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I.PROLOG – Das Grenzsyndrom
Оглавление„Auf jeden Fall weiß ich,
dass es außer mir noch viele andere Menschen gibt,
die unter dem Grenzsyndrom leiden.
Doch –
wer nie das Verlangen verspürt hat,
eine Grenze zu überwinden,
oder sich nie vor einer Grenze zurückgestoßen sah,
wird schwerlich nur verstehen,
wovon ich spreche.“
Gazmend Kapllani 5
Mitunter brechen Zustände über unser Leben herein, die bei nahezu jedem zu nachhaltigen Eindrücken katastrophenartigen Ausmaßes führen können.
Verzweiflung nährt sich dann aus Verzweiflung. Es existiert jedoch derzeit – und dies im globalen Sinne – eine Gruppe von Menschen (über 80 Millionen) auf dem Erdball, deren Verzweiflung bereits vor Einbruch einer derartigen Katastrophe ein solch unaussprechbares Maß an Unerträglichkeit erreicht hat, dass diese der sodann über sie hereinbrechenden Katastrophe nur mehr stoisch, resignierend und mit stummem Schrei antworten konnten:
Am 09.09.2020 brannte das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos nahezu vollständig aus. Die bereits vor dem Ausbruch des Brandes über dem Lager – durch die seit Jahren anhaltende Überfüllung – schwebende und schwelende Ausweglosigkeit ließ zahlreiche Einzelschicksale zusammenbrechen unter der Last der fehlenden Perspektive und ausbleibenden Hoffnung auf ein Ankommen im weiteren Leben dieser Betroffenen.
Der Brand des Lagers selbst, die Beraubung der letzten noch verbliebenen Besitztümer, traf viele Menschen zu einem Zeitpunkt, welcher zahlreiche Geflüchtete bereits resigniert – ohne Antrieb – geradezu im Zustand einer seelischen Betäubung verharren ließ. Ohne Zweifel litten zu diesem Zeitpunkt bereits die meisten Bewohner dieses Lagers unter Folgestörungen einer entweder in Ansätzen begriffenen oder bereits eingetretenen oder fortgeschrittenen Form der Traumatisierung, bevor die schreckliche Brandkatastrophe ihren endgültigen Ausgang nahm.
Diese Situationskonstellation am Beispiel der Brandkatastrophe von Moria beschreibt einen Zustand, welchen die meisten Flüchtlinge (gleich aus welchen Gründen sie ursprünglich ihr Herkunftsland einmal verlassen haben) entweder in ihrem Herkunftsland selbst, auf der Flucht oder in einem ihrer Zielstaaten in mehr oder weniger abgewandelter Form erleben:
Sie stehen gegenüber Grenzen, die sie überwinden wollen oder müssen, um ihren Zielstaat erreichen zu können, aber sie erleben, dass sie von diesen Grenzen zurückgewiesen werden, unter Umständen auch unter Anwendung von staatlicher Gewalt. In diesem Zusammenhang wird auch von Betroffenen von dem sogenannten Grenzsyndrom5 gesprochen. Spricht man mit Flüchtlingen, so signalisieren nicht wenige Betroffene, dass es wie eine Krankheit sei, Symptome auslöse, aber in keinem diagnostischen Kriterienkatalog zu finden sei. Viele berichten darüber, dass man das Grenzsyndrom nicht verstehen könne, wenn man nicht selbst versucht habe, unüberwindliche Grenzen zu passieren.
Während das sogenannte Grenzsyndrom keiner tatsächlich vergleichbaren Diagnose entspricht, löst die Traumatisierung in ihren vielfältigen Formen eine ganze Reihe von typischen Symptomen psychischer und körperlicher Art aus, welche in ihren unterschiedlichen Ausprägungsgraden durchaus ganz konkret spezifischen Diagnosen auf dem Fachgebiet der Psychiatrie zugeordnet werden können:
Vom Zeitpunkt des Verlassens ihres Herkunftslandes, somit also dem Beginn der Flucht selbst, bis zur Ankunft im angesteuerten oder auch zugeteilten Zielstaat erfahren Migranten immer wieder auf sie einwirkende Ereignisse und Situationskonstellationen, die in ihrem jeweiligen Ausmaß Traumata vielgestaltiger Art hinterlassen. Die Einwirkungsmöglichkeiten sind vielfältig:
Die die unmittelbare Flucht auslösenden Stressoren und Impulse beginnen in der Regel im Herkunftsland selbst, häufig in Form von Lebensmittelknappheit, Dürrekatastrophen, Nachstellung, Bedrohung und Tötung von Familienangehörigen, politisch motivierter Verfolgung, Haft, Folter und letztlich nicht selten in Form von Todesdrohungen.
Die lebensbedrohlichen Zustände setzen sich mit Beginn und Aufnahme der Flucht fort, Flüchtlinge geraten in den Einflussbereich von Schleppern, werden unterwegs immer wieder in Wüstenregionen ausgesetzt, in „Übergangslagern“ interniert, versklavt und inhaftiert und werden dabei nicht selten Opfer von Gewalt und Folter. In jedem Falle jedoch geraten sie in unüberwindbare Abhängigkeitsverhältnisse.
