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5.

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Der Abend unterschied sich anfangs nicht allzu sehr von anderen Abenden, an denen wir uns getroffen hatten. Wir aßen, tranken, redeten, lachten auch bisweilen, und ich hoffte wieder einmal, Christine werde so viel Wein in sich hineinlaufen lassen, dass sie sich nicht mehr daran erinnerte, vor einem Jahr ausgezogen zu sein. Sie sollte einfach hierbleiben. So, wie sie früher auch hiergeblieben war nach dem Abendessen. Früher, als wir noch zusammengelebt hatten.

Christine erzählte ein bisschen von Paris, vor allem von gewissen Schwierigkeiten beim Übersetzen von Pellotiers Roman, die zu besprechen sie ja hingefahren war. Ich hütete mich vor ähnlichen Fragen wie am Nachmittag, und alles war zunächst sehr harmonisch. Wir sprachen sogar ein bisschen von unserer gemeinsamen Pariser Zeit, Christine, die immer noch mehrmals im Jahr hinfuhr, klagte, dass sich schon wieder so Vieles verändert habe und schimpfte, dass das Marais immer mehr zum Touristenrummelplatz verkomme – unser gutes Marais, wohin wir immer gefahren waren, um in einer der jüdischen Bäckereien dort dunkles Brot zu kaufen und wo ich mich mit meinem deutschen Akzent anfangs kaum getraut hatte, den Mund aufzumachen. Das kleine Bistrot in der Rue de Rivoli, in dem wir uns oft getroffen hatten in der Anfangszeit, gebe es auch nicht mehr, erzählte Christine weiter, ein Sportartikelladen sei jetzt dort eingezogen, und ich war gerade dabei, von einer dieser melancholischen Anwandlungen überfallen zu werden, in die ich manchmal abdriftete, wenn ich erfuhr, dass schon wieder ein Ort verschwunden war, der uns früher einmal etwas bedeutet hatte, als sie unvermittelt das Thema wechselte und fragte, woran ich in der Agentur im Moment arbeitete. Sie überrumpelte mich damit so sehr, dass mir keine Lüge mehr einfiel, schlimmer noch, dass ich auch den Ton meiner Antwort nicht mehr im Griff hatte. Ich säße gerade an einer Imagekampagne für den VDM, sagte ich und war im selben Moment unangenehm berührt von dem eklig Geständnishaften in meiner Stimme. Christine kannte mich gut genug, um sofort zu merken, dass ich ein Problem hatte. Sie wusste zwar noch nicht genau, welches, freute sich aber darauf, es gleich zu erfahren – das zu wissen kannte wiederum ich sie gut genug.

„VDM?“ sagte sie, und schaute mich einfach nur fragend an, nicht erwartungsvoll, nicht gespannt, nicht lauernd, sie sah vollkommen harmlos aus, so, wie sie immer aussieht, einen Moment, bevor sie eine Situation gnadenlos für sich entscheidet. Ich war innerlich schon in die Kaninchenstarre verfallen, bei mir ging nichts mehr, das Gehirn war nicht einmal mehr zu einer Minimalleistung fähig, sonst hätte ich, nachdem die Abkürzung nun schon einmal heraus war, immerhin noch sagen können „Verband Deutscher Melkmaschinenbauer“ oder wenigstens „Verein Deutscher Minigolfer“, und wenn erst einmal der Knoten bei mir geplatzt gewesen wäre, hätte ich es sicher auch noch geschafft, eine Erklärung zu erfinden, wieso um alles in der Welt die Minigolfer eine Imagekampagne in Auftrag gäben. Selbst wenn sie gemerkt hätte, dass alles erlogen war, hätte ich vielleicht wegen der Originalität meines Lügengespinstes noch ein paar Pluspunkte ergattert, Christine liebt Geschichten, und sie liebt auch Geheimnisse, die sich hinter Geschichten verbergen. Nur brachte ich eben in diesem Moment keine Geschichte zustande, ich brachte überhaupt nichts zustande außer den drei Worten „Verband Deutscher Makler“. Es wäre viel besser gewesen, wenn ich auch die nicht zustande gebracht hätte.

In Christines Augen lag ein Ausdruck völligen Unglaubens. Vielleicht erwartete sie im ersten Moment sogar noch, dass ich die Erklärung grinsend zurücknähme, dass ich sie womöglich sogar auslachte, weil sie auch nur den Bruchteil eines Momentes lang hatte glauben können, ich sei so tief gesunken, mich nun von denen bezahlen zu lassen, denen ich vor nicht allzu vielen Jahren noch ohne große Skrupel den Porsche angezündet hätte.

