Читать книгу ... und am Ende wird alles gut - Martin Dolfen Thomas Strehl - Страница 8
Kapitel 5
ОглавлениеDie Geschichte der alten Dame hatte mich sehr bewegt, wirklich mitgenommen und es fiel mir unglaublich schwer, mich wieder zu sammeln.
Es war erst Nachmittag, eigentlich hätte ich noch ein paar Stunden fahren können, doch mein Körper schmerzte und die Unterhaltung und die Reise in die Vergangenheit der Lady schienen alle Kraft aus mir herausgesaugt zu haben.
Trotzdem trat ich in die Pedale, weil ich die Stadt hinter mir lassen wollte. Mit all ihren Menschen und Schicksalen.
Ich wollte alleine sein, mir Gedanken um mich selbst machen, schließlich hatte ich damit wirklich genug zu tun.
Die Häuser wurden flacher, standen weiter auseinander. Reihenhäuser wichen freistehenden Gebäuden mit großen Gärten, dann hatte mich die Natur wieder. Fast jedenfalls, denn ich radelte auf ein riesiges Kieswerk zu.
Und überall, wo etwas dem Boden von Mutter Erde entrissen wurde, entstanden Narben, tiefe Löcher, in denen sich Grundwasser sammelte.
Ich ließ den See, an dem die Bagger scheinbar noch in Betrieb waren, rechts liegen und sah mich genauer um.
Ein Schild verkündete, dass ich mich am Rossenrayer See befand, an dem es sogar Boote und einen Tauchverein gab.
Doch ich setzte meinen Weg fort, fuhr unter einer Autobahnbrücke hindurch und hielt kurz an.
Noch mehr künstliche Seen, kleine und große und ich verspürte plötzlich die unbändige Lust, meine müden Beine ins kalte Wasser zu halten.
Das nächste Gewässer hörte auf den wunderschönen Namen Haferbruchsee und ich stieg vom Rad, schob es eine Weile und versuchte, durch die dichte Böschung einen Weg ans Ufer zu finden.
Ein kleiner Trampelpfad führte mich durch dorniges Gestrüpp und endete an einem zehn Meter langen Uferstreifen, den Menschen, mit ähnlicher Passion wie ich, gewaltsam freigetreten hatten.
Ich sah leere Bierdosen und Zigarettenstummel, stumme Zeugen ehemaliger Besucher.
Ich lehnte mein Rad vorsichtig gegen einen Busch und grinste dabei.
Ich hatte tatsächlich »mein Rad« gedacht, den Diebstahl schon fast aus meinem Gedächtnis getilgt.
Dann sah ich mich gründlich um und stellte zufrieden fest, dass dieses Stückchen Erde im Moment mir allein gehörte. Ich begann damit, mich auszuziehen.
Gut, ich hatte keine Badehose dabei, sondern nur meine normalen Shorts. Egal. Auf meine alten Tage wurde ich echt zum Revoluzzer.
Ich legte meine Sachen in den Anhänger und schritt vorsichtig zum Wasser. Als ich den ersten Fuß hineinsetzte, hätte ich beinahe laut aufgeschrien. Entweder war ich so erhitzt, von meiner ungewöhnlich sportlichen Tätigkeit oder das Wasser war wirklich kurz vor dem Gefrierpunkt.
Beim zweiten Fuß wurde es nicht besser, ich überlegte bereits, ob es nicht schon genug Abkühlung für heute war, als ich im Schlick des Ufers ausrutschte und schmerzhaft auf meinem, sowieso schon misshandelten, Hinterteil landete.
Diesmal entfuhr mir ein lautes »Scheiße« und ich sah mich sofort um, ob mich jemand beobachtete.
Alles blieb ruhig.
Bis auf das Klappern meiner Zähne, denn das eiskalte Wasser fraß sich durch Haut und Haar und schien direkt an meinen ungeschützten Knochen zu nagen.
Genug Gefrierbrand für heute, beschloss ich, rappelte mich mühsam auf und kroch beinahe auf allen Vieren zurück ans Ufer.
Ich setzte mich ins Gras, und die Nachmittagssonne brauchte nur Minuten, um mich wieder aufzutauen.
