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ОглавлениеKapitel 1
Meine Geschwister
Wie könnte ich meine Familie nicht erwähnen, meine beiden Brüder Brice und Simon, wenn ich versuche, den Ursprung meines sportlichen Werdegangs zu analysieren? Alles führt mich in unsere Kindheit zurück, wenn ich daran denke, wie meine Leidenschaft für den Sport geweckt wurde.
Es wäre sicherlich übertrieben zu sagen, dass alles schon dort entschieden wurde: in dieser freien, glücklichen Kindheit, die uns unsere Eltern boten – mir und meinen Geschwistern Brice als Nesthäkchen und Simon als dem Erstgeborenen.
Mag sein, dass ich schon immer ein Wettkämpfer war – aber meine besondere Stellung in der Mitte meiner Geschwister wird auch ihren Teil dazu beigetragen haben.
Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich vor Simon zunächst Angst hatte. Mein großer Bruder war vier Jahre älter als ich, und wenn ich als Kind mit Brice raufte, dem Jüngsten, nahm er automatisch eine Verteidigungshaltung ein. Also musste ich auch ihn angreifen. Und das war etwas ganz anderes …
Das soll aber nicht heißen, dass wir in einem kampflustigen Klima aufwuchsen. Ganz im Gegenteil, meine Eltern, und insbesondere meine Mutter, hassten es, wenn wir Konflikte mit Fäusten statt mit Worten lösten. Trotzdem kam es häufig dazu, weil uns unsere Eltern auch sehr viel Freiraum ließen.
Meine Mutter ist Logopädin und mein Vater Bergführer. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, übernahmen sie ein sehr isoliert liegendes Ferienhaus, eine halbe Autostunde entfernt von Font-Romeu-Odeillo-Via, einer im Naturpark Pyrénées Catalanes gelegenen Gemeinde. »La Cassagne«, wie das Ferienhaus hieß, war ein wunderschönes Anwesen aus Stein, mit Scheunen und einem Stall, Gemeinschaftsräumen und großen Gästezimmern. Und das alles mitten in der Natur, 15 Kilometer entfernt von den nächsten Nachbarn.
Ein Freund meiner Eltern hatte Bienenstöcke in der Nähe aufgestellt und schenkte uns massenweise Honig, den Brice und ich an die Feriengäste verkauften. Es kam regelmäßig vor, dass wir allein waren, um diese in Empfang zu nehmen, bevor unsere Eltern zurückkamen. Wir übernahmen Verantwortung, waren selbstständig, frei. Glücklich. Meine Mutter kümmerte sich um den Obst- und Gemüsegarten, um die Zubereitung der Mahlzeiten und um die Gäste, nachdem sie ihre Sprechstunde in der Praxis in Saillagouse beendet hatte. Sie sorgte auch für die Verpflegung meines Vaters, wenn er mit einer von Packpferden begleiteten Wandergruppe auf eine einwöchige Tour ging.
Später als Teenager erlaubte mein Vater mir einige Male, ihn zu begleiten. Ich lief im Tempo der Erwachsenen, sechs oder sieben Stunden lang pro Tag, führte die Pferde und half mit, das Biwak aufzubauen. Ich liebte diese Momente und war stolz darauf, zu sehen, wie erstaunt die Erwachsenen über meine Ausdauer waren. Ich war der kleine Liebling, der kleine Star der Gruppe …
Unser Leben in La Cassagne kommt mir vor wie ein Traum. Brice und ich vertrieben uns die Zeit damit, auf einen riesigen Baum zu steigen: Wir stellten uns vor, dass er ein Raumschiff wäre. Wir standen uns sehr nahe. Jedes Jahr im Juni spielten wir unsere ganz eigene Version der »French Open« – als die beiden einzigen Spieler dieses Turniers, das wir auf einem unebenen Feldweg vor unserem Haus absolvierten.
Brice war jahrelang mein liebster Spielkamerad. Simon dagegen hatte sich schnell von uns gelöst und spielte lieber mit gleichaltrigen Freunden.
Auf dem Schulweg mussten wir eineinhalb Kilometer laufen bis zu der Straße, an der uns ein Kleinbus, der die kleinen Dörfchen abfuhr, einsammelte. Mein Vater hatte zusätzlich zu seinen Packpferden noch drei andalusische Rösser, die sonst im Schlachthof geendet wären, zu uns geholt. Sie waren wahrscheinlich noch nie geritten worden, aber Brice und ich wussten, wie wir mit ihnen umgehen sollten. Es dauerte einige Zeit, bis meine Mutter verstanden hatte, dass es Pferdehaare waren, die sie auf unseren Hosen fand, wenn wir aus der Schule nach Hause kamen. Wir ritten heimlich auf ihnen bis zur Straße, um nicht zu Fuß gehen zu müssen.
