprochen. Ich war in letzter Zeit so wenig unter Leuten gewesen, dass es mir gar nicht mehr auffiel, dass ich nur in Gedanken unterwegs war.
»Doch, doch«, machte ich dann nur und blickte mich um. Jetzt erst bemerkte ich vier Balken, die senkrecht in die Höhe wuchsen und weit über mir eine Decke aus Holzbrettern.
»Das ist ein Hochstand, für die Jagd«, meinte einer meiner neuen Freunde, der meinen ratlosen Blick bemerkt hatte.
Langsam fand ich meine Stimme wieder. »Danke, dass ihr mir geholfen habt«, sagte ich und fand es gar nicht mehr seltsam wildfremde Menschen zu duzen.
Jetzt hatte ich die Gelegenheit, meine Retter näher zu betrachten. Der eine war klein, aber unglaublich kräftig gebaut. Mit blonden kurzen Haaren und einem gestutzten Vollbart. Der Zweite war hager und groß, mit einer lockigen Matte, wie Wolle Petry zu seinen besten Zeiten und einem wilden Vollbart, der ihm bis auf die Brust fiel. Beide trugen schwarze Cordhosen, weiße Hemden unter einer schwarzen Weste, grobe Schuhe und breitkrempige Hüte lagen an ihren Seiten.
»Ihr seid auf der Walz«, es war keine Frage von mir, sondern eine Feststellung und ich war verdammt stolz auf meine Scharfsinnigkeit.
Der Blonde nickte und zeigte wieder sein Zahnpastalächeln. »Wenn das die eine Million Euro Frage gewesen wäre, dann bräuchtest du dir über deine finanzielle Situation jetzt keine Gedanken mehr zu machen.«
»Ich dachte so etwas gibt es gar nicht mehr«, meinte ich und fühlte mich sofort gar nicht mehr so klug.
»Ist ein aussterbender Brauch«, meinte der Lockige mit einer tiefen Bassstimme. »Aber wir halten die Fahne hoch.« Er streckte mir die Hand hin. »Ich bin Hans Zimmer, der Zimmermann«, meinte er und bellte lachend.
»Hans Zimmer, der Zimmermann«, wiederholte ich doof.
»Ist tatsächlich wahr«, meinte sein Kumpel. »Und er hängt den Zimmermann immer an, damit er nicht mit dem erfolgreichen Filmkomponisten verwechselt wird.«
Okay, von dem hatte sogar ich schon mal gehört.
»Ich bin übrigens Franz Heese«, ergänzte der Blonde und jetzt musste ich tatsächlich schmunzeln.
»Hans und Franz«, ich konnte es kaum fassen.
»Ja«, grinste der Schlacks. »Wie die Möpse von Heidi Klum.« Und wieder ließ er sein bellendes Lachen hören.
Wenigstens würde er damit eventuelle wilde Tiere in die Flucht jagen.
»Ich bin Simon«, stellte ich mich vor. »Simon Winkel.«
Ich schüttelte beiden die Hand.
Der Blonde zeigte auf einen kleinen Gaskocher, der vor ihm stand und hielt plötzlich, wie von Geisterhand, eine kleine Dose Ravioli in den Fingern.
»Hunger?«
Mein Magen knurrte zur Antwort, lauter als das Lachen des Lockigen. Mein letztes Mahl war der Kuchen der netten Bauersleute gewesen und das schien Jahre her.
Er öffnete die Dose, schnippte den Gaskocher an und platzierte den Blechbehälter darauf.
»Du bist auf der Reise?«, keine Frage des Blonden, sondern ebenfalls eine Feststellung. Er deutete auf meine Tasche. »Sorry«, sagte er, »aber wir haben deine Sachen durchsucht, weil wir wissen wollten, ob du irgendwelche Krankheiten hast und Tabletten brauchst.« Sein Kumpel lachte. »Dann haben wir dein Medikamentensammelsurium entdeckt und, da wir beide nicht Medizin studiert haben, beschlossen wir, dir nichts zu geben.« Er wurde ernst. »Aber du solltest vielleicht mal deinen Zucker messen.« Hans zuckte die Achseln. »Meine Mutter ist auch Diabetikerin und ich weiß, dass damit nicht zu spaßen ist.«
»Nach dem Essen«, meinte ich und erinnerte meine Freunde an die Dose, die mittlerweile einen angenehmen Geruch verströmte.
Franz stellte den Kocher aus, wickelte das heiße Blech in einen Lappen und reichte es mir, nebst Löffel.
»Ist meiner«, sagte er entschuldigend, »wir waren nicht auf Besuch eingestellt, sonst hätten wir das gute Porzellan mitgenommen.« Er grinste wieder. »Ich hab keine ansteckende Krankheiten«, meinte er noch.
Ich nickte nur freundlich und begann damit, die Nudeltaschen in mich hineinzuschaufeln. Es war kein First-Class Menü, aber es war warm und sättigte. Herz, was willst du mehr.
»Verpfeif uns bloß nicht bei der Innung«, meinte Hans dann. »Ein Gaskocher ist eigentlich nicht erlaubt.«
»So strenge Regeln?«, fragte ich nur und hatte damit einen wahren Redefluss angestoßen.
Während ich mir die Ravioli einverleibte, bekam ich einen kleinen Einblick des Lebens auf der Walz. Es war schwer Arbeit zu finden, Geld war immer knapp, nur wenige Gasthäuser nahmen Handwerker auf und ließen sie gegen kleine Reparaturarbeiten bei sich wohnen. Die beiden Männer, die allenfalls Mitte Zwanzig waren, trauerten der guten alten Zeit nach. Echt witzig.