Dann kam der Hunger und ich lernte die Vorzüge des geschenkten Campingkochers und einer Dose Erbsensuppe kennen.
Mit vollem Bauch, von innen und außen erwärmt, ließ ich mich ins Gras sinken.
Die Müdigkeit kam auf mich zugerast wie ein ungebremster ICE. Ich hatte keine Chance mehr darüber nachzudenken, ob es eine weise Entscheidung war, hier, völlig ungeschützt, ein Nickerchen zu halten. Meine Augen klappten einfach zu und ich versank in Morpheus Armen.
Als ich erwachte, war es bereits dunkel. Sterne standen am Himmel und spiegelten sich im ruhig daliegenden See. Doch für Romantik war hier der falsche Platz, denn sofort hatte mich Panik fest im Griff.
Es war ein Gefühl, als läge ich nicht am Ufer, sondern wäre zurück im Wasser. Die Fluten klatschten über mir zusammen, ich sank immer tiefer, unfähig noch Luft zu bekommen. Mein Herz begann zu rasen und mir war plötzlich klar, dass ich einen Infarkt bekam. Dass ich hier und heute in den nächsten Minuten tot zusammenbrechen würde. Ja, ich wollte sterben, aber nicht jetzt und nicht so.
Verzweifelt versuchte ich mich zu beruhigen. Spulte alle guten Empfehlungen ab, die man mir in tausend Therapiesitzungen beigebracht hatte.
Leider war das immer nur Theorie. Keiner, oder die wenigsten, der Professoren oder Doktoren hatten Depressionen und Angstzustände selbst erlebt. Es war keine Krankheit, gegen die man einfach eine Tablette nahm und ein paar Tage später war man wieder gesund. Man wurde völlig vereinnahmt. In diesen Momenten war ich die Depression und die Depression war ich.
Natürlich gab es chemische Mittel, die einem halfen, die Angst zu unterdrücken und ich hatte einige davon dabei. Doch bei meinem tollen Ausflug, in den letzten Tagen, hatte ich nicht wirklich auf regelmäßige Einnahme geachtet.
Jetzt bekam ich die Quittung. Schweiß brach mir am ganzen Körper aus und ich begann unkontrolliert zu zittern.
Alles wird gut, sagte ich mir.
Mein Gott, wie ich diesen Spruch hasste. Manche Dinge, manche Leben kamen nicht wieder in Ordnung und genau deshalb war ich unterwegs.
Deshalb gibt es Suizide, deshalb beendeten Menschen ihr Leben.
Weil es keinen Lichtstrahl am Ende des Tunnels gab. Weil alle Mühe vergebens ist.
Plötzlich ging mir der Mann von heute Mittag durch den Kopf. Der springen wollte und gerettet wurde.
Wirklich gerettet? Oder hatte man nur dafür gesorgt, dass sich sein Elend verlängerte?
Ich wusste nicht warum, aber ich beruhigte mich langsam.
Mein Puls ging Richtung normal und mein Herz setzte doch nicht aus. Nur das Zittern blieb, weil die Nacht eine gewisse Kühle mitgebracht hatte und mein T-Shirt durchgeschwitzt war.
Gut, wenigstens da konnte ich Abhilfe schaffen. Ich hatte ein zweites dabei.
Ich blieb noch gefühlte fünf Minuten sitzen, bekam die Panikattacke noch etwas weiter in die Ecke gedrängt, dann schaffte ich es auf wackeligen Beinen zu meinem Anhänger zu gehen.
Ich öffnete meine Tasche und durchwühlte die wenigen Dinge, die ich eingepackt hatte. Ich sah das frische Shirt, konnte mich aber nicht dazu durchringen, es anzuziehen.
Plötzlich waren da tausend Gedanken in meinem Kopf.
Die meisten davon beschäftigen sich mit der Frage, was ich hier eigentlich machte. Was hatte mich geritten, diese Reise anzutreten?
Noch dazu, so schlecht vorbereitet.
Ja, ich wollte zur Ostsee. Aber mit dem Fahrrad? Keine Kohle, um unterwegs vernünftig zu übernachten und keinen Schlafsack oder eine Decke, fürs Rasten unter freiem Himmel.
Natürlich war alles anders geplant gewesen. Und wie so oft, waren meine Pläne gescheitert.