Diejenigen, die sich in ihrer Not für den „Seeweg“ entscheiden, wissen zunächst nicht, ob sie den Fluchtweg überleben werden. Die Seenotrettung gehorcht ihren eigenen Gesetzen, die oft nicht mit der Einhaltung von Menschenrechten in Einklang stehen.
Zum Zeitpunkt ihrer Ankunft an der rettenden Küste steht vielen Flüchtlingen noch ein beschwerlicher Landweg bevor, den viele zu Fuß fortsetzen. Kaum aushaltbare Strapazen begleiten ihren Weg. Wieder beginnt der Circulus vitiosus von vorne, begleitet von Ängsten, Drangsalierungen, Gewalt und Ungewissheit ob des Erwartbaren.
Ist das ersehnte Zielland schließlich erreicht, stürzen neue Ungewissheiten und Unsicherheiten über die Lebenssituation der Betroffenen herein. Die Erstaufnahmeeinrichtung fordert den Migranten ein hohes Maß an Flexibilität ab, viele sind auf engstem Raum mit Angehörigen verschiedenster Nationalitäten in einem minimalen Wohnraum zusammengedrängt. Ethnische Konflikte sind vorprogrammiert und müssen ertragen werden.
Mit der Formulierung des Asylantrages beginnt eine für viele unerträgliche Zeit des Wartens und der Sicherstellung ausreichender Lebensverhältnisse, insbesondere für die mitgereisten Familienmitglieder und die vielen Kinder und Minderjährigen. Es beginnt der Kampf um die Arbeitserlaubnis, um die Berechtigung, die Erstaufnahmeeinrichtung verlassen zu dürfen und eine eigene Unterkunft (Wohnung) beziehen zu können.
Eine ganz erhebliche Zahl von Asylsuchenden erhält jedoch nur eine Duldung, welche den vorübergehenden Aufenthalt abdeckt. Das lange ungewisse Warten setzt sich fort, viele Betroffene erkranken, nicht nur körperlich, psychosomatisch, sondern gerade auch psychisch. Die Erlebnisse der zurückliegenden Jahre haben ihre Ressourcen aufgebraucht. Viele Betroffene fühlen sich ohnmächtig gegenüber dem System, gegenüber dem Zielstaat, gegenüber ihrer Familie, gegenüber ihrer Lebenssituation.
Häufig beginnt nunmehr der Kampf mit den psychischen Leiden, die Sorge um adäquate ärztliche Behandlung. Sprachbarrieren verhindern Psychotherapien.
Nicht wenige Migranten suchen den rechtlichen Weg, klagen gegen Verzweiflung, Missverständnisse, Fehleinschätzungen und mangelnde Berücksichtigung ihres Lebens- und Fluchtweges. Wenige haben Erfolg.
Die „Ausreisepflichtigen“ befinden sich in einer quälenden und ausweglosen Gesamtsituation, werden mitunter suizidal, haben Selbstmordfantasien. Dann kommt der Tag der unfreiwilligen Rückreise. Der Rückflug beendet eine oft jahrelange Odyssee und den Beginn einer neuen ungewissen und kaum hoffnungsvolleren Zukunft. Wir befinden uns wieder am Anfang, der „Stunde Null“ im Leben eines Flüchtlings.
Das oft größte Geschenk, welches Asylsuchende in diesen verzweifelten und ausweglosen Situationen bekommen können, ist das Signal, dass sie verstanden werden, dass sich jemand für sie tatsächlich interessiert, als Einzelschicksale mit ihrer Vorgeschichte, den Ursachen und Folgen der Flucht, mit ihrer Traumatisierung, ihrem Lebenselend, ihrer Perspektivlosigkeit.
In den letzten sechs Jahren habe ich als Psychiater in der akutpsychiatrischen Sprechstunde über 500 Migranten aus über 30 Herkunftsstaaten zugehört.
Viele sind polytraumatisiert, das heißt, sie haben auf einer oder mehreren Wegstrecken ihrer Fluchtrouten oder aber im Zielland Belastungen von katastrophenartigem Ausmaß erfahren. Viele habe nicht nur ein Trauma, sondern gleich mehrere Traumatisierungen.
Da sind beispielweise Ahmad aus Afghanistan, dem die Taliban mit einer Tellermine den rechten Unterschenkel abrissen, Abdul aus dem Irak, der Folterspuren aufweist, Ibrima aus Somalia, die mehrfach vergewaltigt wurde, Yussuf aus Syrien, der im Gefängnis gefoltert wurde, Amadou aus dem Iran, der drei Jahre in Isolationshaft saß, Alik aus der Ukraine, der seine Angehörigen im Ukrainekrieg verlor, Amen aus Armenien, der auch in Folterhaft war, Eymag aus Nigeria, der in Libyen gefoltert und versklavt wurde, Abdulmonir aus Afghanistan, dem eine Extremität abgetrennt wurde, und auch Maryan, Marusya, Natali und Hrachia, die es in einem Schlauchboot über das Mittelmeer schafften, deren Angehörige jedoch dabei ertranken …
StellvertreterInnen für viele ähnliche Schicksale …, wie auch die vielen Kriegswaisen, Kindersoldaten und Missbrauchsopfer.
Ihre Geschichten werden hier sprechen.
Nichts sonst.