»Und trotzdem zieht ihr es durch?«
»Klar. Wir sind schon zweieinhalb Jahre unterwegs. Den Rest der drei Jahre und einen Tag schaffen wir auch noch. Dann geht es ab nach Hause.«
»Und das ist wo?«
»In der Nähe von Bremen.«
Ich zuckte ein wenig und Hans deutete es richtig. »Liegt das auf deiner Route?«
»Irgendwie schon. Ich will an die Ostsee.«
»Mit dem Fahrrad? Mit Verlaub gesagt, du siehst jetzt nicht wie der geborene Sportler aus.«
»Ich wollte auch eigentlich die Bahn nehmen«, meinte ich nur und wunderte mich, dass ich wildfremden Menschen mein Herz ausschüttete.
»Und das hat nicht funktioniert?«
Ich überlegte, wie viel ich erzählen konnte, doch der alte, verschlossene Simon kam wieder durch und ich winkte nur ab. »Lange Geschichte«, sagte ich nur und mein Tonfall schien weiteres Nachfragen zu verbieten.
»Was habt ihr für einen Weg?«
»Weiter nach Süden. Immer der Nase nach.«
Ich bewunderte die Zimmermänner, die scheinbar in den Tag leben konnten, ohne Angst vor dem morgen.
»Ich hoffe, ihr findet Arbeit«, sagte ich nur.
»Mach dir um uns keine Sorgen«, meinte der Lockige. »Wir kommen schon klar. Wir haben ein Dach über dem Kopf«, er deutete auf die Bretter über uns, »etwas zu essen, und ...«, er zwinkerte Franz zu, »... und wir haben uns.«
Wie meinte er das? Waren die beiden am Ende mehr als Freunde auf der Walz?
Ich wusste es nicht und fragte auch nicht nach. Es war mir auch völlig schnuppe. Die beiden hatten mich in meiner Notlage unterstützt und das Herz auf dem rechten Fleck.
»Nimm es uns nicht übel«, meinte der Blonde dann. »Aber wir sind seit fünf Uhr auf den Beinen. Wir hauen uns jetzt hin.« Er sah mich an. »Mit dir ist wirklich wieder alles in Ordnung?«
»Alles bestens«, meinte ich. Was für eine Lüge.
»Wir schlafen oben«, sagte er dann und deutete auf den Hochstand. »Willst du auch hinauf?«
Ich betrachtete die morsche Leiter und schüttelte schnell den Kopf.
»Ist ganz gemütlich hier unten.«
Sie erhoben sich und kletterten hinauf. »Danke nochmal«, sagte ich, doch sie winkten nur ab.
Einige Sekunden später knarrten die Bretter über mir, dann wurde es ruhig und ich war mit den Geräuschen des Waldes allein.
Ich machte tatsächlich eine Zuckermessung und spritzte Insulin. Pure Gewohnheit. Aber auch weil ich ein Dickschädel und eigen war. Ja, ich wollte sterben, aber zu meinen Bedingungen. Ich spülte zusätzlich meine Tablettenration mit dem letzten Schluck der ersten Wasserflasche herunter und legte mich wieder hin.
Das Gezirpe und Gepiepse um mich herum war ungewohnt, das Knacken im Unterholz im ersten Moment ein wenig unheimlich, doch ich hatte ja noch meine Schutzengel in der ersten Etage.
Dicke Freunde oder mehr.
Ich dachte an das Bauernehepaar und an die beiden Zimmermänner. Niemand dieser Personen hatte es zu Reichtum und Ruhm gebracht und es würde in diesem Leben wahrscheinlich auch nichts mehr werden. Trotzdem schienen sie zufrieden, nein, mehr, sie waren glücklich.
Ich vergaß den Wald. Dunkelheit umfing mich und es war nicht die Nacht.
Plötzlich waren sie wieder da. Die schweren Gedanken, die ich mit in meinen Traum nahm.
Als ich erwachte, spürte ich sofort, dass ich allein war. Hans und Franz waren früh aufgebrochen, aber sie hatten mir eine Nachricht hinterlassen. Und nicht nur das.
Der Gaskocher und ein paar Dosen lagen in meinem Fahrradanhänger, geschmückt mit einem Zettel.
»Moin Simon. Nimm den Kocher, du brauchst ihn mehr als wir. Und die Verpflegung, damit du nicht vom Fleisch fällst (Zwinkersmily). Wir wünschen dir alles Gute auf deiner Reise und wenn du in der Nähe von Bremen eine Unterkunft brauchst, dann melde dich bei unserem ehemaligen WG-Genossen. Er wird dir Unterkunft gewähren. Gruß Hans und Franz. «
Darunter befand sich eine Adresse.
Ich würde mit dem Zug an Bremen vorbeifliegen, soviel war für mich klar. Trotzdem steckte ich die nette Nachricht in meine Tasche.
Ein kurzer Check, ob ich schon neue Penunsen auf dem Konto hatte, verlief negativ.
Also noch ein Tag im Sattel.
Der Wahnsinn hatte von mir Besitz ergriffen.
Gestern hatte ich über dreißig Kilometer geschafft, nicht schlecht für einen übergewichtigen Hobbit. Mal sehen, wie weit mich der Wind heute trieb.
Ich orientierte mich auf meinem Handydisplay neu, schob das Fahrrad zurück auf den Feldweg und quälte mich in den Sattel. Meine Beine wollten mir den Dienst verweigern, mein Hintern fragte mich, ob ich noch ganz dicht wäre, doch ich ignorierte alles und fuhr einfach los.
Weg von dem Ort, an dem ich mich nie zu Hause gefühlt hatte, einfach nur weg ...