Ich ließ mich vor dem Fahrrad auf den Boden sinken und spürte Tränen aufsteigen.
Es war wie immer. Nichts funktionierte wirklich.
Diesmal begleiteten meine Gedanken keine Angstzustände, doch die Depression griff auch so nach mir. Heimtückisch hatte sie sich in meinem Rücken angeschlichen und gnadenlos aus der Dunkelheit zugepackt. Aber ich konnte sie abschütteln, hatte jahrelang dafür trainiert.
Früher hätten solche Momente Stunden, Tage, manchmal Wochen angehalten. Zeit, in der ich zu nichts anderem fähig gewesen wäre, als zu Hause zu sitzen und Löcher in die Wand zu starren. Damals waren mir zum ersten Mal Selbstmordgedanken gekommen, doch ich hatte, dank fremder Hilfe, wieder herausgefunden.
Wie? Indem ich mit jemandem redete.
Frauen haben deutlich häufiger Depressionen als Männer. Trotzdem ist die Suizidrate beim »stärkeren« Geschlecht deutlich höher?
Warum? Weil Frauen sich ihren Ängsten stellen, weil Frauen reden und eben keine Angst haben, als schwach zu gelten.
Männern wird von klein auf erzählt, dass sie richtige Kerle sein müssen. Da kann man sich keiner Krankheit hingeben, die keine äußeren Symptome hat.
Ein gebrochenes Bein beim Sport, klasse. Beim Heimwerken in die Hand gesägt, super. Aber Depressionen? Nein, nicht mit uns.
Ich hatte lange gekämpft, bis ich mich in Behandlung begab und da war es beinahe zu spät. Doch ich hatte immer wieder einen Weg aus der Krankheit gefunden. Mich zurück ins Leben gekämpft, bis ich mir, vor nicht allzu langer Zeit, eingestehen musste, dass ich dieses Leben gar nicht wollte.
Jetzt, nachdem ich mir alles noch einmal eingestand, konnte ich endlich mein T-Shirt wechseln.
Wieder ein Blick zum See. Das Wasser war so nah? Warum bis zur Ostsee warten? Warum nicht hier einfach allem ein Ende bereiten?
Die Antwort war einfach. Viele Menschen sind als Kind schon depressiv, auch wenn es nicht oft erkannt wird. Werden gemobbt oder fühlen sich nicht geliebt oder nicht gut genug.
Bei mir war das anders. Ich hatte eine mehr als glückliche Kindheit gehabt. Mit Eltern und Großeltern, die mir das Aufwachsen leicht machten.
Dorthin wollte ich zurück. Einmal noch eine Reise in die Vergangenheit. Zu Plätzen, an denen ich glücklich war.
Und dann mit einem Lächeln auf dem Gesicht sterben. Das hatte ich mir verdient.
Ich nahm meine Tasche, ging drei Schritte zurück zum Ufer, drapierte sie als Kopfkissen und meine Jacke als Decke. Legte mich hin und blickte in die Sterne.
Doch Schlaf wollte sich keiner mehr einstellen. Immer wieder liefen die letzten Begegnungen wie ein Film in meinem Kopf ab. Das Bauernehepaar, die Handwerker auf der Walz, die alte Lady. Alle hatten mir deutlich gezeigt, warum mein Leben nicht lebenswert war. Ich hatte keine Familie mehr, keine Freunde und niemanden, der mich liebte. Nur einen Job, der mir zum Hals heraushing, einen Körper, der nach und nach versagte und Freizeit, mit der ich nichts anzufangen wusste.
Anhedonie war der Fachbegriff, wenn man sich an nichts mehr erfreuen konnte. Aber zu wissen, wie man den Feind benennt, macht es nicht besser.
Check dein Bankkonto. Vielleicht ist dein Geld drauf und du kannst mit der Bahn weiterfahren. Vorausgesetzt, du findest eine Stadt mit fertigem Bahnhof.
Ich hatte es eilig damit, meinen Plan auszuführen. Ich wollte keine weiteren, einsamen Nächte.
Ich griff nach meinem Handy, wollte schon den Explorer öffnen, als ich plötzlich eine Stimme vernahm. Eine unverkennbar weibliche Stimme.