Unser Lebensstil hatte vielleicht ein bisschen was hippiemäßiges. Dazu gehörte ein Fernsehzimmer, das aber nur selten benutzt wurde – und nur nach eingehender Diskussion mit meiner Mutter über das Programm. Erlaubt waren zum Beispiel Tierfilme, am Sonntagnachmittag durften wir auch manchmal eine Zeichentrickserie sehen. Mama zog Gesellschaftsspiele dem Fernsehen vor. Und natürlich wollte ich auch beim Memory nur höchst ungern verlieren …
Obwohl meine Eltern mit dem Ferienhaus und ihren beruflichen Verpflichtungen sehr eingespannt waren, fanden sie immer mal wieder Zeit, um mit der ganzen Familie in Urlaub zu fahren. So kam es, dass wir den Sommer des Jahres 1996 in Québec verbrachten. Simon und ich erinnern uns besonders gut an diese Zeit, weil wir damals im Fernsehen die Olympischen Spiele in Atlanta ansehen durften – im Wohnzimmer der kanadischen Freunde meiner Eltern, die eine Bienenzucht in Saint-Laurent-de-l‘Île-d‘Orléans hatten. Meine Mutter behauptet, sie habe damals auf dem Sofa vor dem Fernseher in unseren Augen ein Funkeln gesehen, das wohl zur Initialzündung für unsere Sportbegeisterung wurde …
In einem anderen Sommer, ein paar Jahre früher, machte auf einer Fahrt ins Landeszentrum der Motor unseres Renault Express nach fünfzig Kilometern schlapp. Mein Vater beschloss deshalb, bei Argelès-sur-Mer ein Segelboot für einen Mittelmeertörn zu mieten. Einer meiner Cousins, der uns damals begleitete, hatte eine ungefähre Vorstellung und vielleicht auch ein paar Kenntnisse vom Segeln – aber das genügte meinem Vater, um sich mit uns aufs Schiff zu begeben. So war das immer: Nie schien er groß beunruhigt zu sein, immer hatte er scheinbar alles im Griff, auch wenn er sich selbst wohl tief im Innern eingestehen musste, dass es manchmal grenzwertig war, in welche Situationen uns seine Aktivitäten brachten. So erinnere mich daran, dass meine Brüder, mein Cousin und ich uns die Zeit im Beiboot vertrieben, während das Segelboot auf den Wellen trieb – bis ich ins Wasser geschleudert wurde, mitten auf dem offenen Meer …
Mag sein, dass sich die Zeiten geändert haben – damals erschien uns all das als ganz normal. (Tatsächlich würde ich heute nicht mal ein Zehntel der Aktivitäten, die uns damals zugemutet wurden, mit meinen Töchtern machen.)
Einmal reisten wir nach Marokko für eine Trekkingtour im Atlasgebirge, wo mein Vater bereits einige MTB-Touren für Kunden organisiert hatte. Die Schluchten, durch die wir gingen, waren überschwemmt, und unser lokaler Guide zeigte sich dementsprechend beunruhigt – doch mein Vater entgegnete ihm nur, dass er schon wisse, was er tue. Am Ende saßen wir in der Nähe des Dorfes unseres Guides fest, weit ab vom Schuss. Er lud uns zu sich für drei Tage ein, bis der Weg wieder frei war. Diese Zeit war für mich sehr beeindruckend. Die Leute im Dorf hatten fast nichts und schienen sich doch zu freuen, das Wenige mit uns zu teilen. Sie wollten ein Fest für uns veranstalten. Und so feierten wir: drei Tage lang. Beim Abschied habe ich einem Jungen, der kaum jünger war als ich, meine Kappe geschenkt. Noch heute sehe ich seine leuchtenden Augen vor mir. Er strahlte mich an, als hätte ich ihm mein Haus geschenkt. Das hat mich tief berührt. Ich muss damals etwa zwölf Jahre alt gewesen sein, und ich habe diesen besonderen Moment nie vergessen.
Immer der Erste sein
Natürlich war Sport in diesen privilegierten Lebensbedingungen in den Bergen unsere Hauptbeschäftigung. Ski alpin, ausgedehnte Schneeschuhtouren oder Skilanglauf im Winter, Wandern, Fahrradfahren oder Laufen im Sommer. Mir kam es von Anfang an auf den Wettbewerb an: Egal mit welcher Art der Fortbewegung, ich musste immer als Erster auf dem Gipfel sein. Simon begann mit Eishockey – selbstverständlich habe ich es ihm nachgemacht. Zuvor hatte ich es auch bereits mit Judo versucht, aber nun wurde mir klar, dass Kontaktsportarten nichts für mich sind. Was das Eishockey betrifft, dürften auch die nicht unerheblichen Kosten eine Rolle dabei gespielt haben, dass wir diesen Sport bald wieder aufgaben. So entschieden wir uns für den Skilanglauf, der für unsere Familie sowieso etwas ganz Natürliches war. Im Skiclub bekamen wir es dann zunächst mit Trainern zu tun, denen der Spaß an der Bewegung in der freien Natur wichtiger war als das reine Techniktraining. Dennoch erkannte man schon in diesen ersten Anfängen, dass die drei Fourcade-Brüder nicht ganz unbegabt waren. In meinem Fall wurde auch schnell eine gewisse Vorliebe für den Wettkampf erkennbar …
Mein Ehrgeiz beschränkte sich nicht nur auf den Sport. Wenn ich eine gute Note aus der Schule mit nach Hause brachte, auf die ich stolz war, so war es mit Sicherheit die beste. Wenn ich nur der Zweitbeste war, war ich enttäuscht und zeigte dies auch.