„Du arbeitest für die Maklermafia?!“ brachte sie schließlich hervor.

Ich nickte und versuchte, ganz entspannt auszusehen. Wahrscheinlich ähnelte ich aber eher jemandem, der gerade in die Hose gemacht hat.

Christine lachte laut heraus. „Der Hausbesetzer arbeitet für die Maklermafia! Micha, jetzt bist du wirklich ganz unten!“

Ich sagte: „Ich bin kein Hausbesetzer.“

„Nein“, sagte Christine, „jetzt nicht mehr. Jetzt bist du ein Verräter.“

Sie lachte vergnügt, schenkte sich Wein nach und sah mich an, wie man sich ein seltenes Tier ansieht.

Ich sagte, sie könne sich ihre abgedroschenen Sprüche sparen und zündete mir eine Zigarette an. Sollte ich ihr vielleicht erklären, dass ich das Geld brauchte, um mir auch weiterhin diese teure Wohnung leisten zu können, die – für mich jedenfalls – immer noch auch die ihre war? Dass diese vier großzügigen Zimmer mit geräumiger Küche, ebenso geräumigem Bad, Gästetoilette und Loggia, die wir gemeinsam gesucht und gemeinsam eingerichtet hatten, für mich immer noch so etwas wie eine Basis für ein gemeinsames Leben waren, das ich mir auch jetzt, nach mehr als einjähriger Trennung, noch vorstellen konnte, das ich mir sehnlichst und hartnäckig wünschte? Natürlich nicht. Sie hätte sich entrüstet dagegen zur Wehr gesetzt, dass auch sie, wenn auch ungewollt und ohne ihr Zutun, eine Rolle gespielt haben sollte bei meiner Entscheidung, diese Kampagne mitzuentwickeln. Sie hätte mich darauf hingewiesen, dass sie mir schon oft genug gesagt habe, das gemeinsame Leben sei definitiv zu Ende. Sie hätte mich aufgefordert, die Wohnung sofort zu kündigen. Sie hätte nicht mehr gelacht, sondern mich verhöhnt. Sie wäre ärgerlich geworden, vielleicht sogar wütend, und es hätte durchaus zu ihr gepasst, wenn sie ihren Besuch bei mir abgebrochen hätte und gegangen wäre – was angesichts des weiteren Verlaufs dieses Abends ja das Beste gewesen wäre, was sie hätte tun können – jedenfalls aus meiner Sicht –, nur hatte ich das eben in diesem Moment noch nicht ahnen können und hütete mich folglich, das Risiko einzugehen, ihre Stimmung zum Kippen zu bringen.

Im Übrigen hatte ich den Job keineswegs gerne angenommen. Auch ich hatte natürlich als erstes an die Demonstrationen gedacht, an denen ich einmal teilgenommen hatte, an die Transparente mit Aufschriften wie „Gegen Spekulation mit Wohnraum!“ oder auch „Spekulanten ab auf den Mond!“, an die Barrikaden, die ich damals am Winterfeldtplatz und rund um das Kottbuser Tor mitgeholfen hatte zu bauen und an die paar Wochen, die ich tatsächlich einmal in einem besetzten Haus hinter dem Görlitzer Bahnhof gelebt hatte. Aber es wäre mir als sehr unprofessionell erschienen, meinem Chef mit Hinweis auf meine wilden Jahre, die ihn außerdem auch nichts angingen, meine Arbeitskraft zu verweigern. Schließlich wurde ich dafür bezahlt, dass ich das erledigte, was anfiel und nicht das, was ich mir aussuchte. Natürlich hätte ich kündigen können, hatte auch sofort an diese Möglichkeit gedacht, war aber, aus den schon erwähnten Gründen und auch, weil ich gar nicht gewusst hätte, was ich statt dessen hätte tun sollen, gleich wieder davon abgekommen. Da musst du durch, hatte ich mir gesagt, der nächste Job würde wieder unproblematischer sein, wie ja jahrelang die Jobs zumindest akzeptabel gewesen waren, hatte man erst einmal grundsätzlich für sich geklärt, dass man bereit war, sich für das Konsumidiotentum und den Fortbestand der Neidgesellschaft zu engagieren.

Ob sie ein bisschen Musik machen dürfe, fragte Christine jetzt, immer noch mit Lachen in den Augen.