Schrill und aufgeregt.
»Hey, Finger weg, du Arsch, das sind meine Sachen.«
Dann war es wieder ruhig.
Jetzt bekommst du auch noch Halluzinationen. Bildest dir Stimmen ein, wo gar keine sind. Eine imaginäre Freundin, um nicht länger einsam zu sein.
Aber warum hatte sie mich direkt als Arsch beschimpft? Wir kannten uns doch noch keine fünf Sekunden.
Als ich gerade wieder die Augen schließen wollte, hörte ich die Stimme erneut.
»Das ist meine Tasche. Gib sie sofort wieder her.«
Dann eine männliche Stimme. »Und wenn nicht? Was willst du dann tun, Zuckerschnecke?«
Ich wollte die Ohren verschließen, zurück in das schwarze Loch der Depression. Nichts hören und sehen. Keinen Kontakt mehr mit der Umwelt haben. Doch das konnte man sich nicht aussuchen. Ich war voll da und bekam jedes Wort des Streits mit.
Die Personen konnten nicht weit von mir entfernt sein. Etwas weiter links an der nächsten Lichtung im Ufergestrüpp. Ich konnte jedenfalls, obwohl beide Personen noch nicht schrien, jedes Wort verstehen.
Was genau zu meiner Misere führte.
Unweit von mir war eine Frau in Schwierigkeiten und ich lag hier einfach nur herum.
Eine holde Maid in der Bredouille, sagte eine spöttische Stimme in meinem Kopf. Klappt das Visier herunter, Ritter Simon, legt die Lanze in Anschlag und reitet los.
Doch ich war kein mutiger Streiter, kein Held. Eigentlich war ich, selbst in meiner Jugend, jeder Konfrontation aus dem Weg gegangen. Frei nach dem Motto: Lieber fünf Minuten feige, als ein Leben lang tot.
Ich beschloss für mich, dass mich der Streit nichts anging,
wollte meine Ohren auf Durchzug schalten, doch ob ich wollte oder nicht, ich hörte einen kurzen Schrei, gefolgt von höhnischem Gelächter.
Ich erhob mich. Automatisch, als hätte sich mein Körper selbstständig gemacht.
Nur mal nachgucken, was los war, dachte ich. Dann konnte ich immer noch entscheiden, wie es weitergehen sollte.
Ich stolperte den Weg zurück zur Straße, fand schnell den nächsten Trampelpfad zum Ufer und folgte ihm.
»Hört auf mit der Scheiße«, hörte ich, diesmal viel näher, die Frauenstimme.
Ich wollte weitergehen bis ich etwas sehen konnte, lief um den nächsten Strauch und stand plötzlich mitten drin im Geschehen.
Ich brauchte nur Sekunden, um die Situation zu erfassen. Mein Gehirn arbeitete ausnahmsweise mal auf Hochtouren.
Eine Frau stand auf der Mitte der Rasenfläche, doch sie hatte keinen Ärger mit einem Mann, sondern mit dreien.
Einer davon hatte mich wohl kommen hören und machte die anderen auf mich aufmerksam.
Es waren Jugendliche, sechzehn, siebzehn Jahre alt.
Mit Sporthosen, Muskelshirts und Chucks. Und der Gewissheit unsterblich und mir gnadenlos überlegen zu sein.
Gut, dass mit dem unsterblich stimmte nicht und das Leben würde sie diese Lektion früher oder später lehren. Der Rest des Satzes stimmte leider. Ich würde nichts gegen sie ausrichten können.
Mir wurde schlagartig noch etwas anderes klar: Es war auch zu spät den Rückzug anzutreten. Also musste ich mich stellen, das Beste aus der Situation machen.
John Wick hätte die drei jetzt mit einem Bleistift bewaffnet ins Nirvana geschickt, aber ich hatte keinen dabei.
Jack Reacher hätte noch drei weitere Typen angefordert, damit er auch ein bisschen Spaß bekam. Und Denzel Washington hätte als Equalizer genau berechnet, wie lange er brauchen würde, um die Typen ins Gras zu schicken.
Aber ich war keiner von den dreien. Ich war nur eine Wurst. Eine dämliche noch dazu, so ins Elend zu rennen.