Aber im Sport war es noch schlimmer. Im Collège von Font-Romeu, wo ich den Sportzweig besuchte, hatte ich hauptsächlich mit Kindern zu tun, die sich mit Leichtathletik beschäftigten, während ich beim Skilanglauf blieb. Was mich aber nicht daran hinderte, loszuheulen, wenn ich beim Schul-Crosslauf nicht gewann. (Zum Glück für mich geschah das aber nur ein einziges Mal – in der sechsten Klasse. Danach besetzte ich das oberste Treppchen des Siegerpodests bis zum Übertritt ins Gymnasium.)
Simon war bei all dem als großer Bruder perfekt. Mehr als einmal verteidigte er mich, wenn andere mich verprügeln wollten. (Sogar Thibaut, der später einer meiner besten Freunde wurde, wollte mich anfangs vermöbeln. Viele Jahre später gestand er Simon, dass er nur deshalb davon abgesehen hatte, weil er es nicht mit ihm zu tun bekommen wollte.)
Mit seinen Freunden hatte Simon sich für Biathlon entschieden, und ich folgte meinem großer Bruder auch darin. Zunächst von Weitem, auch wenn ihn dies ärgerte. Ich glaube, dass er sich damals noch selbst suchte. Er hatte die Reife, sich einer Aktivität mit vollem Einsatz zu widmen. Und er war umso mehr dazu entschlossen, alles für eine wirklich gute Leistung zu geben, als er die bittere Enttäuschung erlebte, sich anders als seine besten Freunde nicht für die französischen Meisterschaften qualifizieren zu können.
Ich war damals ein begabter Dilettant. Als solcher gehörte ich zum Team der Pyrénées-Orientales, das regelmäßig mit unseren Konkurrenten aus den Hautes-Pyrénées ins Trainingslager oder zu Wettkämpfen in die Alpen fuhr. Dort habe ich dann Hélène getroffen …
»Du wirst mich öfter im Fernsehen sehen als in echt …«
Wenn ich die Briefe lese, die wir uns damals schrieben, schäme ich mich fast ein wenig, so kindisch scheinen sie mir. Ein kleiner Junge war ich, als wir uns bei den französischen Clubmeisterschaften in den Alpen trafen. Ich muss damals erst elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein, aber ich war nicht auf den Mund gefallen und hatte keinerlei Hemmungen. Hélène war ein Jahr älter als ich. Sie gefiel mir, und so fragte ich sie mit in unter der Tür durchgeschobenen Briefchen, ob sie mich küssen wolle. Erstaunlicherweise wollte sie nicht! – Ich glaube, sie hielt mich für einen ungehobelten Kerl, und damit hatte sie auch gar nicht unrecht.
Ein Jahr später hing sie aufgrund eines heftigen Schneesturms in Font-Romeu fest. Ich versuchte mein Glück erneut und stellte mich diesmal schon deutlich weniger plump an. (In diesem Alter lernt man schnell und ändert sich enorm …)
Nach diesem bedeutungsvollen Wochenende verging keine einzige Woche, ohne dass wir nicht mindestens eine Stunde lang telefoniert hätten.
Da wir relativ weit voneinander entfernt wohnten, ging dieser erste Teil unserer gemeinsamen Geschichte irgendwann leise zu Ende, aber mit 17 oder 18 trafen wir uns wieder, ohne das Band, das uns einte, jemals zerschnitten zu haben. Obwohl sie zum Studieren nach Toulouse ging, während ich als richtiger Biathlet zwischen Prémanon und Villard-de-Lans pendelte, wurde unsere Beziehung ernster.
Ist es nicht absolut verrückt, dass Hélène heute meine Frau und die Mutter meiner Kinder ist? In unserer Beziehung gab es einige Unterbrechungen, aber wir haben nie aufgehört, miteinander zu sprechen und uns zu vertrauen. Ich bin überzeugt, dass ich ohne sie in meiner sportlichen Karriere nicht so erfolgreich gewesen wäre. Sie gab mir die emotionale Stabilität, die ich brauchte. Ich habe ihr nie etwas vorgemacht, was es bedeuten würde, wenn sie sich dazu entschlösse, ihr Leben mit meinem zu teilen. Erst kürzlich erinnerte mich Hélène daran, was ich als Vierzehnjähriger mal zu ihr sagte: »Wenn du meine Frau wirst, wirst du mich öfter im Fernsehen sehen als in echt …«
Das zeigt mir, dass ich schon damals innerlich wusste, was ich wollte. Ja, ich wollte so wie die Typen auf den Postern in meinem Zimmer sein. Das war mehr als nur eine Laune: eine Flamme, die noch immer nicht erloschen ist.