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III.Plattform – Seelentröstung

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„Der Weg entsteht unter deinen Füßen …

Luise Reddemann 9

Ich schreibe diese Zeilen zwischen März 2020 und Januar 2021, während der durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten Krise, in Deutschland, in Europa, weltweit.

Derzeit gilt unsere beständige Sorge den Möglichkeiten zur Eindämmung der schwankenden Infektionskurven. Wir suchen fieberhaft und mit Nachdruck nach einem Impfstoff. In unserem Land stand das öffentliche Leben wiederholt weitgehend still, wir wissen nicht, wie lange uns diese Situation der Ungewissheit in ihren Bann schlägt. Wir leben auch nach epidemiologischen, hygienischen und weiteren vorgegebenen Grundregeln, um das Virus nicht selbst zu verbreiten und um uns selbst und Dritte zu schützen. Unsere Bewunderung, unsere Anerkennung und unsere Beifallskundgebungen gelten in diesen Tagen den bis an die Grenzen beanspruchten und darüber hinaus belasteten Angehörigen der medizinischen Berufe in Ambulanzen, Krankenhäusern und vor allem auf den Intensivstationen. Für uns in Deutschland und Europa lebende Bürgerinnen und Bürger scheint es nahezu selbstverständlich, in Krisenzeiten auf ein gut ausgerüstetes und aufgestelltes Gesundheitssystem zurückgreifen zu können, welches in der Lage ist, rasch, akut und zielführend einzugreifen, zu therapieren und Menschenleben zu erhalten.

Ich selbst bin Arzt, genauer Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 25 Jahren widme ich mich hauptsächlich psychisch belasteten und psychisch schwer erkrankten Menschen, die im Zusammenhang mit ihrer psychischen Störung erst verhaltensauffällig und dann später straffällig werden. Ich vertrete ihre psychiatrische Ebene bei Gericht, beurteile ihre Schuldfähigkeit und befasse mich in diesem Zusammenhang mit prognostischen Gesichtspunkten und den Fragen, wie man schwere, überdauernde psychische Störungen so behandeln kann, dass bei meinen Patienten auch die daraus resultierende Gefährlichkeit für die Allgemeinheit abnimmt und sie schließlich wieder in die Gesellschaft integriert werden können. Dabei nimmt die Reintegration für mich einen sehr hohen Stellenwert ein.

Diese Tätigkeit füllte mein ärztliches Handeln und mein ärztliches Berufsleben bis zum Jahr 2014 überwiegend vollständig aus, bis eine weltweite andere Krise – die schon lange vor dem Auftreten der COVID-19-Pandemie in unsere gesellschaftlichen Strukturen buchstäblich eingewandert war – uns seit spätestens diesem Zeitpunkt im Rahmen politischer Konfliktherde und ihren eskalierenden desaströsen Auswirkungen wiederholt und anhaltend beschäftigt und seit dem Jahr 2011 auch in Europa zunehmend in den gesellschaftlichen Fokus geriet: DIE FLÜCHTLINGSKRISE.

In Anbetracht der uns in Europa seit dem Beginn der 10er-Jahre unseres Jahrtausends beschäftigenden Fragen und Probleme, die ein zunehmend dichter werdender Flüchtlingsstrom aufwarf, fasste ich im November des Jahres 2014 einen ärztlichen Entschluss:

Ich beschloss, über meine Praxistätigkeit hinaus wöchentlich – auf ehrenamtlicher Basis – in einer örtlichen Gemeinschaftsunterkunft für Migranten eine psychiatrische Sprechstunde anzubieten, um die akutpsychiatrische Versorgung von geflüchteten und entwurzelten Patienten sicherstellen zu können. Was im November 2014 als gewöhnliche psychiatrische Sprechstunde begann, weitete sich sehr rasch zu einer Sozialpsychiatrischen Migrationsambulanz aus, welche ich mittlerweile, gemeinsam mit Koordinatoren, Fachkrankenschwestern des Missionärztlichen Instituts und weiteren ehrenamtlich tätigen ÄrztInnen und Helfern organisiere und umsetze.

Die Sehnsucht vieler in unser Land geflüchteter Menschen nach psychotherapeutischer und psychiatrischer Begleitung sowie nach Zuwendung und haltgebenden Strukturen ist gegenwärtig gewaltig. In den zurückliegenden sechs Jahren behandelte und betreute unser psychiatrisches Team über 500 Migranten aus über 30 Ländern. Die meisten Patienten kamen aus Armenien, Afghanistan, Albanien, Algerien, Bosnien-Herzegowina, China, Eritrea, Georgien, Irak, Iran, Kosovo, Marokko, Mazedonien, Montenegro, Nigeria, Pakistan, Russische Föderation, Serbien, Somalia, Syrien, Tunesien sowie aus der Türkei.

Häufig sind unsere Patienten traumatisierte Kriegs- und Folteropfer, aber auch Geflüchtete aus unerträglichen humanen, hygienischen und existenziellen Verhältnissen ihrer Herkunftsländer.

Entwurzelung, Gewalteinwirkung, Verlust der nächsten Angehörigen, Vertreibung, Versklavung, Folter und Hunger belasten die menschliche Seele schwer. Viele Patienten sind anhaltend depressiv, andere vergraben sich in ihrer Angst, wiederum andere sind auf Dauer psychisch erheblich traumatisiert oder leiden unter chronischen psychosomatischen Beschwerden.