»Na Dicker«, meinte der Vogel, der mir am nächsten stand. »Willst den Helden spielen?«
Ich wollte etwas sagen, irgendwas cooles, doch ich stand nur da, festgenagelt, unfähig mich zu bewegen.
Mein Blick fiel auf die Frau, die mir hoffnungsvolle Blicke zuwarf, allerdings nicht lange, denn sie schien zu ahnen, dass nicht der Held gekommen war, den sie sich erbeten hatte.
Eigenartig, das machte mich wütend.
Ich hatte schließlich nicht nur eine Menge Action Filme gesehen, sondern auch alle Rocky Verfilmungen, inklusive der Creed Ableger.
Also stellte ich mich in eine Boxpose oder etwas, was ich dafür hielt.
Die Jugendlichen ließen sich nicht wirklich davon beeindrucken.
»Was hast du vor, alter Mann?«, sagte der eine nur lässig. »Mach weiter so und mit viel Glück sterben wir vor Lachen.«
Ich wusste nicht mehr, was ich empfinden sollte. Wut, weil man mich nicht für voll nahm, Angst, weil ich kein Kämpfer war?
Ich brauchte aber nicht lange über meine Gefühlslage nachdenken, denn das nächste, was ich empfand, war Schmerz.
Der Typ, der mich zuerst angesprochen hatte, wirbelte plötzlich herum und trat mir, mit einem herrlichen, olympiareifen Sidekick, in die Rippen.
Er wollte scheinbar nicht nur aussehen, wie ein Action Held, nein, er war die Reinkarnation von Bruce Lee.
Ich klappte zusammen, unfähig etwas zu sagen oder nur zu atmen, dann war mein Angreifer schon wieder da, trat mir vor die Brust und ich fiel, wie ein zappelnder Maikäfer, auf den Rücken.
Alle drei Jugendlichen schauten mich an, mit einem dreisten Lachen auf dem Gesicht und sie vergaßen, für eine Millisekunde, das eigentliche Ziel ihres Angriffs.
Und das sollte sich aufs Übelste rächen.
Einer der Jungs klappte plötzlich noch schneller zusammen als ich, weil ihm schmerzhaft und mit viel Elan in die Weichteile getreten wurde.
Der zweite bekam eine Tasche gegen den Hinterkopf geschleudert und er sackte zusammen, als wäre ein Hinkelstein der Inhalt des Beutels.
Dem dritten, der sich mit mir befasste, sprang die Frau auf den Rücken und lange Nägel zerkratzen sein Gesicht.
»Meine Augen, meine Augen«, schrie er, auch wenn die Kratzer nur über seine Wangen gingen.
Die Frau sprang von seinem Rücken und hieb ihm mit der Faust vor die Schläfe. Sofort gaben auch seine Beine nach und er landete auf den Knien.
Innerhalb von Sekunden hatte sich das Bild gewandelt. Jetzt knieten die drei vor mir, denn inzwischen hatte ich mich mühsam wieder aufgerappelt.
Okay, genauer gesagt knieten sie vor der Rachelady, die einem Quentin Tarantino Film entsprungen zu sein schien.
Sie hob die Fäuste und ging auf einen der Männer zu, die sich mühsam und schwankend aufrichteten.
Ein schneller Schritt, ein »Wollt ihr noch mehr?« und die Angreifer schwankten, sich schmerzende Körperteile haltend, von dannen.
»Die Schlampe war sowieso viel zu alt für uns«, trat noch einer der »Helden« nach.
Dann ein letztes Rascheln und es wurde schlagartig ruhig.
Ich sah die Frau nur an und rieb mir die pochenden Rippen. Ich wollte etwas sagen, aber wie immer, fiel mir nichts Brauchbares ein.
Das Reden übernahm sie. »Vielen Dank, für Ihre Hilfe«, sagte sie und ich musste tatsächlich lachen.