Ich hatte nichts dagegen, war allerdings etwas überrascht. Musik, ganz egal was für eine, würde zumindest einen Teil der Spannung auflösen, die ihre Frage und ihre Reaktion auf meine Antwort erzeugt hatten. Eigentlich passte das nicht zu ihr.

Bei den ersten Gitarrenakkorden war mir dann schon alles klar. Sie hatte Bob Dylan aufgelegt, und der sang nun The Times They Are A-Changin’.

Christine hatte meinen Halbbruder Hans Georg, der elf Jahre älter ist als ich, nie kennengelernt. Aber natürlich hatte ich ihr von ihm erzählt, von seiner Obsession für britische und amerikanische Popmusik, die zu hören oder besser gesagt: zu studieren er jahrelang für den einzigen Sinn seines Lebens gehalten zu haben schien. Vom frühen Nachmittag, wenn er aus der Schule zurückkam, bis zu dem Moment, an dem er schlafen ging, hatte er mich damit beschallt, und so hatten für mich Bob Dylan, Donovan, Janis Joplin, Jimmy Hendrix, die Rolling Stones und viele andere ebenso sehr zur frühkindlichen Musikerfahrung gehört wie „Alle meine Entchen“ oder „Hänschen klein“. Christine wusste, was mir diese Sachen auch heute noch bedeuteten. Dass sie nun ausgerechnet mit dem Abspielen eines Dylan-Titels noch einen hämischen Kommentar glaubte abgeben zu müssen zu meinem, wie sie es sah – oder vielleicht auch nur vorgab, es zu sehen – tiefen Fall, fand ich infam.

Es wäre nun genau der richtige Moment gewesen für einen Tobsuchtsanfall erster Güte: aufspringen, Glas an der Wand zerschmettern, mit einer einzigen Armbewegung den Tisch abräumen, das Mobiliar zerschlagen, die Tür aufreißen und Christine brüllend des Zimmers und der Wohnung und des Hauses verweisen und ihr unflätige Ausdrücke hinterherschleudern, bis die Haustür unten ins Schloss fallen würde, dann zum Fenster stürzen, es aufreißen und die Handtasche hinunterwerfen, die sie in der Aufregung vergessen hätte – doch leider ist mir – im Gegensatz zu Christine – die Fähigkeit zu solchen Ausbrüchen nicht gegeben. So blieb ich wieder einmal einfach nur sitzen und wusste nicht, wohin mit dem Orkan in mir – bis ich meinen alten Freund Dylan näseln hörte for the loser now will be later to win, diesen Satz, den ich schon tausend Mal und öfter aus seinem Mund gehört hatte, aber noch nie so, wie in diesem Moment, so bewusst, so klar, so überzeugend, so tröstend – „hast du gehört, Christine, hast du das gerade gehört??!“

Natürlich hatte sie gehört, und natürlich war sie vollkommen einverstanden damit, dass ich mich mit dem loser identifizierte. Jemand, der sich von der Gesellschaft, vom System platt machen ließ wie ein Kuhfladen, konnte nichts anderes sein als ein Verlierer, und der Alfa und die Designermöbel und das ganze gestylte Drumherum waren nur das schöne Mäntelchen, das man über die Kacke geworfen hatte. Ich wusste, dass sie so dachte, und sie wusste, dass auch ich so dachte, in gewissen Momenten jedenfalls und obwohl ich es nicht wollte, obwohl ich es hasste, so zu denken, doch ich konnte es nicht abstellen – und nun sagte Bobby, ich würde die Kurve schon noch mal kriegen, und ich glaubte es, ich war in diesem Moment vollkommen überzeugt davon, dass er Recht hatte.

„Dafür muss man aber auch etwas tun!“, hörte ich Christine jetzt sagen, „und zwar das Richtige... und nicht das Falsche“, wie sie überflüssigerweise noch hinterherschob, und während ich nach einer passenden Antwort suchte, begriff ich plötzlich, dass sich zwischen uns gerade eine Auseinandersetzung anbahnte, wie wir sie lange nicht mehr geführt hatten, eine Diskussion, die mich an längst vergangenes Glück erinnerte, und ich spürte, wie ich aufgeregt wurde und gleichzeitig befürchtete, im nächsten Moment könnte alles wieder vorbei sein.

Es war auch alles vorbei im nächsten Moment. Weil es klingelte und ich zur Tür ging.