Neben den chronischen depressiven und Angststörungen sehen wir im Behandlungsteam vor allem immer wieder die nachfolgend beschriebenen drei psychischen Hauptstörungsbilder bei geflüchteten und traumatisierten Menschen:

Die akute Belastungsreaktion10 beschreibt eine vorübergehende Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung entwickelt und die im Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt. Die zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen (Copingstrategien) spielen bei dem Auftreten und dem Schweregrad des Störungsbildes eine große Rolle. Die Symptomatik zeigt typischerweise ein gemischtes und wechselndes Bild, beginnend mit einer Art von „Betäubung“, mit einer gewissen Bewusstseinseinengung und eingeschränkten Aufmerksamkeit, einer Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten und mit Desorientiertheit. Diesem Zustand folgt häufig ein Sichzurückziehen oder aber ein Unruhezustand mit Überaktivität und Fluchtreaktion. Häufige Symptome sind panische Angst, Schwitzen und Erröten.

Die Posttraumatische Belastungsstörung10 entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, Albträume vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen können.

Bei den Anpassungsstörungen10 handelt es sich um Zustände von subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung, die im Allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen (Emigration, Flucht, Trennungserlebnisse, Verlusterlebnisse) auftreten. Die Symptome sind sehr unterschiedlich und umfassen depressive Stimmung, Angst, Sorge und das Gefühl, mit den alltäglichen Gegebenheiten nicht zurechtzukommen. Störungen des Sozialverhaltens können insbesondere bei Jugendlichen ein zusätzliches Symptom sein.

Was uns mit steter Regelmäßigkeit tief beeindruckt, sind der Durchhaltewillen und die Hoffnung der hilfesuchenden Migranten – trotz aller zuvor entwürdigender, unmenschlicher, entwurzelnder und traumatisierender Erlebnisse und Schicksale. Für die meisten Patienten ist Aufgeben keine Alternative. Sehr oft hören wir: „Gegen echte Trauer und Verzweiflung hilft nur Durchhalten und Weitermachen!“

Zu berücksichtigen bleibt dabei auch der Umstand, dass immer mehr Migranten mit abgelehnten Asylanträgen zu kämpfen haben, oft trotz einer nachgewiesenen und ausführlich gutachterlich dokumentierten schweren psychischen Erkrankung.

Was macht nun die Resilienz dieser Menschen aus? Hoffnung!

Hoffnung ist die Quelle für jedes weitere Durchhaltevermögen, im Sinne des Durchtragens sämtlicher Aspekte, an die man glaubt, für die man eingetreten ist, wofür man letztlich verfolgt wurde, sei es der eigene persönliche Glaube, eine persönliche Überzeugung, oder aber der innere und äußere Kampf für eine humanere Gesellschaft.

Das therapeutische Geheimnis liegt letztlich auch darin, den Patienten zu vermitteln, sich von den negativen Gefühlen und Symptomen nicht auf Dauer beherrschen zu lassen. Die Erinnerungen an die Traumata bleiben oft jahrelang bestehen, nicht wenige fragen sich immer wieder „Warum ich?“, jedoch lassen sich Demütigung, Angst, Entrechtung und ohnmächtige Wut und Zorn mit therapeutischer Hilfe überwinden. Entscheidend ist auch die Sicherung einer empathischen Beziehungsstruktur: Wer die Freude vergeblich sucht, in der Depression oder in der Angst, zieht sich dauerhaft zurück, wer über Beziehungen verfügt, findet auch wieder Quellen der Freude und Hoffnung, oft sehr langsam und kleinschrittig, aber kontinuierlich.

Viele, die selbst erheblich seelisch verletzt sind, verletzen wiederum andere, auch die eigene Familie, weil sie sich in ihrer Entwurzelung niemandem und nirgendwo mehr zugehörig fühlen können. Hier gilt es, in der Aufbauarbeit nicht nachzulassen, immer wieder begleiten, verstehen, bestärken, Quellen der Freude zu schaffen.

Entscheidend für das Gelingen der therapeutischen Begleitung, die in vielen Fällen jahrelang andauert, bleibt jedoch die Hoffnung der Betroffenen selbst. Einen derartigen Willen zum Durchhalten, zum Neuanfang und zur Neugründung einer Existenz wie bei unseren Geflüchteten habe ich in den zurückliegenden 25 Jahren meiner ärztlich-psychiatrischen Tätigkeit bei keiner anderen Patientengruppe gefunden.

Mein psychiatrisches Team sowie die Mitarbeiter der Sektion Mirgrantenmedizin und ich verneigen uns mit Hochachtung sehr tief vor dem (Über-)Lebensmut unserer Patienten, die uns eine tägliche Lebens- und Glaubensschule bleiben werden.

Bevor es jedoch soweit ist, bevor es soweit sein kann und darf, dass Hoffnung und Resilienz die Oberhand in einem oft jahrelangen Kampf gewinnen, gehen viele Betroffene durch das Tal der Retraumatisierung, durch Situationen, die den traumatisierenden Ursprung wiederbeleben, aktivieren und den oder die Betroffene(n) zurückversetzen. Die Bilder des Traumas werden häufig erneut lebendig, sodann eben nur in anderen Umgebungen, beispielsweise auf der Fluchtroute, in der Gemeinschaftsunterkunft, auf der Asylbehörde oder am Arbeitsplatz.

Aktivierung der Ressourcen und der Hoffnung auf ein Weiterleben setzt immer voraus, dass Bezugspersonen gefunden wurden, Vertrauen aufgebaut werden konnte, fachspezifische Hilfe angeboten und in Anspruch genommen werden konnte. Der Gipfelbesteigung geht die Durchschreitung des Tals der Tränen voraus.

Der Weg entsteht unter ihren Füßen …!

Stumme Schreie

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