»Keine Ursache. Ich glaube, als ich im Dreck lag, haben sie vor Angst die Flucht ergriffen.«
»Ihr Auftritt war die Ablenkung, die ich gebraucht habe«, sagte sie. »Und es ist schon ungewöhnlich genug, dass sie überhaupt versucht haben, einzugreifen.«
Sie reichte mir die Hand. »Hallo. Ich bin Bibiana Deichmann und ich habe weder mit der Schiedsrichterin, noch mit dem Schuhhaus irgendetwas zu tun.«
Mein Gesicht schien ein einziges Fragezeichen zu sein. Mein Gegenüber lachte laut auf.
»Oh, habe ich sie überfordert?« Ich konnte sie jetzt genauer betrachten und bemerkte, dass sie nicht das junge Mädchen war, für das ich sie ursprünglich gehalten hatte, und musste im Nachhinein den Jugendlichen recht geben. Ja, sie war zu alt. Zu alt für diese Kinder, nur das mit der Schlampe hätte ich weggelassen.
Eigentlich musste sie sich ungefähr in meinem Alter befinden. Nur hatte sie sich wesentlich besser gehalten. Einige Lachfalten zierten ihr Gesicht und die Stupsnase war besetzt mit Sommersprossen.
So würde Pipi Langstrumpf aussehen, wenn sie je in mein Alter käme, soviel war klar.
Endlich fand ich meine Stimme wieder. »Ich bin Simon«, sagte ich und rieb mir wieder die schmerzenden Rippen. »Simon Winkel.«
»Freut mich«, sagte sie und griff nach meiner Hand. »Verzeihen sie meine Vorstellung«, meinte sie dann lachend. »Aber ich glaube manchmal, dass diese Schiedsrichterin und ich die einzigen in Deutschland sind, die diesen lustigen Vornamen tragen. Und die Frage, ob ich etwas mit dem Schuhhaus zu tun habe, kommt direkt danach.«
»Und? Haben sie wirklich nicht?«
Jetzt lachte sie laut auf. »Schön wäre es. Nein, da muss ich sie enttäuschen. Gibt keine große Belohnung von meinem superreichen Opa für Ihre heldenhafte Aktion. Ich bin arm, wie eine Kirchenmaus.«
»Dann können wir einen Club aufmachen«, meinte ich trocken. »Und eine Belohnung hätte ich sowieso nicht verdient. Ich glaube, Sie können sich ganz gut selbst zur Wehr setzen.«
»Eigentlich schon«, sagte sie grinsend. »Aber diese Arschlöcher haben mich überrascht. Ich war schon kurz vorm wegduseln, als Sie mich gefunden haben.«
Als sie die Typen erwähnte, rann mir eine Gänsehaut den Rücken herunter. »Meinen sie, die kommen wieder?«
Sie schüttelte den Kopf und ihre langen, lockigen Haare wirbelten herum. »Das waren nur Maulhelden«, meinte sie. »Gegen richtige Arschlöcher hätte ich keine Chance gehabt.«
Sekundenlang kehrte Ruhe ein. Das Zwitschern von Vögeln und das Summen von Insekten war zu hören. »Wo kommen Sie eigentlich so schnell her?«, fragte sie dann.
Ich zeigte mit einer Kopfbewegung nach links. »Ich habe ein paar Meter weiter mein Nachtquartier aufgeschlagen«, sagte ich dann und mir fiel siedend heiß ein, dass meine Sachen unbeobachtet in der Gegend herumlagen. Nicht, dass diese Idioten nun mich beklauten. »Ich glaube, ich muss da mal nach dem Rechten gucken«, sagte ich sofort.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mitkomme?«
Es überraschte mich, aber ich schüttelte nur den Kopf. »Gehen wir«, sagte ich und sie kramte ihre Sachen zusammen, nahm ihre Tasche und wir gingen ein paar Meter durchs Unterholz, bis wir meinen Rastplatz erreicht hatten. Mit einem Blick stellte ich fest, dass sich noch alles am richtigen Fleck befand.
»Wollten Sie hier schlafen?«, fragte sie und ich wusste, dass eine Antwort darauf weitere Fragen nach sich ziehen würde.
»Ja«, meinte ich nur. »Etwas Besseres habe ich auf die Schnelle nicht gefunden.«
»Dann können wir wieder einen Club aufmachen«, sagte die Frau, stellte ihre Tasche ab und betrachtete mein Fahrrad. Für einen winzigen Augenblick hatte ich die Befürchtung, dass sie mich jetzt ausrauben würde, schließlich hatte sie eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass ich keine Chance gegen sie haben würde, doch das war natürlich Unsinn. Manchmal litt ich, neben all meinen anderen Psychosen, auch noch unter Verfolgungswahn.