Es war schon nach zehn, und ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wer um diese Zeit vor meiner Wohnungstür stehen sollte. Ein Nachbar würde es wohl kaum sein. Frau Stein von gegenüber meldete sich nur bei mir, wenn sie ein Päckchen oder ein Paket für mich angenommen hatte, und das tat sie dann telefonisch. Sie musste schon deutlich über achtzig sein und ging nicht mehr so verschwenderisch mit ihren Schritten um. Sie rief an, sagte, dass bei ihr etwas für mich liege, und ich ging dann hinüber und holte es mir ab.

Das schwule Pärchen, das über mir wohnte, kam auch nicht in Frage. Wir hatten, seit sie vor etwa zwei Jahren eingezogen waren, kaum zehn Worte miteinander gewechselt, und sie hatten sich mir und Christine – damals hatte ja Christine noch hier gewohnt – auch nie vorgestellt. Wenn man sich im Treppenhaus traf, grüßte man sich freundlich und ging aneinander vorbei. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich sie am frühen Sonntagmorgen einmal am Nollendorfplatz sich Arm in Arm auf den dortigen Taxistand zubewegen gesehen. Als sie mich auch sahen, winkten sie mir zu, änderten aber ansonsten an ihrem Miteinander nichts. Es gab ja auch keinen Grund für sie, vor mir irgend etwas zu verbergen.

Und auch mit den anderen Mietern hatte ich nichts zu tun. Ich kannte gerade einmal ihre Namen und konnte sie den verschiedenen Wohnungen zuordnen. Das Einzige, was ich sonst noch von ihnen wusste, war, was für ein Auto sie fuhren, da der Zufall es eben ab und zu wollte, dass man einen von ihnen in sein Gefährt ein- oder aussteigen sah.

Manchmal fand ich es ein bisschen schade, dass es so etwas wie eine Hausgemeinschaft bei uns noch nicht einmal ansatzweise gab. Aber andererseits hätte ich auch gar nicht gewusst, mit welchem der Mieter ich mich zum Beispiel fünf Minuten ins Treppenhaus stellen und erzählen sollte – und auch nicht worüber. Ganz zu schweigen von so etwas wie einem gemeinsamen Kaffee, was ja das Betreten der Wohnung erforderlich gemacht hätte – noch nie in den mehr als drei Jahren, die ich jetzt schon hier wohnte, hatte ich die Wohnung irgendeines der Nachbarn betreten, und auch Christine hatte, soweit ich wusste, in der ganzen Zeit ihres Hier-Wohnens keinen Schritt in eine andere Wohnung getan. Die Leute in diesem Haus schienen mir alle in gewisser Weise ziemlich weit entfernt von mir zu sein. Einmal abgesehen davon, dass die meisten von ihnen deutlich älter waren als ich, nämlich ab fünfzig aufwärts – Ausnahmen waren das schwule Pärchen und die junge Familie im zweiten Stock, glücklicherweise auf der anderen Treppenhausseite, wodurch ich von dem Gebrüll der Kinder verschont blieb –, hatten sie auch von ihrem Auftreten, von ihrer ganzen Ausstrahlung her nichts, was mir einen näheren Kontakt hätte wünschenswert erscheinen lassen.

Es gab Momente, in denen ich mich fragte, was diese Form des Wohnens denn noch mit mir, mit den Vorstellungen, wie sie mir vor noch gar nicht so langer Zeit selbstverständlich gewesen waren, zu tun hatte. Wohnen hatte für mich immer auch mit Kommunikation zu tun gehabt, mit gemeinsamem Gestalten – der Wohnung, des Tages oder jedenfalls des Teiles davon, den man miteinander verbrachte – und mit Aufgabenteilung. Bis ich Christine kennenlernte, hatte ich immer in Wohngemeinschaften gelebt, seit meinem Auszug aus dem elterlichen Einfamilienhäuschen, einmal ja sogar, in dem Haus, das wir besetzt hatten, in einer Art Großwohngemeinschaft, in der mir allerdings das Maß des Aufeinander-bezogen-Seins und die damit verbundene deutliche Begrenzung individueller Möglichkeiten doch bald zu viel geworden waren. Und nun also das Gegenextrem, die, wenn man so wollte, Isolation. Nach Christines Auszug war es tatsächlich eine Isolation geworden. Im Grunde war es erschreckend. Niemals hätte ich mir vorstellen können, ein solches Leben zu führen, und genauso wenig hätte ich mir vorstellen können, dass das Ertönen der Türglocke abends um zehn einmal etwas so Besonderes für mich würde sein können.

Der Schatten ihres Hündchens

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