»Schickes Teil«, sagte sie, ließ dann ihre Tasche auf die Wiese fallen und setzte sich im Schneidersitz daneben. »Machen sie eine Fahrradtour?«
»Könnte man so sagen«, wich ich aus und schob ein: »Ich habe ein paar Tage frei und wollte mal ausprobieren, wie weit ich so komme.«
»Kein Ziel vor Augen?«
Was sollte ich darauf sagen? Wie viel konnte ich von meinem Vorhaben Preis geben?
Ich zuckte innerlich mit den Schultern. Die Situation war seltsam genug, also konnte ich auch riskieren, dass sie mich auslachte.
»Eigentlich will ich bis zur Ostsee«, meinte ich. »Aber es war eine Zugfahrt geplant und dann ist plötzlich alles ganz anders gekommen.«
Sie lachte nicht, sondern sah mich nur an. »Das kenne ich«, meinte sie dann nur.
Sie hatte meinen Campingkocher entdeckt. »Würden Sie mich auf ein Abendessen einladen?«, fragte sie und schlug sich direkt danach die Hand vor den Mund. »Verflucht, das habe ich jetzt nicht wirklich gesagt, oder? Klingt ein wenig nach Bettelei.« Ihr Magen knurrte lauter als das Vogelgezwitscher und Insektengebrumme und wir mussten beide lachen.
»Kein Problem.« Ich nahm die restlichen Dosen aus meiner Tasche. »Linsen- oder Erbsensuppe. Oder Ravioli?«
Sie entschied sich für Ravioli und ich stellte die Dose auf den Gasbrenner.
»Bei mir ist auch alles anders gekommen, als geplant«, meinte sie, als wir darauf warteten, dass das Gericht warm wurde. »Wobei … eigentlich plane ich nie, aber die letzten Entwicklungen haben mich ein bisschen überrascht.«
Ich sagte nichts, wartete darauf, dass sie weitersprach und das tat sie dann auch.
»Ich komme aus der Nähe von Köln«, sagte sie dann. »Bin seit zwei Jahren geschieden und schlage mich mehr schlecht als recht durchs Leben.« Sie lächelte schief. »Oh mein Gott, erst schnorre ich eine Suppe und jetzt erzähle ich Ihnen meine Lebensgeschichte.«
»Nur zu. Ich habe gerade nichts anderes zu tun.« Außerdem stellte sie keine Fragen und ich musste nicht erklären, warum ich zur Ostsee unterwegs war.
»Ich habe gekellnert, an Supermarktkassen gesessen, was man halt so macht, wenn man keine andere Möglichkeit hat. Der Rubel muss schließlich rollen, die Miete will bezahlt werden, der Kühlschrank füllt sich nicht von alleine …« Wieder lächelte sie. »Ich schweife ab. Einer meiner großen Fehler.« Ich reichte ihr die Dose und einen Löffel und sie begann zu essen. Dann, als sie die Hälfte verdrückt hatte, wandte sie sich wieder mir zu. »Das tut gut«, sagte sie nur. »Vielleicht hätte ich meine Reise auch besser vorbereiten sollen.«
Oder einfach ein paar nette Leute treffen, die einem aus der Patsche halfen, dachte ich, aber ich wollte sie nicht unterbrechen.
»Vorgestern, nein, noch am Tag davor, erreichte mich plötzlich ein Brief. Von einer Anwaltskanzlei an der Ostsee. Meine Tante ist verstorben und sie hat mich in ihrem Testament bedacht. Keine Ahnung, was es ist, wir standen uns nicht besonders nah, ich habe sie zum letzten Mal gesehen, als ich ganz klein war. Aber irgendwie hat sie sich an mich erinnert und vererbt mir etwas.« Sie widmete sich den letzten Ravioli und sprach erst weiter, als sie auch noch den letzten Rest Soße aus der Dose gekratzt hatte. »Persönliche Anwesenheit ist erforderlich, steht in diesem Schreiben. Und in Ermangelung von Bargeld für eine Zugfahrkarte, habe ich mich per Anhalter auf den Weg gemacht.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie blöd muss man sein. Ich dachte, der nächste LKW mit Ziel Ostsee hält sofort neben mir und bringt mich an mein Ziel. Stattdessen treffe ich nur auf Leute, die mich von einer Stadt in die nächste mitnehmen.« Sie stellte die Dose weg, ließ sich auf den Rücken sinken. »Na immerhin habe ich es schon bis hierher geschafft. Der Rest ist nur noch ein Katzensprung.«
»Das sage ich mir auch.«
Jetzt sah sie mich zum ersten Mal lange an. »Was treibt Sie an die See?«
War es wieder dieser weibliche Instinkt, der ihr verriet, was ich vorhatte? Oder stand es mir mittlerweile, für alle lesbar, auf der Stirn geschrieben? „Simon Winkel, Selbstmörder“
»Jugenderinnerungen«, sagte ich kurz angebunden.
Sie überraschte mich mit ihrem nächsten Satz. »Ein Ausflug in die Vergangenheit, wo das Leben noch unbeschwert war.«
Es war keine Frage, nur eine Feststellung und sie ging nicht weiter darauf ein und bedrängte mich auch nicht mit weiteren Fragen. Stattdessen ließ sie ihren Kopf auf ihre Tasche sinken. »Wäre es ihnen sehr unangenehm, wenn ich hier bei ihnen schlafe?« fragte sie dann.
Ich deutete auf die Wiese. »Mi Casa es su casa«, sagte ich nur.
Sie lachte. »Oh, Sie sprechen ja perfekt auswärts.«
Ich räumte die leere Dose in meinen Anhänger, spülte den Löffel im See ab und als ich zu meinen Sachen zurückging, hörte ich regelmäßige Atemzüge. Bibiana Deichmann hatte schon der Schlaf übermannt.
Wie leichtsinnig in Gegenwart eines völlig Fremden, dachte ich. Doch ich hatte nichts Bedrohliches an mir, das musste ich mir selbst eingestehen.
Leise richtete ich mein bescheidenes Lager, bettete meinen Kopf auf meine Tasche und deckte mich mit der Jacke zu.
Hoffentlich würde ich nicht schnarchen. Ein letzter Blick auf Bibiana und ich schlief ein.
Es war schon hell, als mich Geräusche weckten. Als erstes bemerkte ich zahlreiche Mückenstiche, dann, als mein Gehirn sich langsam aus der Schlafwatte packte, fiel mir der gestrige Abend ein und als ich es schließlich schaffte, die Augen zu öffnen, sah ich meine »Mitbewohnerin«, die hektisch ihre Sachen packte.
»Oh«, meinte sie nur. »Ich wollte Sie nicht wecken. Aber ich muss los. Ich war schon oben an der Straße und hatte Glück. Keine dreihundert Meter von hier ist ein Rastplatz und einer der Brummifahrer nimmt mich mit Richtung Norden.« Sie schulterte ihren Rucksack und sah mich an. »Oh, ich hätte vielleicht fragen sollen, ob er auch Platz für ein Fahrrad und eine weitere Person hat.«
Ich winkte ab. »Nein, nein. Alles gut.« Mir wäre nicht wohl bei dem Gedanken, zu einem Fremden ins Auto zu steigen.
»Passen Sie auf sich auf«, sagte ich und meinte es ehrlich. Irgendwie begann jeder zweite Horrorfilm mit einer Anhalterin, aber Frau Deichmann schien diese Art Filme nicht zu kennen.
»Du auch, Simon Winkel«, sagte sie und zeigte wieder ihr spitzbübisches Lächeln. »Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.«
Sie reichte mir die Hand. »Und vielen Dank für das romantischen Abendessen.« Sie zwinkerte mir zu und ich wurde tatsächlich rot.
Ein paar Schritte die Böschung hoch, ein letztes Winken, dann war sie verschwunden.
»Vielleicht sieht man sich ja mal wieder«, hallte es in meinem Schädel nach, doch wir wussten beide, dass die Chancen dazu Richtung Null gingen.
Schließlich war die Welt groß und meine Zeit darauf nur noch sehr begrenzt.